Olaf Scholz blickt vielleicht voller Neid nach London.
Er wird Keir Starmer nicht um das Tory-Erbe beneiden; 14 Jahre konservativer Populismus haben das einstige Empire in jeder Hinsicht so nachhaltig zerstört, daß auch die allerbeste Regierung der Welt, das Desaster nicht in einer Legislaturperiode reparieren könnte.
Aber das Wahlergebnis und die Regierungsbildung sind der Traum eines Sozialdemokraten, der ein Land reformieren muss:
Die sozialdemokratische britische Labour Party errang am 04. Juli 2024 die absolute Mehrheit mit 411 von 650 Mandaten. Das sind über 63% der Sitze. Die Roten gewannen 211 Abgeordnete hinzu, die Schwarzen verloren sagenhafte 251 Sitze. Echte Erdrutschzahlen. Keine Koalitionsverhandlungen. Der „Mann ohne Eigenschaften“, Labour-Chef Starmer, wird am nächsten Vormittag vom König zum Regierungschef ernannt und stellt nur einen halben Tag nach Schließung der Wahllokale seine vollständige Kabinettsliste vor – alles Sozis.
Was für ein deutscher Traum für den Bundeskanzler. Keine Koalitionsausschüsse mehr, keine aufmüpfigen Grünen, keine blockierenden Gelben. Kein Koalitionsvertrag, kein Wissing, kein Buschmann, kein Lindner, keine Stark-Watzinger, keine Kompromisse. Problemlos könnte man die Vermögenssteuer wieder einführen, die Ungerechtigkeit der Zweiklassenmedizin mit einer Bürgerversicherung beenden, die Blockade in der EU aufgeben, Tempolimit einführen, den gepamperten Bauern die Stirn bieten, müsste nicht mehr auf Industrielobbyisten hören, könnte sich die notwendigen finanziellen Spielräume schaffen, weil die Hepatitisgelben nicht auf der Wachstumsbremse bestünden. Es wäre endlich Politik aus einem Guss. Ohne zermürbenden Nachtverhandlungen. Entscheidungen könnte man verkünden und begründen, ohne daß fünf Minuten später populistische Regierungsmitglieder anderer Parteien zur SPRINGER-Presse rennen und alles konterkarieren.
Deutschland stünde Lichtjahre besser da. Scholz könnte ein internationaler Taktgeber sein, der sich nicht zu Hause für Ampelzankereien verspotten lassen muss. Klar, es könnte auch in einem Sozi-Kabinett Pfeifen geben. Aber solche Großversager wie Wissing oder Stark-Watzinger würde der Kanzler mit seiner Richtlinienkompetenz einfach auswechseln und müsste nicht mit der Faust in der Tasche die quertreibende gelbe Pest gewähren lassen, weil er nun einmal vom Urnenpöbel gezwungen wurde, von den FDP-Stimmen abhängig zu sein.
Aber in Deutschland gilt ein völlig anderes Wahlrecht.
Rückblick auf die Bundestagswahl vom 26. September 2021: Auch hier stürzten die Konservativen für ihre miese Bilanz und den debakulierenden Spitzenkandidaten Laschet ab. Auch hier trat ein eher nicht für schillerndes Charisma bekannter Kandidat für die Sozis an und gewann satte 5,2 Prozentpunkte für die SPD hinzu.
Damit bekam die SPD 206 Sitze im 733-Mann Bundestag – also 28% der Sitze.
Über fünf Prozentpunkte dazu und im Parlament nur gut ein
Viertel der Sitze?
Wie viel hat denn Keir Starmer für die britischen Sozis dazu gewonnen, um auf
63% der Sitze zu kommen?
Die Antwort schockt aus Sicht eines Verhältniswahlrecht-Users: 1,5
Prozentpunkte!
Wunder des Mehrheitswahlrechts.
Auch in England fächert sich die Parteienlandschaft auf. So kann eine Ein-Drittel-Partei im Parlament zur Zwei-Drittel-Fraktion werden.
Noch dramatischer wirkt der Effekt auf das britische AfD-Pendant „UK-Reform“, die mit ihrem braunen Oberclown Nigel Farage maßgeblich den Brexit mitanrichtete und vorgestern 14,3% der Stimmen holte.
