Russland
ist schon kompliziert.
Die
Geschichte ist so ganz anders als die Deutsche und trotz der Jahrhunderte
zurückreichenden Verquickungen scheint die russische Seele den selbsternannten
deutschen Vernunftmenschen rätselhaft.
Gerne
reklamiert der Pegidiot den Begriff „Kulturnation“ für sich. Goethe, Schiller
und so. Ich bezweifele allerdings sehr, daß mehr als 1% der Dresdner
Montagsdemonstranten die deutschen Klassiker gelesen haben.
Das ist
in Russland anders. Russen lesen tatsächlich (noch).
Ist
nicht eigentlich Russland die wahre Kulturnation?
Jeder
Russlandkenner verweist auf die über Jahrhunderte ausgeprägte Leidensfähigkeit
der Russen. Kaum ein Volk mußte so andauernd unter grausamen Diktaturen und
widriger Umwelt leben.
Denn die russische
Geschichte ist von vielen Gräueln geprägt worden - vom Mongolesturm, dem
Tatarenjoch, dem Petersburger Blutsonntag bis zu den barbarischen Ausprägungen
im Stalinismus seit der Oktoberrevolution. Dabei haben die Schrecken der
nationalen Geschichte dazu geführt, dass die Menschen sich intensiv in ihre
Leidensfähigkeit vertieften.
[….]
Das
prägte die weltweit gerühmte „russische Seele,“ die von einem unheilbaren Drang
zur Schwermut belastet sei und brachte eine unvergleichliche künstlerische
Schöpfungskraft hervor.
"Die russische
Seele hat eine so titanische Kraft, um jede Handlung auszuschöpfen bis an die
äußersten Grenzen."
(Irina
Pabst)
Ob
Russen wirklich gern leiden, wie es Kulturjournalisten voller Bewunderung für
diese besondere Mentalität behaupten, wage ich zu bezweifeln.
Unbestritten
ist hingegen die Weltklasse der russischen Literatur, der Malerei, der Musik,
des Tanzes.
So
komplex wie die russische Mentalität erscheint uns auch die Politik des größten
Landes der Welt. Was wollen die eigentlich und inwieweit handeln Russen
irrational aufgrund besonderer historischer Verletzungen?
Aus deutscher
Sich kommt hinzu, daß uns die russische Sprache extrem komplex erscheint, daß
wir noch nicht mal das Alphabet begreifen, daß wir die Namen nicht aussprechen
können und zu allem Übel immer das Gefühl haben, umgekehrt wäre es nicht so.
Russen
kennen Deutschland gut.
Für den
Umgang mit Putins Politik, brauchen Deutsche ein „Russia for Dummies“-Ratgeber.
Leider
gibt es bisher eher Bücher des Schlages „Russland verstehen“ von Prof Dr. Gabriele
Krone-Schmalz, welches zwar sehr empfehlenswert, aber nicht simpel genug für
den eher kulturlosen Durchschnittsteutonen ist.
Zum
Glück ist seit gefühlt 50 Jahren immer Wladimir Putin an der Macht.
In und
auf ihn können wir alles projizieren. Erst war er der Rationale, der
beruhigenderweise die Atom-Codes aus der Hand des ewig volltrunkenen Jelzins nahm,
dann war er der schöngeistige und deutschsprechende Schröder-Freund, der uns
bei der Opposition gegen GWB und den Irakkrieg unterstützte und schließlich
wurde Putin zum puren Bösen, der Homos verfolgt, Kritiker wegsperrt und
militärisch denkt.
Putin
als böse Apotheose erspart uns einiges an lästiger Differenzierung.
Wir
unterscheiden gar nicht mehr zwischen Russland, dem Kreml, der russischen
Regierung und Putin. Das ist alles Putin und Putins ist schlecht. Simple as
that.
Das
macht auch die ganze russische Politik so einfach.
Wer gegen
Putin ist, ist gut.
Diese
eigenartigen slawischen Namen sind zwar schwer zu transliterieren und noch
schwerer zu merken, aber daher reichen uns ja auch zwei. Nawalny und Chodorkowski.
Ok, und vielleicht noch Pussy Riot.
Das sind
Putin-Gegner, ergo unsere Helden.
Dementsprechend
sind die Titelseiten der deutschen Tageszeitungen auch voll, wenn Nawalny eins
auf die Mütze bekommt.
[….]
Er nahm es mit Humor: Der russische
Oppositionspolitiker Alexej Nawalny (40) ist bei der Eröffnung eines
Wahlkampfbüros in der Provinz mit grüner Farbe attackiert worden.
