Montag, 27. März 2017

Mit wem man ins Bett geht…



Russland ist schon kompliziert.
Die Geschichte ist so ganz anders als die Deutsche und trotz der Jahrhunderte zurückreichenden Verquickungen scheint die russische Seele den selbsternannten deutschen Vernunftmenschen rätselhaft.

Gerne reklamiert der Pegidiot den Begriff „Kulturnation“ für sich. Goethe, Schiller und so. Ich bezweifele allerdings sehr, daß mehr als 1% der Dresdner Montagsdemonstranten die deutschen Klassiker gelesen haben.

Das ist in Russland anders. Russen lesen tatsächlich (noch).
Ist nicht eigentlich Russland die wahre Kulturnation?
Jeder Russlandkenner verweist auf die über Jahrhunderte ausgeprägte Leidensfähigkeit der Russen. Kaum ein Volk mußte so andauernd unter grausamen Diktaturen und widriger Umwelt leben.

Denn die russische Geschichte ist von vielen Gräueln geprägt worden - vom Mongolesturm, dem Tatarenjoch, dem Petersburger Blutsonntag bis zu den barbarischen Ausprägungen im Stalinismus seit der Oktoberrevolution. Dabei haben die Schrecken der nationalen Geschichte dazu geführt, dass die Menschen sich intensiv in ihre Leidensfähigkeit vertieften. [….]

Das prägte die weltweit gerühmte „russische Seele,“ die von einem unheilbaren Drang zur Schwermut belastet sei und brachte eine unvergleichliche künstlerische Schöpfungskraft hervor.

"Die russische Seele hat eine so titanische Kraft, um jede Handlung auszuschöpfen bis an die äußersten Grenzen."
(Irina Pabst)

Ob Russen wirklich gern leiden, wie es Kulturjournalisten voller Bewunderung für diese besondere Mentalität behaupten, wage ich zu bezweifeln.

Unbestritten ist hingegen die Weltklasse der russischen Literatur, der Malerei, der Musik, des Tanzes.

So komplex wie die russische Mentalität erscheint uns auch die Politik des größten Landes der Welt. Was wollen die eigentlich und inwieweit handeln Russen irrational aufgrund besonderer historischer Verletzungen?
Aus deutscher Sich kommt hinzu, daß uns die russische Sprache extrem komplex erscheint, daß wir noch nicht mal das Alphabet begreifen, daß wir die Namen nicht aussprechen können und zu allem Übel immer das Gefühl haben, umgekehrt wäre es nicht so.
Russen kennen Deutschland gut.

Für den Umgang mit Putins Politik, brauchen Deutsche ein „Russia for Dummies“-Ratgeber.
Leider gibt es bisher eher Bücher des Schlages „Russland verstehen“ von Prof Dr. Gabriele Krone-Schmalz, welches zwar sehr empfehlenswert, aber nicht simpel genug für den eher kulturlosen Durchschnittsteutonen ist.
Zum Glück ist seit gefühlt 50 Jahren immer Wladimir Putin an der Macht.
In und auf ihn können wir alles projizieren. Erst war er der Rationale, der beruhigenderweise die Atom-Codes aus der Hand des ewig volltrunkenen Jelzins nahm, dann war er der schöngeistige und deutschsprechende Schröder-Freund, der uns bei der Opposition gegen GWB und den Irakkrieg unterstützte und schließlich wurde Putin zum puren Bösen, der Homos verfolgt, Kritiker wegsperrt und militärisch denkt.

Putin als böse Apotheose erspart uns einiges an lästiger Differenzierung.
Wir unterscheiden gar nicht mehr zwischen Russland, dem Kreml, der russischen Regierung und Putin. Das ist alles Putin und Putins ist schlecht. Simple as that.

Das macht auch die ganze russische Politik so einfach.
Wer gegen Putin ist, ist gut.
Diese eigenartigen slawischen Namen sind zwar schwer zu transliterieren und noch schwerer zu merken, aber daher reichen uns ja auch zwei. Nawalny und Chodorkowski. Ok, und vielleicht noch Pussy Riot.
Das sind Putin-Gegner, ergo unsere Helden.

Dementsprechend sind die Titelseiten der deutschen Tageszeitungen auch voll, wenn Nawalny eins auf die Mütze bekommt.

