Sonntag, 26. August 2018

Personal versus Programmatik


Der aktuelle SPIEGEL mit seiner Titelgeschichte „Die richtige Flüchtlingspolitik – ein Plädoyer“ ist ziemlich enttäuschend.
Aufgelistet werden zehn Punkte, die alle lange im Gespräch sind und von den meisten Parteien unterschrieben werden könnten.
Ja, natürlich sollten wir nicht Millionen afrikanische Bauern mit der hochsubventionierten EU-Agrar-Politik kaputt machen. Das schreibe ich seit Jahren gefühlt einmal die Woche. Seit Jahrzehnten wird das von Experten und Kommissionen gefordert.
Aber man sieht doch wie bereitwillig Julia Klöckner sofort das Scheckbuch zückt, wenn die Bauern einmal jammern – obwohl Subventionen ohnehin schon die Hälfte ihrer Einkünfte ausmachen.
Selbst wenn alle Farmer Afrikas ruiniert sind und in der EU auf der Matte stehen, wage ich zu bezweifeln, daß Brüssel die Kraft aufbringt umzusteuern – schon gar nicht mit solchen Lobby-hörigen Regierungen wie der Deutschen.

Es gibt in der SPIEGEL-Ausgabe noch eine ganz gute Geschichte von Christoph Scheuermann über Robert Muellers Fortschritte bei dem Versuch die Verbindungen Trumps zu Moskau nachzuweisen. Für die Leser, die sich noch nie mit dem Thema beschäftigt haben, ist das eine gute Grundlage.
Wer wie ich täglich amerikanische Medien konsumiert, wird darin allerdings nichts Neues entdecken.

Eine lange Geschichte von Philipp Oehmke beschäftigt sich mit den ersten umgekehrten #MeToo-Fällen. Hat die damals 37-Jährige Hollywood-Schauspielerin Asia Argento den damals 17-Jährigen Jimmy Bennett sexuell verführt, woraufhin dieser wegen eines erlittenen Traumas 3,5 Millionen Dollar „Schadensersatz“ verlangte und schließlich 380.000 Dollar von ihr bekam?
Ich kann mich zu dem Fall nicht äußern, ohne ganz fürchterlich politisch unkorrekt zu werden.
Man kann sich jetzt also als Hormongesteuerter Teenager-Junge von heißen Hollywood-Stars ….. …. lassen und bekommt anschließend Millionen dafür?
Sorry #MeToo, sorry Oehmke, aber ich stehe zu meiner Ignoranz und will das gar nicht genauer wissen, ersparte mir also den Artikel zu lesen.

Interessant sind aber die drei parteipolitischen Artikel.

Seite 24 f.: Scholz und Nahles rücken die SPD mit ihrer neuen Rentenpolitik deutlich nach links.
Seite 32: Die FDP gibt endgültig ihr Erbe als Bürgerrechtspartei auf.

Die journalistische Perspektive ist seltsam verrückt.

Im Falle der SPD wird ihre bisherige demoskopische Blamage in der Merkel-Groko III mit den falsch besetzten Themen erklärt. Das hätten auch Finanzminister und Parteichefin eingesehen und rissen daher nun das Steuer in der Rentenpolitik herum, um die bisher von der CDU blockierte Rentengarantie von 48% bis 2040 festzuschreiben, ohne die Lebensarbeitszeit zu verlängern.
Ökonomen tobten, aber auch die SPD-Minister handelten gegen ihre Überzeugungen.
So werde der Rentenbeitrag höher (OH SCHRECK – Verteuerung der Lohnnebenkosten) oder aber der staatliche Rentenzuschuss anwachsen (OH SCHRECK – Steuererhöhungen).
Ich fühlte mich wieder wie 1998, als Neoliberalismus und nichts anderes angesagt war.
Mit dieser (aus Arbeitgebersicht) falschen Weichenstellung verlöre die SPD auch noch die Gutverdienenden, während die ganz Armen, denen 48% Rentenniveau immer noch zu niedrig wären zur LINKEn überliefen.
Passend zur neoliberalen Perspektive von vor 20 Jahren wird der Artikel mit „Operation Retro“ überschrieben.

Ganz schlimm auch die FDP, die ob des unmöglichen Verhaltens des NRW-Ministers Stamp (Fall Sami A.) und Lindners Ranrobben an Dobrindt den Respekt vor der Justiz aufgebe und sich Populisten andiene. FDP goes Orban und Trump. Das könne nicht lange gut gehen. Auch hier gibt es eine knackige Überschrift „Recht statt rechts“ – dafür stünden nur noch die ganz wenigen uralten Altliberalen Leutheusser-Schnarrenberger, Hirsch und Baum.

Schließlich die Grünen. Bei der Bundestagswahl am 24.09.2017 dramatisch abgestraft auf 8,9% - also trotz des riesigen Frustes über die alte Groko nur der letzte Platz im Reichstag hinter Linken, FDP, AfD, SPD und CDUCSU.
Und nun quasi aus heiterem Himmel, unter Aufgabe aller urgrünen Prinzipien ein demoskopischer Höhenflug auf 15% bundesweit. Man sei kurz davor die SPD zu überholen. Aber vorsichtig. Es fehle ein grünes Projekt. Umfragen kippten auch wieder, das könne also nicht ewig gutgehen.

Wieso kommen die SPIEGEL-Leute angesichts ihrer eigenen Beobachtungen nicht auf die naheliegende Erklärung?
Die immer und immer wieder geforderte programmatische Erneuerung, die Inhalte und Parteiprogramme sind weit weniger relevant für Wahlentscheidungen als propagiert.
Das hätte ich auch gern, es stimmt aber nicht.
99% der Wähler lesen keine Wahlprogramme.

