Samstag, 9. März 2013

Babylonische Verwirrung.



Natürlich habe ich, insbesondere als ganz junger Mensch, in Gesprächen mit viel Älteren darauf insistiert, es sei doch unmöglich vom Verschwinden der Juden aus der Deutschen Öffentlichkeit nichts mitbekommen zu haben. Man versteht das heute nicht.
 
Aber das dritte Reich war willkürlich und nicht homogen. Was an einem Ort an der Tagesordnung war, kann woanders undenkbar gewesen sein.

Faszinierend waren für mich immer die Schilderungen dreier ungefähr gleichalter Damen zu vergleichen, von denen zwei in Wien und eine nördlich von Hamburg aufwuchsen.
 Ich war mit allen sehr gut befreundet und habe viele Jahre mit ihnen diskutiert.
Alle drei waren in der Nachkriegszeit politisch engagiert. Für die Demokratie, gegen die Wiederaufrüstung, gegen rechts.
Die Wienerinnen, Jahrgang 1917, erlebten den „Anschluß Österreichs“ als Studentinnen. Hitler kam über sie als sie schon erwachsen waren und entsprechende Kontakte zu zumindest widerständisch denkenden Professoren hatten. 
Es war gar keine Frage, ob oder warum man jüdischen Familien half. Man tat es einfach. Sie gehörten zu den Menschen, die sich von Anfang an keine Illusionen darüber machten, daß es einen schrecklichen Krieg geben würde.

Die junge Marion Dönhoff ist auch so eine Person, die schon als Abiturientin nach einer Begegnung mit Hitler (um 1927 oder 1928) vollkommen klar erkannte was blühen würde und schon damals niederschrieb, daß ihre ostpreußische Heimat in einem grausigen Krieg verloren gehen würde, wenn Hitler je an die Macht käme.

 Beide Damen aus Wien erzählten mir immer wieder, wie sehr sie sich später darüber wunderten gar keine Angst gehabt zu haben. Zum Teil schoben sie das auf ihre relative Jugend, aber insbesondere fühlten sie sich wohl von einem unsichtbaren Netz getragen. 
Man wußte nämlich ganz genau, wer gegen Hitler war, ohne daß man offen darüber gesprochen hätte.
Während einer Prüfung hatte zum Beispiel ein Professor die auf dem Schreibtisch stehende Hitler-Büste wenige Zentimeter zur Seite gedreht. Das war vollkommen ausreichend. Die Studenten wußten ganz genau was damit gemeint war. Daß er auch ein „Anti“ war.

Die Dame in Hamburg hingegen wurde erst nach dem Krieg wirklich politisch und hatte noch im Alter von über 20 schockiert reagiert, als ein Freund sie im Fronturlaub besuchte und unumwunden erklärte der Krieg sei verloren.
Es wurde das Trauma ihres Lebens – wie konnte ich übersehen was geschah? 
Das sollte ihr nicht noch einmal passieren und so verfolgte sie fortan intensiv das politische Geschehen.
Aber wieso hatte sie „nichts gemerkt“?
Ein paar Erklärungen gibt es. 
Anders als in Wien, begann die Hitler-Zeit in Hamburg schon Anfang 1933. Da war sie noch ein Mädchen und wurde sofort im BDM indoktriniert. Eine Jugendorganisation, die äußerst effektiv war. 
Zudem lebte sie außerhalb einer Stadt und hatte keine politisch denkende Freude. 
Mit Frauen wurde ohnehin nicht über so was gesprochen. In ihrem Elternhaus gab es zwar Einladungen, aber nach dem Essen gingen die Herren ins Herrenzimmer, um die politische Lage zu diskutieren, während die Ehefrauen im Damenzimmer Musik hörten und Handarbeiten machten.
So war das in den 1920er und 1930er Jahren.
Wer ein bißchen naiv veranlagt war, vertraute dem was ihm erzählt wurde.