[….] Er nahm es mit Humor: Der russische Oppositionspolitiker Alexej Nawalny (40) ist bei der Eröffnung eines Wahlkampfbüros in der Provinz mit grüner Farbe attackiert worden.
Ein Mann habe ihn am Montag vor dem Gebäude in der Stadt Barnaul in Sibirien begrüßt und ihm daraufhin die Farbe ins Gesicht und auf die Hände gespritzt, schrieb Nawalny in seinem Blog. [….]

[….] Ein Moskauer Gericht hat gegen den russischen Oppositionellen Alexej Nawalny wegen der Organisation illegaler Proteste eine 15-tägige Arresthaft verhängt. Zusätzlich muss er 20.000 Rubel zahlen, umgerechnet gut 300 Euro. Nawalny hatte am Sonntag Massendemonstrationen gegen Korruption in Russland mitorganisiert. [….]

Russland: Oppositionsführer Nawalny festgenommen
[….] Die USA haben die Festnahmen demonstrierender Regierungsgegner in Russland kritisiert. Ein Sprecher des Außenministeriums in Washington sprach von einem klaren Verstoß gegen demokratische Grundrechte. Er forderte die umgehende Freilassung der Menschen.
Auch der deutsche Grünen-Chef Cem Özdemir kritisierte die Festnahme des russischen Oppositionspolitikers scharf. "Wer seine Sicherheitskräfte missbraucht, um jeden Protest im Keim zu ersticken, ist nicht stark, sondern fürchtet sich vor seinen eigenen Bürgern. Egal, ob er Putin oder Erdogan heißt", erklärte Özdemir. [….]

[….] Der Russlandbeauftragte der Bundesregierung, Gernot Erler (SPD), bewertet das Schnellverfahren gegen Kreml-Kritiker Alexej Nawalny als Versuch, Demonstranten abzuschrecken. Erler sagte unserer Redaktion, der am Montag gegen Nawalny verhängte 15tägige Arrest bestätige seine Vermutung, „dass Folge-Spaziergänge gestoppt werden sollen“. [….]
(Neue OZ, 27.03.2017)

Nawalny und Chodorkowski – das Traumpaar der deutschen Politik und Presse.
Die Hoffnung Russlands. Die Mutigen, die Putin stürzen wollen.
Aber Vorsicht, bevor man mit denen ins politische Bett steigt.

Alexei Anatoljewitsch Nawalny, 38, Bürgerrechtsanwalt, Blogger, Anti-Putin-Aktivist, weltweitbekannter Oppositioneller, Kasparow-Freund, Polizeikritiker, Aktionär, Moskauer Bürgermeisterkandidat, radikaler Nationalist, Antisemit, mutmaßlicher Veruntreuer staatlicher Gelder wurde gestern wegen Betruges und Verleumdung zu dreieinhalb Jahren Haft auf Bewährung verurteilt. Sein Bruder Oleg erhielt für dieselben Taten sogar dreieinhalb Jahren Haft ohne Bewährung.

Das roch nach Sippenhaft und so wurde Nawalny zur russischen Timoschenko, zur Ikone der Putin-kritischen westlicher Öffentlichkeit.
Das sei ja eindeutig ein politischer Prozess, da solle jemand zum Schweigen gebracht werden, schalt es aus den westlichen Regierungszentralen.

Die EU und die USA haben die Verurteilung des russischen Regierungsgegners Alexej Nawalny und seines Bruders kritisiert. "Der Schuldspruch scheint politisch motiviert", sagte ein Sprecher der EU-Außenbeauftragten Federica Mogherini in Brüssel. [….]
US-Außenamtssprecher Jeff Rathke sagte, der Richterspruch erscheine als ein weiteres Beispiel der zunehmenden Zerschlagung unabhängiger Stimmen durch die russische Regierung. Der Gerichtsentscheid sei besorgniserregend, ganz offenbar sollten politische Aktivisten bestraft werden. [….]

Soweit die Fakten.

Zu den Unsicherheiten:
Ich kann überhaupt nicht beurteilen, ob Nawalny und sein Bruder wirklich den Kosmetikkonzern Yves Rocher um eine halbe Million Euro betrogen haben.
Ich habe auch keinerlei Beleg dafür gesehen, daß Merkel oder John Kerry Prozessbeobachter gewesen sind und Einblick in die Beweisstücke gehabt hätten.
In Deutschland gehört sich Richterschelte von der Regierungsbank aus nicht, da man streng auf Gewaltenteilung achtet. Die Exekutive darf der Judikative keinesfalls reinreden.
Wieso sich EU und USA ausgerechnet in Russland nicht an solche Regeln halten, weiß ich nicht.

