Montag, 20. August 2012

Putin, die Pussy.




Kinder wissen nicht recht was sie reden und schnappen gerne unangemessene Sprüche und Vokabeln auf, die denkende Menschen nicht verwenden würden.
In meiner Jugendzeit fanden wir es witzig auf Beleidigungen mit 
„was stört es eine deutsche Eiche, wenn sich eine Sau an ihr wetzt?“
 zu reagieren.
Blöd.

Tatsächlich ist es aber so, daß hysterische Reaktionen auf vermeidliche Beleidigungen die Kritik a posteriori sehr berechtigt aussehen lassen kann.

Das Paradebeispiel für völlig überzogene Hysterie ist es, wenn der Chef einer Religionsgemeinschaft aus 1,2 Milliarden Katholiken wegen einer Photomontage auf eine winzige, drei-Mann-Satire-Gruppe aus Frankfurt losgeht.

Wladimir Putin hat einen mächtigen Verbündeten: den Patriarchen der russisch-orthodoxen Kirche. Seite an Seite kämpfen sie für ein neues Russland nach ihren Vorstellungen. Wladimir Putin hat einen guten Freund. Sein bürgerlicher Name lautet Wladimir Gundjajew. Die beiden können sich aufeinander verlassen. Als Zehntausende auf Moskaus Straßen brüllten: »Russland ohne Putin!«, stellte sich Gundjajew hin und sagte: Beruhigt euch, Leute, diesem Putin könnt ihr vertrauen. Als Gundjajew, ein Mann mit Visionen, nicht mehr wusste, wie er seine Träume bezahlen sollte, schlug Putin vor, ihm ein paar Grundstücke in bester Lage zu übereignen. Was Freunde eben so füreinander tun. Da gibt es nur ein Problem. Dieser Wladimir Gundjajew heißt seit dem 1. Februar 2009 Kyrill I. Der heilige Synod wählte ihn zum 16. Patriarchen von Moskau und der gesamten Rus. 100 Millionen Gläubige hören auf sein Wort.
Es war eben diese Männerfreundschaft, die die Band Pussy Riot in der Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale beschimpfte. Und es war ebendieser Auftritt, in dem Putin und Kyrill jenen »aggressiven Liberalismus« erkennen, gegen den sie eintreten.
(Diana Laarz 17.08.12)

Putin und sein Kumpel Kyrill zeigen sich angesichts des Pussy-Riot-Falls genauso überzogen hysterisch. Das ist im höchsten Maße unsouverän und schadet ihnen selbst erheblich mehr, als es die drei Mädels bestraft.

Dieses analysieren aber Myriaden Schreiberlinge weltweit genauso wie ich - daher will ich das nicht weiter ausbreiten.

Die Methode „Ins Arbeitslager“ für alle, die es wagen den Präsidenten zu kritisieren, scheint mehr und mehr um sich zu greifen.

Der Kremlkritiker Garri Kasparow könnte bis zu fünf Jahre in einem Arbeitslager verschwinden, weil er vergangenen Freitag bei einer Demonstration in Moskau einen Polizisten gebissen haben soll. Der ehemalige Schachweltmeister wurde am Montag von der Polizei vernommen, nachdem er wegen seiner Teilnahme an der Kundgebung für die Punkband Pussy Riot festgenommen worden war.
[…] Die Nachrichtenagentur Interfax zitierte Kasparow mit den Worten: „Ich möchte diesen Polizisten sehen. Zu sagen, ich hätte jemanden gebissen, das ist Wahnsinn!“ […] Unterdessen sucht die russische Polizei weitere Mitglieder der kremlkritischen Band Pussy Riot, die an dem umstrittenen „Punkgebet“ in einer Moskauer Kathedrale mitgewirkt hatten.
(taz 20.08.12)

Eine schöne Entwicklung ist das sicher nicht. 

Allerdings zeigt derart drastisches Vorgehen auch, daß die Kreml-Führung offenbar tatsächlich die Kritik fürchtet. 
Längst gibt es in Russland Möglichkeiten seinen Groll gegen die Staatsführung über unabhängige Radiosender oder die sozialen Medien publik zu machen. 
Der Geist ist aus der Flasche und selbst dem prunkverliebten und machtbewußten Patriarchen Kyrill dämmert es wohl, daß die Tage einer klerikalen Diktatur vorbei sein könnten.

Dazu kann man viel schreiben, analysieren und kritisieren.

Wenig einfallsreich und auch nicht besonders intelligent ist es hingegen in jedem zweiten Leserbrief und fast jedem Artikel einen hämischen Schröder-Seitenhieb über den „lupenreinen Demokraten“ Putin zu lesen.