Einmal begegnete ihre Jungmädel-Schar einem kleinen Trupp von Zwangsarbeiterinnen. 
Alle waren ehrlich schockiert über den Anblick der verstörten und ausgemergelten Frauen. (Sie gehörten, wie ich später herausfand zu einem Außenlager des KZs Neuengamme).
Die Mädchen empfanden ehrliches Mitleid und räteselten noch lange was für schlimme Verbrechen die Elenden wohl begangen haben müßten, um so eine Strafe zu verdienen.

Daß sie womöglich unschuldig sein könnten, kam niemanden überhaupt in den Sinn. 
Keiner fasste den Gedanken, daß irgendwas nicht mit richtigen Dingen zugehen könnte.

Wie kann es nun sein, daß „man“ auch, wenn man noch jung und naiv ist, auf so eine naheliegende Frage gar nicht kommt?

Nach reiflicher Überlegung bin ich zu dem Schluß gekommen, daß man dieses Problem a posteriori nicht wirklich beurteilen kann. 
Wir alle wissen nun einmal ganz genau was es mit dem Naziregime auf sich hatte und schließen in Mikrosekunden und unterbewusst auf ein Verbrechen.

Ich bin überzeugt davon, daß „der Mensch“ so gut wie nicht in der Lage ist sich Unwissenheit vorzustellen, nachdem er einmal wissend geworden ist.

Inzwischen gehöre ich selbst zu den älteren Menschen, die das gelegentlich Teenagern erklären müssen, daß es einmal Zeiten gab, in denen man nicht aus Bosheit, sondern aus purem Nichtwissen "Schlimmes" tat.

Rauchen während der Schwangerschaft, Plastikverpackungen, unangeschnallt Autofahren und zwar ohne Katalysator und Airbags.

Daß Astrid Lindgrens Pipi Langstrumpf einen Vater hatte, der „Negerkönig“ in Takatukaland war, ist niemanden als auch nur im entferntesten als ungehörig aufgefallen.
Heute tut es in den Ohren weh. 
Aber tatsächlich war das vor 40 oder 50 Jahren eine völlig normale Ausdrucksweise.
Es ist unsinnig Frau Lindgren deswegen Rassistin zu nennen.

Wer heute noch einmal Peter von Zahn-Fernsehreportagen aus den USA sieht, fällt natürlich darüber wie er die „Neger“ beschreibt und über die „Negerfrage“ orakelt. 
Aber das war die damalige Sprache, die man sich mit der heutigen Konnotationskraft gar nicht mehr neutral vorstellen kann. Es war aber so.
Es ist unsinnig Herrn von Zahn deswegen einen Rassisten zu nennen.

Denis Scheck, dessen großartige Sendung „Druckfrisch“ just zehnjähriges Jubiläum feierte, konnte es sich nach seiner Suada gegen die falsche sprachliche Korrektheit nicht verkneifen noch einmal nachzulegen.
Anläßlich des Jubiläums der Sendung besprach er diesmal nicht die aktuellen TopTen der SPIEGEL-Bestsellerliste, sondern die meistverkauften Bücher aller Zeiten.
Platz 5 (über 100 Millionen verkaufte Exemplare)
Agatha Christie: Und dann gabs keines mehr.

Zehn Menschen werden auf eine unbewohnte Insel eingeladen und finden dort einer nach den anderen Tod, weil sie in ihrer Vergangenheit schwere Schuld auf sich geladen haben. Der Clou: Der Mörder muss unter ihnen sein. Dieser Roman der momentan eher unterschätzten Agatha Christie wurde zum meistverkauften Krimi aller Zeiten. So reizvoll die aristotelische Einheit von Zeit, Ort und Handlung dieses Krimis auch ist: Dieser Ruhm ist sicher unverdient. Amüsant und spannend liest sich das im Original 1939 unter dem Titel "Ten little niggers" erschienene Buch aber immer noch.
„Nigger“? Normal 1939.
Es ist unsinnig Christie (1890 – 1976), die Schöpferin von Detektiv Hercule Poirot und Miss Marple eine Rassistin zu nennen. 
Vielleicht war sie etwas antisemitisch, weil sie insbesondere in ihren frühen Büchern Juden gerne schlecht aussehen ließ. Das müßte man genauer untersuchen, aber der Gebrauch der Vokabel „Nigger“, der ein Zitat des Zählreims „Zehn kleiner Negerlein“ aus dem Jahr 1868 war, macht keine Rassistin aus ihr.

