Das
Elend der Welt wird uns in Zahlen präsentiert.
Je größer
die Zahlen, desto abstrakter. Wenn genügend Nullen hinten dran sind, ist es
auch irgendwann egal.
Matthias
Drobinsiki, der SZ-Haustheologe schrieb
neulich in einem kleinen Chronik-Kasten über den TVE-Skandal der Bischofssitz
sollte im Jahr 2012 auf einmal 9,5
Milliarden Euro kosten.
Vermutlich
nur ein Druckfehler, aber es ist schon symptomatisch, daß es in so einer
renommierten Zeitung niemand aufgefallen ist
Millionen,
Milliarden, Billionen – da kommt man schon mal durcheinander.
Menschen
können wir noch viel weniger in Zahlen
begreifen.
100
Tote, die im Mittelmeer ertranken, weil unsere beliebtesten Politiker ihnen die
EU-Tür vor der Nase zuschlagen, bringen es kaum noch auf die vorderen Plätze
der Tagesschau-Meldungen. Da müssen es schon eher 1000 angespülte Leichen sein.
Bei 23.000 durch die EU-Politik Verreckten
läuten sogar mal die Kirchenglocken – freilich, ohne daß es irgendwelche politischen
Konsequenzen gäbe.
Die
Kirchen läuten aber eben auch nur. Der Einsatz für die Toten ist gute PR.
Eigene
Mittel will die Kirche aber nicht ausgeben und schon gar nicht ihre vielen verwaisten Pfarrhäuser und Klöster als Flüchtlingsunterkünfte
zur Verfügung stellen.
Dazu
sind die Zahlen zu groß.
Es würde
die Kirchen überfordern, sagen sie.
Mit der
Argumentation könnte man es sich auch sparen einen ölverschmierten Seevogel das
Gefieder zu säubern und ihn so vor dem sicheren Tod zu bewahren- die Ölpest
selbst wird ja schließlich nicht mehr verhindert.
So
nehmen wir auch die Millionen Menschen hin, die jedes Jahr elend an Hunger verrecken.
Es sind
10.000 -20.000 Kinder, die jeden Tag auf der Welt verhungern. Früher waren es
mal 30.000 JEDEN TAG. Wer weiß das schon so genau? Wer zählt nach? Was zählt
ein Kind überhaupt? Insbesondere wenn es ein Afrikanisches oder Nordkoreanisches
ist? Das sind dann keine Gründe für „den Westen“ seine Agrarpolitik dahingehend
zu ändern, daß der Hunger beendet werden könnte.
Laut des letzten
„World-Food-Reports“ steigt die Zahl sogar wieder. Sie kennen die Zahlen, alle
fünf Sekunden verhungert ein Kind unter zehn Jahren, 57.000 Menschen sterben am
Hunger oder seinen unmittelbaren Folgen jeden Tag und fast eine Milliarde Menschen
sind permanent schwerstens unternährt.
Das sind
riesige Zahlen. Dafür öffnet Papst Franz nicht die Kassen des IOR, dafür
gefährdet der fromme Wolfgang Schäuble, der am 06.09.15
in einer Elsässischen Kirche predigen wird,
nicht seine heilige schwarze Null.
Im Juli
2015 kamen 5.700 Flüchtlinge nach Hamburg.
Im
gesamten Jahr 2014 waren es 7.000 in Hamburg, die neu kamen.
Bundesweit
werden dieses Jahr womöglich 400.000 Asylanträge erwartet.
Die
Sachsen-CDU zeigt sich mal wieder als ganz Rechtsaußen und begrüßt Grenzzäune gegen diese „Menschflut“.
Auf daß
noch mehr Menschen in den Tod getrieben werden, wenn ihnen keine legalen
Ausreisemöglichkeiten aus ihren Terrorländern bleiben.
Politiker
und Journalisten sprechen leichtfertig von „Belastungsgrenzen“, die
durch die Flüchtlingsströme, Asylantenflut oder den Massenandrang erreicht
werde.
Über 200
Anschläge gab es dieses Jahr schon auf deutsche Flüchtlingsunterkünfte.
Tendenz
stark steigend.
Die
beliebteste Bundeskanzlerin aller Zeiten führt währenddessen eine „völlig gegenwartsblinde“ Regierung,
die die Problematik einfach ignoriert.
Es fällt
vergleichsweise leicht indolent und ignorant zu reagieren, wenn Menschen als Massen, Fluten oder Ströme wahrgenommen
werden.
Wenn
sich ihre Schicksale hinter Zahlen mit vielen Nullen verstecken.
Es
interessiert uns schlicht und ergreifend nicht, daß alle fünf Sekunden ein Kind
verreckt, weil wir, der reiche Westen nach wie vor die ärmeren Länder massiv
ausbeuten.
Doppelt so viel Geld fließt von der dritten in die erste
Welt wie umgekehrt.
Ganz
anders sieht es bei Einzelschicksalen aus.
Während
uns 1000 oder 10.000 oder 20.000 tote Kinder vollkommen egal sind, wird unser
Mitgefühl sofort getriggert, wenn von einem „tragischen“ Einzelfall die Rede
ist.
Das arme weinende Mädchen Reem als Palästina,
das die gefühllose Kanzlerin zum Weinen brachte, rührte uns.
Wenn ein
Kind mitten in Deutschland vermisst wird und jeder es zur Kenntnis genommen
hat, weil BILD und TV-Boulevard tränenrührig davon berichteten, weinenden
Eltern abfilmten und süße Bilder zeigten, werden auf einmal alle ganz aktiv.
Tausende
melden sich freiwillig zu Suchaktionen.