Das ist unfair.

Zunächst einmal ist das Zitat aus dem Zusammenhang gerissen. 
 Die Formulierung stammt von Reinhold Beckmann.

Beckmann: "Ist Putin ein lupenreiner Demokrat?"
Gerhard Schröder: "Das sind immer so Begriffe. Ich glaube ihm das und ich bin davon überzeugt, dass er das ist. Dass in Russland nicht alles so ist, wie er sich das vorstellt und gar wie ich oder wir uns das vorstellen würden, das, glaube ich, sollte man verstehen. Dieses Land hat 75 Jahre kommunistische Herrschaft hinter sich und ich würde immer gerne die Fundamentalkritiker daran erinnern, mal darüber nachzudenken, ab wann denn bei uns alles so wunderbar gelaufen ist."

Putin war damals Präsident und in der Konfrontation mit dem kriegslüsternen US-Präsidenten GWB ein absolut unverzichtbarer Alliierter.

Ich behaupte, der amtierende Bundeskanzler Schröder hätte in der Situation gar nicht sagen können und gar nicht sagen dürfen, er glaube Putin nicht den Weg der Demokratie einzuschlagen.

Das hätte unermesslichen diplomatischen und außenpolitischen Schaden zur Unzeit angerichtet.

Gerd Schröders Spruch stammt aus einer anderen Zeit, nämlich 2004.
Damals waren alle sehr froh darüber, daß die irren Autokraten um Boris Jelzin, der volltrunken mit dem Atomkoffer rumstolperte, von einem rationalen Mann ersetzt wurden. 

Tatsächlich hat Russland unter Putin ökonomisch gewaltige Fortschritte gemacht, wurde stabiler, verlässlicher und sichert nicht zuletzt unsere Energieversorgung.

Russland war vor zehn Jahren ein äußerst wichtiger Partner Deutschlands, um gemeinsam gegen den Irakkrieg zu arbeiten.

Das muß man Putin schon hoch anrechnen, daß er so klar für den friedlichen Kurs Frankreichs, Belgiens und Deutschlands gegen die USA, Polen, GB, Italien, Spanien, etc Stellung bezogen hat!

Rußland hat 1999 die Todesstrafe abgeschafft, während Merkels Christenfreund George W. Bush in seiner Amtszeit als Gouverneur 152 (sic!) Todesurteile unterschrieben hat. 

Der Staat Texas, dem GWB als Gouverneur diente hat in den letzten 30 Jahren sogar 22 Teenager hinrichten lassen

Auch geistig Behinderte werden in Amerika, dem land oft he free, hingerichtet.

2008 unterschrieb Bush noch als amtierender Präsident das Todesurteil gegen den Gefreiten Ronald Gray, einen US-Soldaten.

Tu quoque ist kein absolutes Argument und macht Putins Aktionen gegen Pussy Riot nicht besser. 

Aber wir sollten uns fragen, warum wir immer so hysterisch auf Russland losgehen und alle Augen bei Obama zudrücken.
Im SPIEGEL von heute erschien ein interessanter Leserbrief.

Was fehlt Putin zur lupenreinen Demokratie? Drohnen, mit denen er reihenweise missliebige Menschen an allen Orten der Welt ermorden könnte? Ein eigenes Folterlager wie Guantanamo? Ein Bankensystem, das die Welt wirtschaftlich in den Abgrund reißt samt seinem Kampfmittel Rating-Agenturen? Oder "Demokratiemissionen" wie in Afghanistan, Irak und - im Hintergrund - überall da, wo in der Welt mit dem Schlag-Wort Demokratie Chaos erzeugt wird?
Werner Kuhfuss, Waldkirch (Bad.-Württ.)
(Heft 34/2012  vom 20.08.2012 s.6)

Außerdem ist Schröders Lob für Putin fast zehn Jahre her und seitdem hat sich Putin verändert!

Seine Machtgeilheit hat andere Formen angenommen, die Schröder damals nicht erahnen konnte
Ich finde es wirklich unfair Schröder das Zitat immer noch um die Ohren zu hauen.
Mächtige verändern sich nun mal. 

Er würde das Land liberalisieren und nun die demokratischen und zivilisierten Gepflogenheiten einführen, die er aus England kannte.
Ich habe das auch geglaubt und Assad immer wieder lobend erwähnt. 
Ich fand es auch klasse, daß er eine Art säkularen Staat in der Gegend aufzieht, in dem die Religionen plural nebeneinander her existieren können.

JETZT weiß ich es natürlich auch besser. 
Assad ist zwischendurch mal richtig falsch abgebogen und marschiert nun in eine ganz üble Richtung.
Das konnte man aber anfangs nicht wissen.