Wieso ist dir das nicht aufgefallen, als du „Zehn kleine Negerlein“ in der Schule sangst, mag man mich jetzt fragen.
Heute kann ich es aber auch nicht mehr verstehen. Damals fiel es mir nicht auf.

Als ich auf das Gymnasium kam, lernten wir im Musikunterricht den Kanon kennen. Das machte mir großen Spaß und so sang ich eben auch den Caffee-Kanon, den Carl Gottlieb Hering (1766-1853) komponiert und getextet hatte.
Ganz normales Schulliedgut in modernen Hamburger Schulen.

C-A-F-F-E-E, trink nicht so viel Kaffee!..

....Nicht für Kinder ist der Türkentrank,

Schwächt die Nerven, macht dich blass und krank,

Sei doch kein Muselmann, der ihn nicht lassen kann.
Es ist unsinnig meinen damaligen Musiklehrer deswegen einen Rassisten zu schimpfen.

Ein anderer Spruch aus meiner Kindheit, der niemanden heute mehr über die Lippen käme wäre: „Benimm dich ordentlich, sonst kommst du ins Heim!“
Das war eine völlig übliche Redewendung, die man als Drohung benutze. 
Wenn ein Kind ungezogen war, mußte es ins Heim.
Welche Zustände in christlichen Kinderheimen herrschten, daß Kinder dort keineswegs aus eigenem Verschulden hingelangten und daß man sich darüber nicht lustig machen sollte, wußte nur eine sehr kleine Minderheit.
Meines Wissens war Ulrike Meinhof die erste Journalistin, die sich der Problematik der vielen Heimkinder annahm. Das Myriadenfache Elend der Kinder zu recherchieren ist ihr großes Verdienst.
 Aber Baader und Meinhof taugten aus bekannten Gründen nicht als Moralapostel, deren Anliegen man in breiter Öffentlichkeit wahrgenommen hätte. 
Es dauerte noch Jahrzehnte, bis es zu einem „Runden Tisch Heimerziehung“ kam.
Heute kriegt jeder Bauchgrimmen bei der Vorstellung von malträtierten, ausgebeuteten und sexuell missbrauchten Kindern in kirchlichen Heimen.
Es ist aber unsinnig deswegen jeden, der 1950 oder 1960 mit „dann kommst du ins Heim“ drohte zum Mitwisser von Kindesmissbrauch zu machen.

Das aktuellste Beispiel aus der Reihe „Darüber haben wir nie nachgedacht“ ist für mich die Genitalverstümmelung an kleinen Jungs.
Im letzten Jahr ist dieses Thema in diesem Blog immer wieder und in aller Ausführlichkeit beschrieben worden.
Wer sich die blutige Prozedur einmal auf einem Video angesehen hat und wer um die Todesfälle und verursachten Impotenzen durch die Penisbeschneidung weiß, kann einfach nicht mehr verstehen, wie es möglich ist so eine Barbarei zu erlauben.
Dabei ist es ja richtig, daß Juden, Moslems und anglosächsische Masturbationsgegner über Jahrhunderte, bzw Jahrtausende ihren Söhnen am Penis rumschnitten.
Warum habe ich mich noch nicht vor zehn oder zwanzig Jahren dagegen engagiert? 
Wieso dauerte es bis 2012 bis darüber eine öffentliche Diskussion entbrannte?
Daran hat „man“ eben gar nicht gedacht.
Auch das kann ich jetzt schon nicht mehr verstehen.
 Warum kam mir das früher nie in den Sinn? 

Kennt man einmal die richtige Frage, ist es automatisch undenkbar diese Frage nicht zu stellen.