Ein Mann habe ihn am
Montag vor dem Gebäude in der Stadt Barnaul in Sibirien begrüßt und ihm
daraufhin die Farbe ins Gesicht und auf die Hände gespritzt, schrieb Nawalny in
seinem Blog. [….]
[….]
Ein Moskauer Gericht hat gegen den
russischen Oppositionellen Alexej Nawalny wegen der Organisation illegaler
Proteste eine 15-tägige Arresthaft verhängt. Zusätzlich muss er 20.000 Rubel
zahlen, umgerechnet gut 300 Euro. Nawalny hatte am Sonntag
Massendemonstrationen gegen Korruption in Russland mitorganisiert. [….]
Russland:
Oppositionsführer Nawalny festgenommen
[….]
Die USA haben die Festnahmen
demonstrierender Regierungsgegner in Russland kritisiert. Ein Sprecher des
Außenministeriums in Washington sprach von einem klaren Verstoß gegen
demokratische Grundrechte. Er forderte die umgehende Freilassung der Menschen.
Auch der deutsche
Grünen-Chef Cem Özdemir kritisierte die Festnahme des russischen
Oppositionspolitikers scharf. "Wer seine Sicherheitskräfte missbraucht, um
jeden Protest im Keim zu ersticken, ist nicht stark, sondern fürchtet sich vor
seinen eigenen Bürgern. Egal, ob er Putin oder Erdogan heißt", erklärte
Özdemir. [….]
[….]
Der Russlandbeauftragte der
Bundesregierung, Gernot Erler (SPD), bewertet das Schnellverfahren gegen
Kreml-Kritiker Alexej Nawalny als Versuch, Demonstranten abzuschrecken. Erler
sagte unserer Redaktion, der am Montag gegen Nawalny verhängte 15tägige Arrest
bestätige seine Vermutung, „dass Folge-Spaziergänge gestoppt werden sollen“.
[….]
(Neue OZ, 27.03.2017)
Nawalny
und Chodorkowski – das Traumpaar der deutschen Politik und Presse.
Die
Hoffnung Russlands. Die Mutigen, die Putin stürzen wollen.
Aber
Vorsicht, bevor man mit denen ins politische Bett steigt.
Alexei
Anatoljewitsch Nawalny, 38, Bürgerrechtsanwalt, Blogger, Anti-Putin-Aktivist,
weltweitbekannter Oppositioneller, Kasparow-Freund, Polizeikritiker, Aktionär,
Moskauer Bürgermeisterkandidat, radikaler Nationalist, Antisemit, mutmaßlicher
Veruntreuer staatlicher Gelder wurde gestern wegen Betruges und Verleumdung zu dreieinhalb
Jahren Haft auf Bewährung verurteilt. Sein Bruder Oleg erhielt für dieselben
Taten sogar dreieinhalb Jahren Haft ohne Bewährung.
Das
roch nach Sippenhaft und so wurde Nawalny zur russischen Timoschenko, zur Ikone
der Putin-kritischen westlicher Öffentlichkeit.
Das
sei ja eindeutig ein politischer Prozess, da solle jemand zum Schweigen
gebracht werden, schalt es aus den westlichen Regierungszentralen.
Die EU und die USA
haben die Verurteilung des russischen Regierungsgegners Alexej Nawalny und
seines Bruders kritisiert. "Der Schuldspruch scheint politisch
motiviert", sagte ein Sprecher der EU-Außenbeauftragten Federica Mogherini
in Brüssel. [….]
US-Außenamtssprecher
Jeff Rathke sagte, der Richterspruch erscheine als ein weiteres Beispiel der zunehmenden
Zerschlagung unabhängiger Stimmen durch die russische Regierung. Der
Gerichtsentscheid sei besorgniserregend, ganz offenbar sollten politische
Aktivisten bestraft werden. [….]
Soweit
die Fakten.
Zu
den Unsicherheiten:
Ich
kann überhaupt nicht beurteilen, ob Nawalny und sein Bruder wirklich den
Kosmetikkonzern Yves Rocher um eine halbe Million Euro betrogen haben.
Ich
habe auch keinerlei Beleg dafür gesehen, daß Merkel oder John Kerry
Prozessbeobachter gewesen sind und Einblick in die Beweisstücke gehabt hätten.
In
Deutschland gehört sich Richterschelte von der Regierungsbank aus nicht, da man
streng auf Gewaltenteilung achtet. Die Exekutive darf der Judikative
keinesfalls reinreden.
