Sonntag, 26. Mai 2019

War viel Wahl.


Hat jetzt etwa wirklich Rezo der SPD den Rest gegeben?
Die Wahlergebnisse sehen in der Tat so aus. Die Groko-Parteien aus dem Bund drastisch abgestraft, Rekordergebnis für die Grünen, bundesweit über 20% und dazu noch in der Altersgruppe der unter 30-Jährigen mit Abstand stärkste Kraft.

Die Grünen sind meine zweitliebste Partei, sind klar proeuropäisch ausgerichtet – also Gratulation von meiner Seite.

Wie groß der Rezo-Effekt war, vermag ich nicht zu sagen. Möglicherweise wäre es ohne sein Video ähnlich gekommen.
Die Groko war schon vorher historisch unbeliebt, die Top-Figuren im Willy-Brandt-Haus (WBH) katastrophal unfähig. Es gibt keinen Tag, an dem ich mich nicht für das ungeschickte Agieren von Nahles und Klingbeil schäme.

Die Grünen profitieren von vielen Effekten.

1.) Sie sind seit 2005 in der Bundestagsopposition und werden nicht mit dem schlechten Image der Regierung in Verbindung gebracht.
2.) Greta Thunberg und eine europaweite Demonstrationsbewegung haben das Thema „Klima“ ganz weit nach vorn auf die Themenagenda geschoben.
3.) Die Grünen werden von der veröffentlichten Meinung auf Händen getragen und stets gelobt, während man der SPD zwar durchaus zubilligt „das Richtige“ zu sagen, aber sofort dazu schreibt, sie habe ohnehin keine Glaubwürdigkeit mehr.
4.) Die beiden Realos Annalena Baerbock und Robert Habeck sind hervorragende Chefs; in jeder Hinsicht der Nahles-Crew meilenweit überlegen. Er ist der Strahlemann nach Außen, der die Massen beeindruckt und kann fordern was er will. 30 Milliarden für ein Grundeinkommen? Hurra, tolle Idee. Heils Pläne nach einer bloß sechs Milliarden teuren „Respektsrente“ werden sofort als unfinanzierbar kritisiert, jetzt, da „die Konjunktur abschmiert“.
Baerbock zieht hingegen im Hintergrund die Fäden und findet rechtzeitig  strenge Sprachregelungen, die ihr erlauben in der SZ rechtspopulistisch „schnellere Abschiebungen für straffällige Flüchtlinge“ zu fordern oder aus Rücksicht auf MP Kretschmann vor der Autoindustrie zu buckeln und jeden Klimaschutzgedanken zu vergessen. Die SPD würde sofort in einen lautstarken Hühnerhaufenmodus verfallen, weil Nahles nicht kommunizieren kann. Ober-Reala Baerbock hingegen kann alles durchsetzen.

Die SPD ist eine Konzeptpartei, die sich seit Generationen viele Gedanken über Europa macht, genaue Vorstellungen davon hat wie man mehr soziale Gerechtigkeit und Arbeitnehmerrechte gestalten müsste.
Das ist aber derzeit irrelevant, da die Sozis unter der Führung Schulz-Nahles medial unter „Generalverschiss“ geraten sind, wie es FDP-Vize Kubicki 2010 über seine Partei schon mal diagnostizierte.
Katharina Barley hat alles richtig gemacht, war fleißig, sympathisch, engagiert und konzeptionell ausgereift. Die Wähler mögen sie auch, aber sie mögen derzeit nicht ihr Kreuz bei der SPD machen, weil sie so out ist.

Der hoffnungslos überforderte Lars Klingbeil zeigte es heute wieder überdeutlich, als er nach der 18 Uhr-Prognose die seit Jahrzehnten ausgelutschten Phrasen von sich gab. Jetzt müsse sich wirklich was ändern, aber bitte keine Personaldiskussionen, es gehe um Inhalte und erst müsse ja auch das Wahlergebnis analysiert werden.

