Freitag, 14. Mai 2021

Corona-Sport

Eine der ganz wenigen Sportarten, von denen ich rudimentär etwas mitbekomme, ist Wasserspringen.   Die Akrobatik ist beeindruckend und außerdem geht es schön schnell. Nach einer Sekunde ist so ein Sprung von der 10m-Plattform vorbei. Viel länger reicht meine Aufmerksamkeitsspanne bei Sport ohnehin nicht.    Vor ein paar Tagen sah ich in den social media das Bild einer britischen Turmspringerin beim Weltcup in Tokio inmitten ihrer Teamkollegen, überschrieben mit „my favorite bubble“.

Da wurde ich aufmerksam.

Wieso reisen die eigentlich schon wieder durch die Welt und können sich mit einem Dutzend jungen Sportlern Arm in Arm ohne Maske für Selfis aufstellen?

Es liegt offenbar daran, daß etwas vollständig Sinnloses wie Sport aufgrund der nationalistischen Gefühlsaufwallungen, die damit verbunden sind, höchste politische Priorität genießt.  Menschen befestigen dann gern kleine Nationalflaggen an ihren Autos, um coram publico zu demonstrieren, wie vollständig verblödet sie sind. Um solche Kleinwagenpatrioten kümmert man sich schon eher, als um Angehörige, die ihre sterbenden Eltern im Krankenhaus besuchen wollen.

[…..] SZ: Herr Mascolo, Sie haben das politische Handeln in der Pandemie intensiv aus der Nähe beobachtet. Ist Ihr Respekt vor Politikern dabei gewachsen oder geschrumpft?

Mascolo: […..] Es gibt aber Momente, die einen fassungslos zurücklassen. Die Frage der Impfstoffbeschaffung spielte in den Runden von Ministerpräsidenten mit der Kanzlerin lange keine Rolle. Dafür wurde endlos darüber gestritten, wie es mit der Bundesliga weitergehen soll, und zwar nicht nur mit der ersten, sondern auch der zweiten und dritten. […..]

(SZ-Gespräch, 08.05.2021)

Auch das Hopsen von einem Dreimeterbrett, um nach den ein oder anderen Salti oder Schrauben ins Wasser zu tauchen, wird als international so ungeheuer relevant angesehen, daß man die jungen Hüpfer von allen Reiseverboten freistellt und sie zu einem Weltcup nach Tokio schickt.   Und wenn man schon mal unterwegs ist, wird auf dem Rückweg noch für ein paar Tage in Budapest zur Wasserspring-EM gestoppt.

Reisen in Zeiten von Corona ist kurios. So viel erfährt man von den Sportlern, die im Internetzeitalter natürlich alle gleichzeitig Vlogger sind.    London-Heathrow, mit üblicherweise 80 Millionen Fluggästen im Jahr, Europas größter Flughafen, ist nun eine Geisterstadt.  Leere Hallen, leere Gates, aber immerhin ein paar britische Wasserspringer, die gefühlt alle zehn Minuten einen Corona-Test absolvieren müssen.

In der Olympiastadt Tokio angekommen, wurden die Bestimmungen noch einmal drastisch verschärft. Alle Sportler kamen in Quarantäne, wurden während ihrer gesamten Zeit in Japan so streng isoliert, daß sie noch nicht einmal ihre Hotelzimmer verlassen konnten. Sogar der Gang in die Lobby oder den Frühstücksraum war absolutes Tabu. Kein Kontakt zum Personal, kein Kontakt zu anderen Sportlern und schon gar kein Kontakt zur Bevölkerung.

 […..] Keine drei Monate sind es mehr, bis am 23. Juli die Sommerspiele beginnen sollen. Das Coronavirus gibt keine Ruhe. Japans Regierung hat am Freitag verkündet, den Notstand für Tokio und drei weitere Präfekturen zu verlängern. […..] Viel hat man in Tokio nicht mitbekommen vom Weltcup. Wie ein finsteres Ufo lag das Aquatics Center im Tatsumi-no-Mori Beach Park von Tokios Ost-Bezirk Koto, während in dem mächtigen Gebäude die Abendveranstaltungen stattfanden. Zuschauer waren nicht erlaubt, die Zugänge versperrt. Fast verstohlen brachte der Bus die Athletinnen und Athleten zum Wettkampf. Eilig schlüpften sie aus dem Gefährt in die Halle. Und die Hygieneregeln waren wohl ein Vorgeschmack auf die Spiele, bei denen die Olympia-Teilnehmenden keinen Kontakt zu den Einheimischen haben sollen.   Sich die Beine vertreten? Frische Luft schnappen? Nicht erlaubt. Im Hotel mussten alle auf ihrer Etage bleiben, die Deutschen also im zehnten Stock. Die Fenster konnte man nicht öffnen, die Klimaanlage sollte man klein halten. Das Essen kam drei Mal am Tag aufs Zimmer. Flugzeugkost. Für Obst und Säfte musste man sich eigens einsetzen. Und mit dem Aufzug runterfahren für eine Entspannungsrunde auf dem Parkplatz - verboten. "Ich habe mich noch nie so eingeschränkt gefühlt", sagt Buschkow, "dieser Wunsch nach frischer Luft ..."    Trotzdem stellt er nichts infrage. Japans Regierung, das Internationale Olympische Komitee (IOC), die Verbände - alle sagen, die Spiele finden statt. Danach richtet er sich. […..] Und in Japan wird der Widerstand immer deutlicher. Die Zeitung Mainichi hat diese Woche eine Umfrage unter den 47 Präfekturen gemacht. Neun waren für Absage oder Verlegung, darunter auch die Spiele-Standorte Saitama (Basketball, Golf, Fußball, Schießen) und Shizuoka (Radsport). […..]

