Donnerstag, 26. September 2013

Selbstkritik




 Ja, man weiß natürlich, daß Umfragen keine Wahlergebnisse sind, aber trotzdem benutzt jeder sie als Argumentationsgrundlage. Natürlich betont man immer, es handele sich ja „bloß um Umfragen“ und jeder Politiker, dessen Partei in Umfragen schlecht dasteht, betont, man werde nicht die Umfragen, sondern die Wahlen gewinnen.
Durch die Flut von Umfragen begibt man sich allerdings unweigerlich in eine virtuelle Demoskopenwelt und verwischt die Grenzen.
Den Schuh muß ich mir auch anziehen, weil ich beispielsweise stets vor Wahlkreuzen bei den Piraten gewarnt hatte. Die Argumentation ging so:
Die chaotische Mitgliederbefragungspartei würde ohnehin an der 5%-Hürde scheitern, somit habe man am Ende erstens gar keinen Volksvertreter im Parlament und nutze zweitens auch noch der Bundeskanzlerin, die es bei weniger Oppositionsstimmen umso leichter hätte die Kanzlermehrheit zu erringen.
Genau genommen konnte ich das aber vorm 22.09.13 gar nicht wissen. Die Piraten hätten ja doch noch 5,0 Prozent bekommen können und somit Merkel im Parlament das Leben schwer machen können.
Nun zeigt das Wahlergebnis allerdings, daß meine Interpretation der Umfragen genau richtig war, also die Umfragewerte der Piraten offensichtlich sehr treffend ermittelt worden waren.
Glück gehabt.
Umfragedaten richtig zu interpretieren ist allerdings nicht so leicht, wie es sich einige Journalisten gemacht haben.
Beim Abschätzen der Stärke des rotgrünen und des schwarzgelben Blocks, wurden beispielsweise immer die FDP-Prozente mitgezählt, auch wenn sie unter 5% lagen. Dabei sind in unserem Wahlrecht 4% = 0%. Die simpelste Wahl-Mathematik wurde ignoriert und somit der Leser für dumm verkauft.
Es ist eine Sache, daß die große Mehrheit der Journalisten überfreundlich auf die Kanzlerin blickten und von einem perversen Herdentrieb heimgesucht Steinbrück grundsätzlich negativ darstellten.
Medienpolitik wird aber außer im NDR-Magazin „ZAPP“ so gut wie nie thematisiert in den Medien.
Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus.
Erstaunlich ist aber, daß bei Großirrtümern der Journaille keinerlei Bereitschaft zum „Mea Culpa“ zu erkennen ist.
Auch nach offensichtlichen Desastern wie den Abstrus-Prognosen, die Hans-Ulrich Jörges permanent anstellt (er schwor Stein und Bein, der Bundeskanzler werde ab Herbst 2002 Edmund Stoiber heißen), oder die von der neoliberalen Jubelpresse transportiert wurden (Schwarzgelb wäre eine Reformkoalition, die das Steuerrecht grundlegend modernisieren werde) folgt keinerlei Entschuldigung für die grundfalschen Prognosen.

Ich staune über mein Erstaunen vom Wahlabend zwischen 19.00 und 20.00 Uhr, als ARD und ZDF plötzlich eine absolute Mehrheit für die CDU/CSU-Fraktion prognostizierten.
Merkel braucht gar keinen Koalitionspartner?
Dabei war dieser Wahlausgang gar nicht so abwegig. Wenn gute zehn Prozent der Stimmen an der 5%-Hürde hängenbleiben – und das war bei den Wackelparteien AfD, Piraten und FDP durchaus absehbar – würden 42% für eine absolute Mehrheit der Sitze reichen. 42% hatte die CDU aber in den Umfragen der letzten Wochen schon oft übersprungen.
Trotz der ausführlichen Durchdeklination jedes Wahlscenarios, war aber niemand auf die Idee gekommen. Presseversagen absolut.
Nur im taz-Blog finde ich einen entsprechenden Artikel von Sebastian Heiser. Alle anderen Medien schweigen.

Wir beleuchteten sogar die Option einer Minderheitenregierung, die sich auf keine feste parlamentarische Mehrheit stützen kann (FAZ vom 7. März 2013, Seite 8, nicht online). Eine absolute Mehrheit hatte niemand auf dem Schirm. Viele von uns haben sie sogar ausdrücklich ausgeschlossen. Das klang dann so: “Wunder wie eine absolute Mehrheit von CDU/CSU oder SPD wird es nicht geben.” Oder so: “Denn keine Partei wird die absolute Mehrheit erringen.” Wir Journalisten waren uns wirklich ganz sicher: “Die Frage ist eigentlich nur noch, ob Kanzlerin Angela Merkel mit der FDP weiterregieren kann – oder die SPD in eine große Koalition einsteigen muss.” Sogar noch in der Woche vor der Wahl schrieben wir, die SPD müsse “nicht fürchten, dass die [schwarz-gelbe] Koalition wegen einer absoluten Mehrheit der Union ein Ende findet”. Noch ein Beispiel gefällig? “Zwar steht eine absolute Mehrheit der Union nicht ins Haus.”
 Es ist gar nicht wichtig, welcher Kollege das jeweils in welchem Medium geschrieben hat. Wir alle haben es gleichermaßen vergeigt, übrigens in der taz kein bisschen weniger als überall sonst. Wir hauptberufliche Politikbeobachter und -erklärer haben unserem Publikum vorgemacht, dass wir etwas davon verstehen würden. Und jetzt stehen wir da, und jeder kann es sehen: Der Kaiser ist nackt!
 Deshalb sollten wir alle zurücktreten. Und wenn schon nicht von unserem Job, dann zumindest von unserem Anspruch, die Wahrheit zu kennen.  [….]
Ich bin davon überzeugt: Wir würden die Wahlberichterstattung auch mit Inhalten vollbekommen können. Und damit würden wir auf jeden Fall mehr über die reale Realität berichten als mit diesem Prognosenhokuspokus.

DANKE taz.