Sagenhaft. Das hören wir schon seit zehn Jahren aus dem WBH. Insbesondere die Generalsekretärin Nahles redete ab 2009 so. Herausgekommen ist nichts. Es ging immer nur weiter bergab.
Immer noch glauben Menschen in der Parteispitze, die Misere der Partei wäre mit neuen Programmen und Sozialstaatskonzeptionen zu überwinden. Man müsse nur genug Papier produzieren, das dann sorgsam von 80 Millionen Deutschen analysiert werde, einen rationalen Denkprozess in Gang setze und schließlich dazu führe wieder mehr Prozente zu bekommen.
Das ist leider Bullshit. Martin Schulz lag zum Anfang seiner Spitzenkandidatur ganz ohne Konzepte mit 33% vor der CDU/CSU, schmierte genauso konzeptlos auf 20% ab. Die außerparlamentarische Opposition FDP legte ohne irgendein inhaltliches Konzept um über 100% zu.
Die AfD ist ohne Parteiprogramm heute in Brandenburg und Sachsen stärkste Partei geworden.
Eine Partei braucht, um gewählt zu werden entweder

1.)
Grundvertrauen (das aber derzeit keine Partei mehr genießt)
oder

2.)
Eine sie tragende mediale Stimmung (zB „gegen Flüchtlinge“, „Fukushima“ oder „skolstrejk för klimatet“)
Oder

3.)
Richtig gute Leute an der Spitze, wie es 1998 Gerhard Schröder war, wie es der extrem beliebte Kretschmann ist, wie es Habeck ist.
So wie man Olaf Scholz in Hamburg vertraute oder gar Helmut Schmidt verehrte.

Leider hat die SPD nicht solche Leute an der Spitze, sondern nur Andrea Nahles, die immer zu laut, zu proletig, zu albern ist.
Die den Ton nicht trifft, für die man sich immer nur schämt.
Das ist durchaus tragisch, weil sie inhaltlich durchaus auch vieles richtig macht, aber sie ist als Person so abstoßend und gleichzeitig vollkommen beratungsresistent, daß sie die Partei immer mehr in den Abgrund reißen wird.


In der Opposition ist es so viel leichter, da kann man alles fordern, gegen alles sein und muss sich nicht um die lästige Realpolitik der Finanzierungszwänge kümmern.

Groko ist so unbeliebt? Dann geht doch endlich raus da!
Nahles ist eine Versagerin als Parteichefin? Dann soll sie doch abtreten!

So reden Irrealos. In der echten Welt folgt man aber nicht nur seinem ersten Impuls, sondern denkt noch über die Folgen nach.

Was passiert, wenn die SPD die Groko verlässt?
Es gibt drei Möglichkeiten:

1.) Merkel einigt sich auf Jamaika, die sechs SPD-Minister Maas, Scholz, Barley, Giffey, Schulze und Heil werden durch drei FDPler und drei Grüne ersetzt.
Dann wäre Oberlobbyisten und Porschefahrer Lindner Vizekanzler und würde gewaltig die Sozialleistungen zusammenstreichen. Also wäre es eine klare Verschlechterung zum Ist-Zustand. Allerdings ist die Variante unwahrscheinlich, da Jamaika schon einmal scheiterte und die 20%-Grünen von heute sicher keine Lust haben mit weniger Macht als die FDP (BTW 10,7%), nämlich ihren mickrigen 8,9% in die Regierung einzutreten.

2.) Neuwahlen. Dafür gibt es aber hohe Hürden. Sie können nicht einfach so vom Bundestag angesetzt werden, sondern setzt eine gescheiterte Vertrauensabstimmung und entsprechendes Handeln des Bundespräsidenten voraus. Warum sollte Merkel so ein blamables Ende ihrer Kanzlerschaft mutwillig herbeiführen und damit auch auf die glanzvolle EU-Ratspräsidentschaft im Jahre 2020 verzichten? Zumal ein schlechteres CDUCSU-Ergebnis als 2017 zu erwarten ist. Warum sollte die SPD das in sicherer Erwartung dramatischer weiterer Sitzverluste mitmachen? Diese Option ist also auch sehr unwahrscheinlich.