Wieso
sich EU und USA ausgerechnet in Russland nicht an solche Regeln halten, weiß
ich nicht.
Nun
noch ein paar weitere Fakten:
Nawalny
konnte immerhin zu den Bürgermeisterwahlen 2011 antreten, bei denen er rund 27%
holte, die von Wahlbeobachtern nicht angezweifelt wurden.
Das
Bewährungsurteil gilt wegen seiner Milde als Überraschung! Einige Jahre
Arbeitslager hatte man allgemein erwartet.
Benjamin
Bidder, Korrespondent von SPIEGEL ONLINE in Moskau, empört sich über die
„Sippenhaftartigkeit“ und spricht von Massenprotesten der Nawalny-Anhänger
gegen das Urteil. Sein Beleg:
Auf Facebook haben bislang 18.000 ihre Teilnahme zugesagt.
Auf Facebook haben bislang 18.000 ihre Teilnahme zugesagt.
Gestern,
am Tag der Urteilsverkündung gab es offenbar 1000 – 2000 Demonstranten. Moskau
hat 15 Millionen Einwohner. Bei wenigen Tausend Nawalny-Fans von „Massen“ zu
sprechen, erscheint mir etwas gewagt.
Nawalny
ist mutmaßlicher Straftäter, auf jeden Fall aber radikaler Nationalist und
Antisemit.
Bei Chodorkowski
sieht es nicht viel besser aus. Das russische Volk sollte froh sein, daß der
Oligarch vom Kreml gestoppt wurde.
Michail
Chodorkowski, Julia Timoschenko, Arseniy Yatsenyuk
und Petro Poroschenko sind alles Lieblinge der europäischen Presse und der
westlichen Politiker, obwohl zumindest die ersten beiden nach hiesigen Maßstäben
Schwerverbrecher sind.
[….]
Wer sich ein wenig mit dem Fall
Chodorkowski/Jukos beschäftigt hat, konnte gestern Abend seinen Ohren nicht
trauen, als der Nachrichtensprecher des ZDF-Heute-Journals in sonorem Ton
sagte, Chodorkowski sei von den Behörden aufgrund des „beliebig dehnbaren
Begriffs der Steuerhinterziehung“ inhaftiert wurden. Die Ansicht, dass der
Begriff Steuerhinterziehung beliebig dehnbar sei, vertreten die Herren Hoeneß,
Zumwinkel und diverse Schweizer Banker sicherlich auch. Mit dem Fall
Chodorkowski hat dies jedoch relativ wenig zu tun. Die hohe Haftstrafe verbüßt
der Oligarch nicht wegen Steuerhinterziehung, sondern wegen gewerbsmäßigen Betrugs,
Unterschlagung und Geldwäsche – der Tatbestand der Steuerhinterziehung war
„lediglich“ eine Folge der anderen Tatbestände, da Chodorkowski und sein
Partner Platon Lebedew für das ergaunerte und unterschlagene Geld naturgemäß
auch keine Steuern bezahlten. [….] Chodorkowski [konnte] mit dem eher bescheidenen Einsatz von 42 Mio. US$ das Unternehmen
Jukos zusammenschmieden, dessen geschätzter Wert 42 Mrd. US$ – also das
Tausendfache – betrug. Dass er dabei zahlreiche Gesetze gebrochen hat, bestreitet
auch heute niemand ernsthaft. Damals interessierte dies in Russland jedoch
niemanden. Chodorkowski schmierte den Jelzin-Clan mit Millionen und dafür ließ
ihn die korrupte Staatsführung gewähren. [….] Es besteht kein Zweifel daran,
dass Chodorkowski Verbrechen begangen hat und zu Recht hinter Gittern sitzt.
Auch das Strafmaß ist keinesfalls überzogen. Wer anderer Meinung ist, kann sich
ja gerne mal bei den USA beschweren, die den Betrüger Bernie Madoff wegen
ähnlicher Verbrechen zu stolzen 150 Jahren Haft verurteilt haben.
Würde man einen
ähnlichen Maßstab an alle Oligarchen anlegen, würden die Villenviertel von
Sotchi wohl schnell leer stehen, da die ehemaligen Besitzer nun in sibirischen
Arbeitslagern untergebracht sind. Es ließe sich vortrefflich darüber
debattieren, warum Putin den Rest der Räuberbarone verschont hat. Dies macht
Chodorkowski jedoch kein Jota „unschuldiger“. [….]