Das dürfte wohl das einzige sein, das ich dieses Jahr über den ESC lese: Kann die israelische Sängerin Yuval Raphael sich in Europa frei bewegen und in der Schweiz auftreten? 2024 in Malmö musste Eden Golan wegen massiver Todesdrohungen in ihr Hotelzimmer weggesperrt werden und wurde angeblich vom israelischen Geheimdienst geschützt. So viel zur Freiheit in Europa.
Offenbar hofft man in Jerusalem, den grässlichen Bildern, die es letztes Jahr in Schweden gab, zu entgehen, indem man eine Vertreterin aussuchte, die eindeutig selbst ein tragisches Opfer ist.
[….] Mit der Nominierung Raphaels wurde versucht, das alles etwas abzukühlen. Gleichzeitig ist es aber eben auch sie, die den Nahostkonflikt als Person auf die Bühne trägt. Denn sie ist eine Überlebende des Hamas-Massakers vom 7. Oktober 2023. Mit Freunden feierte sie an diesem Tag auf dem Nova-Festival, als aus dem Gazastreifen Raketen nach Israel geschossen wurden und Hunderte Terroristen begannen, auf dem Festival und in den umliegenden Kibbuzim wahllos Menschen zu ermorden und zu entführen. Raphael und ihre Freunde versuchten, erst mit dem Auto zu fliehen, versteckten sich dann aber doch in einem Bunker am Straßenrand, der eigentlich gegen Luftangriffe schützen soll. Dort fanden die Hamas-Terroristen sie. Sie feuerten in die Menge, warfen Granaten in den Bunker. Immer wieder. Raphael überlebte verletzt als eine der wenigen, unter den Leichen versteckt. Noch immer habe sie Schrapnelle in ihrem Körper, erzählt sie in Interviews. Womöglich sollte mit ihrer Teilnahme am ESC den Kritikern die Angriffsfläche genommen werden. Denn jede Kritik an Israel müsste sich dann auch mit dem Angriff der Hamas auseinandersetzen. [….]
(Nicolas Freund, SZ, 17.05.2025)
Aber abgesehen von Raphaels persönlichem Martyrium; auch wenn sie keinerlei Bezug zum Hamas-Massaker hätte: Es ist die Paradedefinition von Antisemitismus, einer Person, wegen ihres Jüdisch-Seins zu drohen und sie aufgrund ihrer zufälligen Zugehörigkeit zu einem Kollektiv zu verurteilen. Hier verschwimmt alles: Judentum, Israel, Gaza, Netanyahu-Regierung, Ethnie, Religion.
Marcel Reich-Ranicki, 1920 im polnischen Włocławek geboren, hatte einen säkularen polnischen Vater (David Reich) und eine deutsche Mutter (Helene Auerbach). Er besuchte die deutsche Schule in Polen und zog 1929 mit seinen Eltern als kleines Kind nach Berlin. 1938 deportierte man ihn nach Polen, ab 1958 lebte er wieder dauerhaft in Deutschland. Eine Verbindung zu Israel hatte er gar nicht. Reich-Ranicki gehörte aber auch nicht zur jüdischen Religion, weil er immer Atheist war.
„Gott ist eine literarische Erfindung. Es gibt keinen Gott. […] Ich kenne keinen. Hab ihn nie gekannt. Nie in meinen Leben!“
(MRR)
Kein Israeli, kein Angehöriger des Judentums und dennoch zweifellos Jude, obwohl es gar keine „menschlichen Rassen“ gibt. Er gehörte nicht zu der Ethnie, nicht zu der Religion und nicht zu dem Nationalstaat (Israel), empfand sich aber eindeutig als Jude. Die Beispiele Marcel und Teofila Reich-Ranicki zeigen die Perfidie des Antisemitismus: Aufgrund nicht existenter, ausgedachter Zugehörigkeiten, wurden ihre gesamten Familien, ihre Eltern, alle Geschwister, alle Verwandte ermordet.
Yuval Raphael ist genauso wenig für den Gazakrieg und die Netanyahu-Regierung verantwortlich, wie Annalena Baerbock für Adolf Hitler oder ich für Donald Trump.