Zum Vergleich: Die AfD erhielt bei der letzten Bundestagswahl 2021 nur 10,4% der Stimmen und damit 83 Sitze. (11,3%). Farage erhält mit seinen 14,3% der Stimmen fünf Parlamentssitze ~ 0,8% der Abgeordneten.
[….] Die rechtspopulistische Partei Reform UK hat deutlich mehr Stimmen bekommen als die Liberaldemokraten, aber viel weniger Sitze. Das liegt am umstrittenen Wahlrecht. [….] Die Idee ist, dass jede Abgeordnete und jeder Abgeordnete sich für die Belange der lokalen Wähler einsetzt. Allerdings kommt es dadurch immer wieder vor, dass die Verhältnismäßigkeit zwischen der Anzahl der Sitze im Unterhaus und der Zahl der landesweit insgesamt gewonnenen Stimmen für eine Partei ein wenig verrutscht. Labour bekam nun 33,7 Prozent aller abgegebenen Stimmen, und damit lediglich 1,6 Prozent mehr als 2019. Damals stand am Ende eine historisch hohe Niederlage – jetzt feiert Labour einen historisch hohen Sieg.
Besonders deutlich wird die Schwäche des „first past the post“-Systems beim Blick auf die Parteien jenseits der beiden großen, jenseits von Labour und den Konservativen. Etwa 14 Prozent der Gesamtstimmen im Land wurden für Reform UK abgegeben, die Partei des rechten Populisten Nigel Farage, rund zwölf Prozent für die Liberaldemokraten, knapp sieben Prozent für die Grünen. Weil aber Reform UK in weniger Wahlkreisen Platz eins belegte und dadurch mehr Stimmen verfielen, ergibt sich am Freitagabend, als nur noch ein Wahlkreis offen ist, folgende Sitzverteilung im Unterhaus: fünf Sitze für Reform, vier Sitze für die Grünen – und 71 Sitze für die Liberaldemokraten. [….]
(Michael Neudecker, 06.07.2024)
Klare Wahlergebnisse sind eine feine Sache und erleichtern das Regieren.
Fair sind sie aber nicht.
Daran wird für immer die US-Präsidentschaftswahl 2016 erinnern, als Hillary Clinton fast drei Millionen Wählerstimmen mehr als Trump bekam und damit die Wahl verlor.
Dadurch sind die Wähler in den dünn besiedelten red states wie Wyoming beinahe 100 mal mächtiger als die liberalen Kalifornier.
(…..) Das amerikanische Wahlsystem verzerrt extrem und ermöglicht es den Konservativen zu gewinnen, auch wenn die Demokraten wie bei der Präsidentschaftswahl 2016 insgesamt ganze drei Millionen Stimmen mehr als die Trumpisten haben.
Der orange Rassist könnte sogar rein rechnerisch mit einem Stimmenrückstand bis zu 10 Millionen noch wiedergewählt werden.
Um wirklich sicher eine Präsidentschaftswahl zu gewinnen, benötigt der demokratische Kandidat zehn Prozent mehr Stimmen als die Mehrheit, während der Republikaner Trump wie 2016 geschehen noch mit 2,1% weniger Stimmen als die Mehrheit einen komfortablen Vorsprung im „Electoral College“ erreichen kann.
Was für die Präsidentschaftswahl gilt, trifft auch auf den überproportional wichtigen Senat zu.
Die Republikaner bestimmen seit Jahren mit ihrer Senatsmehrheit die US-Politik, indem sie jedes Vorhaben des Gesamt-Kongresses auf Eis legen und jede Personalie stoppen, wie sie möchten.
Dabei erreichten die Demokraten bei der letzten Senatswahl sogar eine astronomische Stimmenmehrheit von 11 Millionen Stimmen.
ELF MILLIONEN MEHR AMERIKANER stimmten für demokratische Senatorenkandidaten und das mündete in einer republikanischen 53:47-Mehrheit.
[…..] Although Republicans retained control of the Senate during this year's midterm elections, Democrats actually earned about 11 million more votes.