3.) Da man Kanzler nur mit einem konstruktiven Misstrauensvotum abwählen kann, es weit und breit keine Mehrheit für einen anderen Kanzler gibt und sich Frau Merkel zudem in einem persönlichen Umfrage-Hoch befindet – sie ist die beliebteste Politikerin Deutschlands, eine übergroße Mehrheit möchte, daß sie bis 2021 im Amt bleibt – wird sie  mit einer Minderheitsregierung Kanzlerin bleiben und sich hauptsächlich von FDP und AfD aushelfen lassen.
Das ist die mit Abstand wahrscheinlichste Variante.
Die sechs SPD-Minister Maas, Scholz, Barley, Giffey, Schulze und Heil werden arbeitslos, die SPD verliert jeden Regierungseinfluss, stattdessen sucht sich Merkel sechs möglichst weit rechts stehende neue Unionsminister à la Spahn, Klöckner, Seehofer, die mit nationalistischer, xenophober, antieuropäischer, homophober und antiökologischer Politik um die Zustimmung der über 90 AfD-Parlamentarier buhlen. Die Rechtsaußen Merz, Ziemiak, Linnemann scharren schon mit den Hufen.

Alle drei Varianten sind aus linker Sicht eine klare Verschlechterung zur Groko.
Die wahrscheinlichste Variante (3) ist die Allerschlechteste.

SPD-Romantiker wie Kevin Kühnert glauben an die Erneuerung der SPD in der Opposition. Das ist erstens Humbug und hat schon 2009 bis 2013 unter Nahles‘ Führung nicht funktioniert. Außerdem geht das nur um den Preis einer rechten Regierung. Das Klientel der SPD, die ärmsten in der Bevölkerung und das Klima  hätten am meisten zu leiden. Es gäbe drastische Rüstungsexportzunahmen, Umverteilung von unten nach oben, sowieso den totalen Durchmarsch von Pharma- und Versicherungslobbyisten auf Kosten der Patienten.

Der Fortschreitende Niedergang der SPD liegt hauptsächlich an Führungsfiguren.
Nahles und Klingbeil müssen durch dynamische, intelligente und sympathische Figuren, die in der Bevölkerung beliebt sind, ausgetauscht werden.
Wer soll das machen?

1.) Kühnert. Liebling der Linken, aber mit sehr wenig Faktenkenntnis gesegnet. Verursachte mit seinen missglückten Enteignungsphantasien, die von 90% der Bevölkerung kategorisch abgelehnt werden mitten im Europawahlkampf einen schweren Schaden für die SPD, weiß keine Alternative zur Groko und ist garantiert unfähig mit Merkel auf Augenhöhe zu verhandeln.

2.) Scholz. Liebling der Seeheimer und mir. Der Vizekanzler ist intellektuell absolut dazu in der Lage die SPD zu führen, hat schon oft die CDU ausmanövriert. Er ist sicher der klügste Kopf für den Job, aber andererseits bei Basis und Wählern hoffnungslos unbeliebt. Wie schon als SPD-General könnte er die Seele der Partei nicht erwärmen und würde nicht zur Verbesserung der Wahlergebnisse führen.

3.) Maas. Einer der beliebtesten deutschen Politikern, der sich seit Beginn von PEGIDA wie kein anderer Sozi dem Rechtsextremismus entgegen stellt und dementsprechend auch Lieblingsfeind der Identitären und AfD ist. Maas ist zweifellos intelligent und kann immer bella figura machen – schon mal zwei große Vorteile gegenüber Nahles.
Aber er hat kein Alpha-Mann-Gen, bringt aus dem Saarland keine Hausmacht mit und hat im Gegensatz zu zum Beispiel Scholz nie Wahlen gewinnen können. Er „zieht“ nicht, ist eher eine Nummer Zwei.

4.) Manuela Schwesig. Sie würde gern, bringt mit den Attributen „Frau, Jung, Osten“ Modernität mit. Aber ihre Regierung in Schwerin läuft nicht rund. Offenbar ist sie eine unangenehme Chefin, vor der gerade erst Mecklenburg-Vorpommerns Finanzminister Mathias Brodkorb (SPD) weglief, sein Amt hinwarf, weil er mit ihr nicht zusammenarbeiten könne. Zudem fungiert Schwesig als Schirmherrin für einen Homöopathie-Kongress und macht sich damit in den Agen aller rationalen SPD-Mitglieder lächerlich.

Alle anderen Namen, die mir einfallen sind noch unwahrscheinlicher.
Kein Wunder, daß sich sogar Sigmar Gabriel und Martin Schulz wieder Hoffnung auf den SPD-Bundesvorsitz machen. Es gibt leider niemand, der sich anbietet.

Damit genug zu meinen armen Sozen. Morgen geht es um Bremen und Europa.