Menschen, die ihre außerordentlich berechtigte Kritik an Bibis
inzwischen offenkundig genozidalen Krieg ausdrücken, indem sie einzelne
Israelis und/oder Juden in Berlin, Malmö oder Basel angreifen, gehört meine
ganze Verachtung.
Das ist Antisemitismus! Und es ist ebenfalls antisemitisch zu behaupten, man
dürfe Israel nicht kritisieren, weil es die klassischen Stereotype aus der
Nazizeit bedient: Es gäbe mächtige internationale jüdische Seilschaften, die so
etwas verböten.
Selbstverständlich darf man Kritik üben.
(….) Viele Rechtsextreme, viele Idioten und leider auch zu viele engagierte Linke, blamieren sich, seit die Hamas am 07.Oktober 2023 mehr als 1.400 Israelis massakrierte und rund 250 Menschen als Geiseln verschleppte, mit verstörenden Aussagen.
Möglicherweise gab es schon beim Jom Kippur-Krieg 1973, oder dem Sechstagekrieg von 1967 so abwegige deutsche Meinungen dazu. Aber glücklicherweise gab es damals noch kein Internet, so daß nicht jeder Depp seine irrelevanten Ansichten publizierte.
Ich möchte 20 Axiome zur Nahost-Meinungsäußerung in Deutschland nennen, die ich mir nicht etwa gerade selbst ausdenke, sondern seit Jahrzehnten rauf und runter gebeten werden. Aber offensichtlich dennoch immer weniger gehört werden.
1. Niemand ist gezwungen sich zu positionieren.
2. Niemand muss Nahost-Experte sein.
3. Kritik an Israelischer Politik ist nicht verboten.
4. Politisches Handlungen der Jerusalemer Regierung zu kritisieren, ist nicht antisemitisch.
5. Einzelne Menschen jüdischen Glaubens in Deutschland für Netanyahus Handlungen zu beschimpfen, ist antisemitisch.
6. Die Hamas ist nicht identisch mit den Palästinensern.
7. Ein nach 1945 geborener Deutscher ist nicht Schuld am Holokaust.
8. Die Deutschen Bürger sind aber dafür zuständig, den Holocaust nicht zu vergessen und ihn nicht zu wiederholen.
9. Für die historischen Leiden des jüdischen und des palästinensischen Volkes ist Deutschland sehr stark mitursächlich und sollte deswegen auf internationaler Ebene nicht ausgerechnet am Lautesten kritisieren und den moralischen Zeigefinger schwenken.
10.Hamas-Terror, der zum Beispiel beinhaltet, die deutsche Geisel Shani Louk, nackt zur Schau zu stellen, sie zu vergewaltigen, foltern, köpfen, zu zerstückeln und mit solchen Taten im Netz zu prahlen, ist eben nicht mit den Aktionen Israelischer Soldaten zu vergleichen.
11.Wenn man auf Social Media Israel beschimpft und dafür seinerseits kritisiert wird, bedeutet das nicht „man darf ja gar nichts mehr sagen“.
12.Meinungsfreiheit in Deutschland bedeutet nicht das Recht, seine Meinung immer widerspruchslos kund zu tun.
13.Wenn deutsche Juden nur unter besonderem Schutz in Schulen oder Synagogen gehen können, ist das nicht ihre Schuld, sondern eine elende Schande für die deutsche Gesellschaft.
14.Empathie für die getöteten Kinder im Gaza-Streifen zu empfinden, bedeutet nicht, israelfeindlich zu sein.
15.Empathie für die von der Hamas gefolterten und getöteten Israelis zu empfinden, bedeutet nicht, alle Palästinenser zu hassen.
16.Die internationale Gemeinschaft verlangt nicht von Fritze Meier in der Fußgängerzone von Buxtehude, eine Lösung des Nahostkonfliktes aus dem Ärmel zu schütteln.
17.Nicht jeder Deutsche muss über historisches Fachwissen verfügen.
18.Wer historische Vergleiche bemüht, sollte aber die Fakten kennen.
19.Deutsche Rechtsradikale, die mit ihrem extremen Hass auf Migranten und Muslime Stimmungen machen, sind nicht automatisch Israel-Freunde.