Reported vote counts show that Democratic Senate candidates this year thus far have won roughly 44 million votes, whereas Republican Senate candidates have earned 33 million, per The Washington Post. That means about 57 percent of the total votes cast went for Senate Democrats. Despite those stats, Republicans managed to flip three seats, bolstering their majority. Although it might initially sound galling that Democrats earned more votes but didn't get the majority, there's a reason for that: 35 Senate seats were on the ballot this year, and of those, 26 of them were held by Democrats, while only nine were held by Republicans. The fact that most of the seats up for re-election were Democratic made the party more vulnerable to suffer losses, which Sens. Heidi Heitkamp (D-N.D.), Joe Donnelly (D-Ind.), and Claire McCaskill (D-Mo.) did. Democrats did, in fact, win the vast majority of the Senate seats that were up this year; they just didn't gain enough to gain a majority, with the party losing a net of at least two seats and the Republicans gaining at least two. […..]
44 Millionen US-Amerikaner wählten demokratisch, 33 Millionen republikanisch und damit bleibt der Senat mit absoluter Mehrheit republikanisch.
Möglich wird es durch die extrem unterschiedliche Größe der Bundesstaaten, die jeder zwei Senatoren in den US-Senat schicken.
Kamala Harris und Dianne Feinstein vertreten rechnerisch jeweils 20 Millionen Stimmen Kaliforniens, ihre stramm Trump-folgenden republikanischen Kollegen John Barrasso und Michael Enzi aus Wyoming haben genau so viel Macht und stehen rechnerisch nur für jeweils 300.000 Menschen. (….)
(100% a republican thing, 25.10.2020)
Rechnet man die absoluten Stimmen der britischen Unterhauswahl in Parlamentssitze um, brauchten die Sozis 23.540 Stimmen für einen Sitz. Die Tories 56.493, die Liberaldemokraten 55.570, die Grünen 485.300 und Farages Nazis sagenhafte 822.857 Stimmen!
Ein Labour-Wähler war also exakt 35 mal so viel wert wie ein Nazi.
In diesem Fall ist das eindeutig erfreulich; aber es kann bei der nächsten Wahl genauso gut umgekehrt sein.
Die Zahlenverhältnisse im Unterhaus lassen Starmer extrem stark wirken. Wie ein Gottkönig verglichen zum armen Olaf, der sich kontinuierlich mit Lindi und Lang plagen muss. In der Bevölkerung spiegelt sich diese Super-Starmer aber nicht wider.
[….] Auf Keir Starmer richten sich jetzt die Blicke als neuer Anführer progressiver westlicher Demokratien insgesamt. [….] Die gigantische Dimension des Umschwungs im Parlament verbirgt eines: Labours Wahlsieg ist hohl. Keir Starmers Partei hat bei ihrem Wahltriumph 2024 weniger Stimmen geholt als Jeremy Corbyn bei seinem Wahldebakel 2019 – ihr Stimmanteil von 33,8 Prozent liegt nicht einmal 2 Prozentpunkte über dem von 2019; die Wahlbeteiligung ist stark gesunken.
Dass trotzdem die Anzahl der Labour-Sitze im Unterhaus von 202 auf 412 explodiert ist, liegt in erster Linie am Kollaps der Konservativen, die nicht nur zwei Drittel ihrer Sitze verloren haben, sondern auch fast 20 Prozentpunkte Stimmanteil. In einem Wahlkreis nach dem anderen war in der Wahlnacht allerdings zu beobachten: Die verlorenen Tory-Stimmen gehen nur zu einem Drittel an Labour – und zu zwei Dritteln an die rechtspopulistische Partei Reform UK von Nigel Farage, die fast überall die höchsten Stimmzuwächse erzielt. [….] Die britische Öffentlichkeit ist zersplittert und schlecht gelaunt. Labour kommt an die Macht mit dem schlechtesten Ergebnis eines neuen Wahlsiegers seit Einführung des allgemeinen Wahlrechts. Keir Starmer wird der Premierminister mit den negativsten Sympathiewerten seit Beginn der Umfragen. Kann Großbritannien mit dieser Ausgangslage jetzt eine Insel der Stabilität werden, die dem aufgewühlten Westen Orientierung bietet? Die Erwartungen sind immens. Die Last ebenfalls. […]
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