Als 2012
in Hamburg die süße kleine Chantal, 11, starb, weil das Jugendamt sie zu
Pflegeeltern gab, die Ex-Fixer waren und ihr versehentlich eine Überdosis Methadon
verpassten, wurde über viele Monate auf den Titelseiten der gesamte Hamburger
Presse berichtet. Jeder kannte das Bild des blonden Mädchens, für das sich zu
Lebzeiten leider niemand interessiert hatte.
So sind
die Menschen. Sie brauchen einen persönlichen Zugang. Eine
boulevardisiert-personalisierte Aufbereitung einer Geschichte.
Nur dann
hört man beim Einkaufen wie alle von der „armen kleinen Sophie“ oder dem „armen
kleinen Kevin“ reden. Dann kommen die Menschen um vor ehrlichem Mitleid. Ich
meine das völlig unironisch; tatsächlich leiden wir dann mit.
Daß
gleichzeitig zig Familien auseinandergerissen und zerstört werden, weil die
meisten Bundesländer rigoros abschieben oder im umgekehrten Fall keine
Familienzusammenführungen zulassen, interessiert uns hingegen nicht, weil wir
das gar nicht mitbekommen.
Das ist
so wie mit dem Konflikt in der Ostukraine, der sich aus unserem Bewußtsein
geschlichen hat.
Dort
wird zwar weiter gemordet und Krieg geführt, aber wir richten unsere
Aufmerksamkeit derzeit auf andere Dinge.
Eine
Mitschuld trifft die Presse, die zwar richtigerweise von den vielen Problemen
mit Flüchtlingsunterkünften und den widerlichen Angriffe auf dieselben
berichtet – Sachsens Integrationsministerin Petra Köpping schämt sich öffentlich für ihr eigenes Volk
– aber so wird den Deutschen das Thema emotional nicht nahe gebracht.
Ich
freue mich daher sehr über die wenigen Ausnahmen.
Es gibt
durchaus TV-Dokus, die einzelne Flüchtlinge vorstellen, ihr Schicksal
begreifbar machen und sich Zeit nehmen es dem Zuschauer nahe zu bringen.
Die
Perspektive der geflohenen Menschen fehlt fast vollständig in der öffentlichen
Debatte. Wie empfinden sie ihre neue Umgebung, die Lebensbedingungen? Was haben
sie erlebt? Wie geht es ihnen?
Nur so kann man Empathie wecken.
Nur so kann man Empathie wecken.
Eine
löbliche Ausnahme war auch der Bericht von Yahya Al-Aous in der
Wochenendausgabe der SZ; prominent platziert auf der Kommentarseite, wo sonst
Carolin Emcke schreibt.
Der
Syrische Journalist, 41, zwei Jahre in Haft des Assad-Regimes, ist mit seiner
Frau und seiner kleinen Tochter, 9, in Berlin gelandet und beschreibt seine
Eindrücke.
Ein
hochinteressanter und überfälliger Perspektivwechsel in der deutschen Presse.
Bitte mehr davon!!
[….]
Eine Variante der neuen Realität
erwartete mich und meine neunjährige Tochter in Berlin an einer Bushaltestelle.
Wir wollten zurück in unser Übergangswohnheim, als mein Blick auf ein junges
Liebespaar fiel. Die beiden tauschten heiße Küsse in inniger Umarmung aus - als
seien sie allein auf der Welt. Zum ersten Mal sah ich so eine Szene in der
Öffentlichkeit - und es überraschte mich. Noch mehr überraschte mich aber, dass
die anderen Wartenden das Geschehen nicht einmal zur Kenntnis zu nehmen
schienen.
Nur meine Kleine
starrte das Paar an - mit einer Mischung aus Überraschung und Schüchternheit.
Automatisch legte ich meine Hand auf ihre Augen, dann schob ich meinen Körper
als Sichtschutz zwischen die Liebenden und mein Kind. Meine Reaktion war auch
ein Schutz meiner selbst: Ich wollte meine Frau und mich vor einem kindlichen
Fragesturm schützen. Denn meine Frau und ich fühlen uns noch nicht bereit,
derartige Situationen erklären zu können. Also blieb mir nichts anderes übrig -
vorerst.
Obwohl ich nicht aus
einem besonders religiösen oder konservativen Umfeld stamme, so komme ich doch
aus einer Gesellschaft, die Frauen als Bürger zweiter Klasse betrachtet und
emanzipierte Mädchen, die sich weder von der Familie noch der Gesellschaft
etwas vorschreiben lassen, Prostituierten gleichstellt. In Syrien wäre es nicht
vorstellbar, dass eine Frau öffentlich küsst - auch nicht ihren Ehemann. [….] Wenn die Sonne scheint, bemerke ich, dass meine Augen sich angezogen
fühlen von diesen jungen Männern und Frauen, die sich fast nackt und oft
komplett tätowiert zeigen - genauso wie vom Anblick der Menschen, die sich die
Nasen und Ohren mit großen Metallstücken verstopfen. Leider bringt meine
Fantasie mich immer wieder in eine imaginäre Szene, in der sich diese Männer
vor mir aufbauen und mit einer abgebrochenen Bierflasche vor meinem Gesicht
rumwedeln und Unverständliches brüllen. Mittlerweile glaube ich aber, dass das
nicht passieren wird. Der Körperschmuck ist einfach Ausdruck einer anderen
Kultur, an die ich mich bald gewöhnen werde. Ob dieses Deutschland mit seinen
Integrationsmaßnahmen auch dafür sorgen wird, dass ich mir eines Tages den Hals
tätowieren und die Ohren durchstechen lasse? [….]