Nun noch ein paar weitere Fakten:
Nawalny konnte immerhin zu den Bürgermeisterwahlen 2011 antreten, bei denen er rund 27% holte, die von Wahlbeobachtern nicht angezweifelt wurden.
Das Bewährungsurteil gilt wegen seiner Milde als Überraschung! Einige Jahre Arbeitslager hatte man allgemein erwartet.
Benjamin Bidder, Korrespondent von SPIEGEL ONLINE in Moskau, empört sich über die „Sippenhaftartigkeit“ und spricht von Massenprotesten der Nawalny-Anhänger gegen das Urteil. Sein Beleg:
Auf Facebook haben bislang 18.000 ihre Teilnahme zugesagt.
Gestern, am Tag der Urteilsverkündung gab es offenbar 1000 – 2000 Demonstranten. Moskau hat 15 Millionen Einwohner. Bei wenigen Tausend Nawalny-Fans von „Massen“ zu sprechen, erscheint mir etwas gewagt.

Nawalny ist mutmaßlicher Straftäter, auf jeden Fall aber radikaler Nationalist und Antisemit.

Bei Chodorkowski sieht es nicht viel besser aus. Das russische Volk sollte froh sein, daß der Oligarch vom Kreml gestoppt wurde.

Michail Chodorkowski, Julia Timoschenko, Arseniy Yatsenyuk und Petro Poroschenko sind alles Lieblinge der europäischen Presse und der westlichen Politiker, obwohl zumindest die ersten beiden nach hiesigen Maßstäben Schwerverbrecher sind.

[….] Wer sich ein wenig mit dem Fall Chodorkowski/Jukos beschäftigt hat, konnte gestern Abend seinen Ohren nicht trauen, als der Nachrichtensprecher des ZDF-Heute-Journals in sonorem Ton sagte, Chodorkowski sei von den Behörden aufgrund des „beliebig dehnbaren Begriffs der Steuerhinterziehung“ inhaftiert wurden. Die Ansicht, dass der Begriff Steuerhinterziehung beliebig dehnbar sei, vertreten die Herren Hoeneß, Zumwinkel und diverse Schweizer Banker sicherlich auch. Mit dem Fall Chodorkowski hat dies jedoch relativ wenig zu tun. Die hohe Haftstrafe verbüßt der Oligarch nicht wegen Steuerhinterziehung, sondern wegen gewerbsmäßigen Betrugs, Unterschlagung und Geldwäsche – der Tatbestand der Steuerhinterziehung war „lediglich“ eine Folge der anderen Tatbestände, da Chodorkowski und sein Partner Platon Lebedew für das ergaunerte und unterschlagene Geld naturgemäß auch keine Steuern bezahlten. [….]  Chodorkowski [konnte] mit dem eher bescheidenen Einsatz von 42 Mio. US$ das Unternehmen Jukos zusammenschmieden, dessen geschätzter Wert 42 Mrd. US$ – also das Tausendfache – betrug. Dass er dabei zahlreiche Gesetze gebrochen hat, bestreitet auch heute niemand ernsthaft. Damals interessierte dies in Russland jedoch niemanden. Chodorkowski schmierte den Jelzin-Clan mit Millionen und dafür ließ ihn die korrupte Staatsführung gewähren. [….]  Es besteht kein Zweifel daran, dass Chodorkowski Verbrechen begangen hat und zu Recht hinter Gittern sitzt. Auch das Strafmaß ist keinesfalls überzogen. Wer anderer Meinung ist, kann sich ja gerne mal bei den USA beschweren, die den Betrüger Bernie Madoff wegen ähnlicher Verbrechen zu stolzen 150 Jahren Haft verurteilt haben.
Würde man einen ähnlichen Maßstab an alle Oligarchen anlegen, würden die Villenviertel von Sotchi wohl schnell leer stehen, da die ehemaligen Besitzer nun in sibirischen Arbeitslagern untergebracht sind. Es ließe sich vortrefflich darüber debattieren, warum Putin den Rest der Räuberbarone verschont hat. Dies macht Chodorkowski jedoch kein Jota „unschuldiger“. [….]