Die AfD erlebt ihren Superhöhenflug, während Parteichef Gauland freimütig beweist, daß seine Partei nicht die geringste Programmatik hat und überhaupt keine Antworten auf die drängenden Probleme geben kann.

[….] Nach allen landläufigen Erfahrungen von Politik und Medien hat sich der Mann sagenhaft blamiert. Nach Lösungsvorschlägen zum Klimawandel gefragt, sagte er: "Wir glauben nicht, dass das sehr viel mit menschlichem Tun zu tun hat." Zur Digitalstrategie, die ein AfD-Abgeordneter neulich im Bundestag anmahnte, sagte er, davon könne "im Moment keine Rede sein, und ich wüsste auch keine". Als der Interviewer konkret nachhakte, wie er die kleinen Leute davor schützen wolle, dass eine Firma wie Airbnb die Mieten in den Städten treibt, sagte er: "Da kann ich Ihnen im Moment keine Antwort drauf geben."
Nur mal angenommen, Andrea Nahles oder Horst Seehofer würden so antworten: Sie würden sich zum Gespött machen. Und sie würden ihren Parteien womöglich den Rest geben. Das eine ist doch, wenn man als Politiker keine Antworten auf Fragen hat, die die Leute umtreiben. Das andere ist, wenn man dies auf eine Art kundtut wie Gauland. Er vermittelte den Eindruck, zu all diesen Themen aus exakt einem Grund nichts sagen zu können: weil er sich nie damit beschäftigt hat.
Eigentlich ist dies unfassbare Arroganz. [….]

Das Gros der Wähler ist zu doof und ungebildet rationale Wahlentscheidungen zu treffen.
So wurde Baron von und zu Guttenberg mit 90% Zustimmungswerten schon fast per Akklamation zum nächsten Bundeskanzler ausgerufen – ganz ohne irgendwelche konkreten politischen Taten. Reine Show. Null Programmatik, pures Blendwerk, das auch diejenigen begeisterte, die sich heute empört von den Altparteien abwenden oder für Piraten schwärmten.

Die US-Demokraten und die SPD hatten hingegen ausgefeilte gute Programme, die durchgerechnete und praktikable Lösungen für soziale Probleme bieten.
Das nützte allerdings gar nichts, wenn die Kandidaten Clinton und Schulz nicht sympathisch genug wirken.

Der umgekehrte Effekt bei Gerd Schröder 1998. Er wirkte dynamisch und sympathisch, so viel jünger und moderner als der ewige Kohl. Damit holte er heute nahezu undenkbare Rekordwahlergebnisse für die SPD – mit einer Programmatik, die heute als das pure Böse gilt.


Auch die FDP erkannte, daß sie mit der völligen Abkehr von konkreter Politik stärker denn je wurde.
Westerwelle holte mit großer Klappe und inhaltlicher Leere 2009 das Rekordergebnis von fast 15% bei der Bundestagswahl – obwohl da die Weltfinanzkrise schon längst durchgeschlagen war und jeder wissen konnte, wohin sein ewiges „Steuersenkungen Steuersenkungen Steuersenkungen“ führt.
Christian Lindner führte dieses Erfolgsrezept noch radikaler aus, indem er sich selbst als sexy Posterboy im Unterhemd posierend zum einzigen Thema machte. Das führte aus dem außerparlamentarischen Nichts kommend zu fast 11% am 24.09.17 – weit mehr als Linke oder Grüne, die sich mit Programmen abgemüht hatten.

Der Grüne Höhenflug passt ebenfalls ins Bild. Sie haben gerade sehr populäre Spitzenpolitiker, die es tunlichst unterlassen unbequeme Wahrheiten auszusprechen.

[…..] An populären Köpfen mangelt es nicht. Al-Wazir, Minister für Wirtschaft und Verkehr in der schwarz-grünen Koalition, ist Hessens beliebtester Politiker, in Schleswig-Holstein ist es sein Parteifreund Habeck, bis Ende des Monats dort Umweltminister. Der einzige Ministerpräsident der Grünen, Winfried Kretschmann in Stuttgart, ist populärer als alle seine Amtskollegen. Der abgewählte Grünenchef Cem Özdemir gehört sogar zu den beliebtesten deutschen Politikern.
Die Attraktivität ihrer Kandidaten trägt zu den guten Umfragewerten bei. Der Parteienforscher Elmar Wiesendahl sieht darin jedoch auch eine Gefahr für die Umwelt- und Friedensbewegten, die sich einst zu einer Programmpartei zusammenschlossen, um die Welt zu retten. "Die Grünen sind auf dem besten Wege, zu einer machtbewussten Berufspolitikerpartei zu werden", sagt er, "einer Partei der Köpfe." Er warnt vor einem Prozess der Entpolitisierung: "Die Grünen haben ihren Biss verloren, sie verlangen den Leuten nichts mehr ab." Kurzfristig sichere ihnen das Erfolg, langfristig verlören sie so ihr Profil. [….]
(DER SPIEGEL, Nr. 35, 25.08.2018, s.42)

So wird das was in der Politik.
Personal statt Programm.

Die Meisterin ist natürlich Angela Merkel. Selbst als Kanzlerin weigert sie sich schon seit 13 Jahren politische Ziele zu definieren und Richtungen vorzugeben.
Sie macht einfach gar nichts. Zur Belohnung gab es vier Mal nacheinander den Wählerauftrag Regierungschefin zu werden.

 Die SPD wird nichts wegen Typen wie Schäfer-Gümbel, Nahles, Müller oder Schulz – das sind dröge Langweiler.