20.Die Kriegsverbrechen Putins rechtfertigen selbstverständlich nicht, 80 Jahre rückwirkend den deutschen Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion. (….)
(Historisch aufgeladene Zeiten, 04.11.2023)
Selbstverständlich wird auch Kritik geübt. Insbesondere in Israel selbst gibt es seit vielen Jahren massive deutliche öffentliche Kritik an Bibis Vorgehen. In Parteien, in der Presse, in der Zivilgesellschaft, sogar in Geheimdiensten und Armee.
[….] Laut einem Bericht der »New York Times« haben israelische Militärangehörige intern gewarnt, dass den Palästinensern im Gazastreifen eine Hungersnot droht, falls die Hilfslieferungen nicht binnen weniger Wochen wieder aufgenommen werden. Die Zeitung beruft sich dabei auf drei israelische Armeevertreter, die mit den Bedingungen vor Ort vertraut sind.
Wie es weiter heißt, hätten Offiziere, die die humanitäre Lage in Gaza beobachten, ihre Vorgesetzten in den vergangenen Tagen gewarnt: Wenn die Blockade nicht schnell aufgehoben werde, drohe in vielen Gebieten des Gazastreifens ein Mangel an Nahrungsmitteln, um den täglichen Mindestbedarf zu decken. [….]
Meiner Ansicht nach ist das Vorgehen der Israelischen Armee sogar so eindeutig verbrecherisch – nicht von ungefähr gibt es einen internationalen Haftbefehl gegen den Israelischen Regierungschef – daß es gerade deswegen nicht nur „unnötig“ ist antisemitischen Vorurteile zu bedienen, sondern mit diesen antisemitischen Tönen sogar den Palästinenser schwer geschadet wird, weil es die richtige und gerechte Kritik am „Umgang“ mit ihnen diskreditiert.
Nur zu gerne benutzen daher rechte Bibiphile Kreise (Trump, Merz) das Todschlagargument „Antisemitismus“, um gebotene Kritik nicht inhaltlich beantworten zu müssen.
[….] Der Antisemitismus-Beschluss der Linken ist völlig in Ordnung
Seit dem Parteitag in Chemnitz tobt eine Debatte, ob die Partei sich nun dem Hass auf Juden verschrieben hat. Mit der Realität hat die Aufregung nichts zu tun. Man könnte meinen, die Partei von Bodo Ramelow, Gregor Gysi und Heidi Reichinnek hätte mit Blick auf den Nahostkonflikt etwas entsetzlich Dumpfes und Empathieloses beschlossen in der vergangenen Woche. Man könnte das meinen, wenn man die Schärfe der Kritik hört, die der Präsident des Zentralrats der Juden übt, der ansonsten eher maßvoll formulierende Josef Schuster: „Die Linke zeigt, wo sie steht: nicht an der Seite der Juden in Deutschland“, hat er kürzlich gepostet. Und man könnte es meinen, wenn man liest, was im Echo darauf auch Bild getitelt hat: „Getrieben von Israelhass: Skandal-Beschluss der Linken bei Parteitag“. [….] Die Linkspartei als Ganze hat auf ihrem Parteitag, der Ende vergangener Woche in Chemnitz stattfand, nicht Ulrike Eifler gefeiert. Nein, nach der Aufregung hat die Partei eine Deklaration gegen Antisemitismus verabschiedet. Ein symbolischer Akt: Mit knapper Mehrheit beschloss man, sich in Debatten über Nahost künftig an der „Jerusalem Declaration on Antisemitism“ zu orientieren. So heißt ein Papier einiger Wissenschaftler aus dem Jahr 2021. Dessen Kernaussage lautet: Auch im Streiten über Israel flackern antisemitische Ressentiments auf; aber bei Weitem nicht jede Kritik an Israel ist antisemitisch. [….
Man sollte es den Rechten nicht zu leicht machen, indem man sich vor berechtigter Empörung über die Myriaden toten Kinder von Gaza zu Antisemitismus hinreißen lässt. Man sollte genau zuhören, bevor man Kritik als „antisemitisch“ abwinkt.