(Thomas Hahn, 07.05.2021)

Noch nicht einmal japanisch atmen durfen die Sportler, weil die Hotelzimmer hermetisch verschlossen waren.

Absurder geht es kaum. Da rechtfertigen Sportfunktionäre rund um den Globus die aberwitzigen Multimilliarden-Ausgaben für eine prinzipiell nicht notwendige Veranstaltung mit Völkerverständigung, dem „olympischen Gedanken“, daß sich Sportler aller Nationen kennenlernen können und genau das wird strikt verboten.

Wozu also das Spektakel, an dem noch nicht mal interessierte Zuschauer teilhaben dürfen? Für Geisterveranstaltungen in leeren Hallen ohne Stimmung mit streng nach Nationen isolierten Kadern, so daß ausschließlich die Funktionäre  reicher werden?
Für das Geld könnte man den Hunger besiegen oder alle Menschen in den Entwicklungsländern gegen Corona impfen.   Solche Meisterschaften, Weltcups, Olympischen Spiele sind nicht nur grotesk überdimensioniert, sondern auch noch extrem unbeliebt.   In europäischen und nordamerikanischen Städten sind Olympische Spiele inzwischen undurchführbar, weil sich die Bevölkerung erfolgreich dagegen wehrt.

Als Austragungsorte bleiben nur noch undemokratische Autokratien. Putin und Xi müssen keine Volksbegehren gegen die Spiele von Sochi oder Peking fürchten.   Die einzigen Alternativen sind die ultrareichen Golfmonarchien, aber die Fußball-WM 2022 in Katar zeigt, daß man dafür nicht nur bei den Menschenrechten alle Augen zudrücken muss – mehrere Tausend de facto-Zwangsarbeiter kamen beim Aufbau der Stadien ums Leben – sondern auch unter abstrusen Hitzebedingungen „spielen“ muss.

Auf Tokio 2020 ruhte eine der letzten Hoffnungen. Japan ist demokratisch, reich und technisch so up to date, um die Spiele durchzuführen. Die Bevölkerung ist extrem diszipliniert und wehrt sich nicht wie die garstigen Hamburger, Garmischer oder Osloer gegen den Olympia-Wahnsinn.

Dachte man zumindest. Dann kam Corona, die Absage der Spiele von 2020 und der Aufschub um ein Jahr.   Aber selbst die so obrigkeitshörigen fleißigen Japaner haben keine Lust mehr.

[…..] In Japan steigen die Infektionszahlen, der Notstand wird ausgeweitet. Derweil werden die Rufe immer lauter, die Olympischen Spiele in Tokio abzusagen. Hierfür wurde nun sogar eine Petition überreicht.   Namhafte Epidemiologen und der Chef des Tokioter Ärzteverbandes haben es schon vor langer Zeit gesagt: Die Olympischen Spiele im Sommer in Tokio auszurichten, sei den Bürgern gegenüber unverantwortlich.

Nun hat die japanische Ärztegewerkschaft nachgelegt. Sie vertritt die Interessen der angestellten Ärzte. "Tokio darf kein Coronavirus-Hotspot werden. Wir meinen, die Olympischen Spiele sollten jetzt nicht stattfinden", sagt Gewerkschaftsvertreter Naoto Ueyama auf einer Pressekonferenz.   Die Ärzte arbeiteten vielerorts seit Monaten am Anschlag. Wenn jetzt mehrere Tausend Menschen aus dem Ausland zu den Olympischen Spielen ins Land kämen, berge dies große Gefahren. […..] Doch die Regierung hält unbeirrt an ihren Plänen fest. Das "Tokyo2020"-Organisationskomitee hat gerade eine Pressemitteilung über die aus ihrer Sicht erfolgreichen jüngsten Testwettkämpfe veröffentlicht. Dass sich mancher Sportler dabei wie eingesperrt vorkam, wird freilich nicht erwähnt. Wie gering das Vertrauen in das bisherige Sicherheitskonzept der Olympiamacher ist, wurde erst in dieser Woche deutlich. Die USA und einige andere Länder sagten Trainingslager in Japan ab. […..]  Die Mehrheit der Japaner lehnt die Spiele nach wie vor ab. […..]

(Tagesschau, 14.05.2021)

In der Pandemie eisern an den Spielen von Tokio festzuhalten, mit einer unwilligen Bevölkerung, ohne Zuschauer, streng voneinander isolierten Teilnehmern und hochkorrupten Funktionären ist immerhin eine schöne Apotheose für die Schwachsinnigkeit der Gattung Homo Sapiens.

No Hope For The Human Race.