[….] Im Streit um die Antisemitismus-Definition bekommt die Linkspartei Schützenhilfe von 55 Wissenschaftlern, Historikern und Intellektuellen. Die Linkspartei hatte sich auf ihrem Parteitag in Chemnitz die Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus (JDA) zu eigen gemacht und die von vielen Staaten akzeptierte „IHRA-Arbeitsdefinition von Antisemitismus“ kritisiert. Diese verwische die Grenze zwischen Antisemitismus und Kritik an Israel.
Der Vorsitzende des Zentralrats der Juden, Joseph Schuster, hatte der Linkspartei daraufhin vorgeworfen, „Hass auf Israel“ zu schüren. Massive Kritik kam von der Union, aber auch von einzelnen Linkspartei-Politikern wie Bodo Ramelow.
Die Erklärung, die der taz vorliegt, unterstützt die Linkspartei und deren Bekenntnis zu der JDA. „Dass die IHRA-Definition von Regierungen angenommen wurde, ist weitgehend Ergebnis politischer Kampagnen von Akteuren im Einklang mit der israelischen Regierung.“ heißt es. Die IHRA-Definition werde „von illiberalen Kräften instrumentalisiert, um bürgerliche Freiheiten und Menschenrechte zu untergraben.“
Die JDA hingegen stelle ein „sorgfältiges Gleichgewicht zwischen dem Kampf gegen Antisemitismus einerseits und der Wahrung der Redefreiheit und anderer demokratischer Freiheiten andererseits her.“ Eine Definition von Antisemitismus dürfe „nicht als Regulierungs- und Disziplinierungsinstrumente dienen – diese Rolle sollte ausschließlich Recht und Gesetz zukommen.“
[….] Die Erklärung der 55 Wissenschaftler, Historiker und Intellektuellen zur Unterstützung der Linkspartei und deren Bekenntnis zu der JDA finden Sie hier.
Die Autoren, die meisten jüdische Intellektuelle, fordern die Linkspartei auf, „selbstbewusst zu dieser Entscheidung zu stehen, die ein tieferes und breiteres Nachdenken in Deutschland darüber anregen sollte, wie Antisemitismus am besten bekämpft werden kann.“ [….]
Deutschland darf Netanyahu nicht als Staatsgast empfangen, ohne ihn zu verhaften. Deutschland darf keine Waffen mehr nach Israel liefern, Deutschland darf nicht zu den Verbrechen in Gaza schweigen!
Deutschland darf aber auch keine Judenhass verbreiten. Deutschland darf nicht akzeptieren, wenn Juden in Deutschland attackiert werden.
In seinem neuen Buch „Judenhass“ (Berlin Verlag 2024) dröselt Michel Friedman die Situation auf und erklärt in leicht verständlichen Worten, was judenfeindliche linke Akademiker und Kunstschaffende bedenken sollten.
[….] Die Documenta in Kassel hat in aller Deutlichkeit gezeigt, dass BDS* auch ein eliminatorisches Prinzip formuliert. Selbst die bekanntesten Wissenschaftler, Künstlerinnen, Musiker sollen nicht mehr auftreten dürfen, bekommen also ein lebenslanges Berufsverbot, nur weil sie israelische Staatsbürgerinnen und Staatsbürger sind. Selbst wenn sie sich gegen die Regierung auflehnen, ihre Politik also verurteilen und für eine Zweistaatenlösung kämpfen, ändert das nichts an dem Bann. Sie sind Juden und als solche verdächtigt, angeklagt. Verurteilt. Eine Kollektivstrafe, die der Einzelne nicht aufheben kann. Diese autoritäre, größenwahnsinnige Haltung, die auch von vielen Nichtjuden aus unterschiedlichen Gründen als mutig und konsequent angesehen wird, ist Antisemitismus. Boykott ist immer undifferenziert. Wenn also wie bisher israelische Musiker, Wissenschaftlerinnen und Künstler nicht mehr auftreten dürfen, nur weil sie Israelis sind, und dies als gerecht empfunden wird, ist das für mich ein Ausdruck blinder Selbstgerechtigkeit. [….]
(M. Friedmann, zitiert aus dem SPIEGEL, 27.01.2024)
* Boycott, Divestment and Sanctions ist eine transnationale politische Kampagne, die den Staat Israel wirtschaftlich, kulturell und politisch isolieren will.