Sonntag, 27. Dezember 2020

Tabubrüche

Schon seit hundert Jahren nervt es mich, wenn falsche Assoziationen insbesondere im kirchlichen Bereich nicht hinterfragt werden.

Hartnäckig wird „christlich“ positiv konnotiert, böse Dinge als „unchristlich“ bezeichnet.

Im Jahr 2020 werden immer noch ausgerechnet Vertreter einer Organisation, die weltweit Kindesmissbrauch ermöglicht, fördert und vertuscht, devot als „Hochwürden“, „Eminenz“ oder „Exzellenz“ angesprochen.

Kaum einer hinterfragt wieso eigentlich Vertreter der Ideologie, die Antisemitismus, Schwulenhass, Sklaverei und Misogynie buchstäblich in ihrem Stammbuch geschrieben hat, in Ethikkommissionen und Rundfunkräten sitzen.

(….) Eins der wichtigen Bücher aus der „atheistischen Szene“ ist das vor neun Jahren erschienene

Die Kirche im Kopf. Von „Ach Herrje!“ bis „zum Teufel!“

von Michael Schmidt-Salomon und  Carsten Frerk.

Dabei geht es um die vielen biblischen Assoziationen und Metaphern, die man verwendet, ohne sich darüber bewußt zu sein. (…..)

(Die Kirche im Kopf, 02.02.2016)

Bundestag und Bundesregierung sind fast vollständig kirchentreu und lassen die alten Männer im Kleid weiterhin Kinderficker umherschieben, ohne einzugreifen.

Immerhin gibt es aber seit einigen Jahrzehnten säkulare Organisationen, die wie HU oder  gbs, für die im Grundgesetz verlangte Trennung von Kirche und Staat arbeiten.

Noch wichtiger ist allerdings der Mitgliederexodus. In wenigen Jahren werden Konfessionsfreie die Mehrheit der Deutschen stellen.

Bei einem anderen Thema gibt es noch gar keine Absetzbewegungen.

Das ist die grundgesetzlich geschützte Familie, die hartnäckig von jedem positiv konnotiert wird. Das geht von ganz oben – Bundesregering, Bundespräsident – über Kirchen, Presse, Parteien, Gewerkschaften bis nach ganz unten zu Kleinkriminellen und HartzIVlern. Alle preisen den Wert der Familie und behaupten ihnen sei die Familie wichtiger als alles andere.

Gemeint ist damit aber in der Regel ein biologistisches Familienbild als den 1950ern.

Es wird klar differenziert zwischen „Freunden“, die eben „nur“ Freunde sind und der echten Familie, der man genetisch verbunden ist. Ganz selbstverständlich sagt jeder den Spruch „Blut ist dicker als Wasser“ auf.

Aber warum eigentlich?
Ist das nicht auch ein anachronistischer Begriff aus öden Zeiten mit hoher Kindersterblichkeit und zu dünn besiedelten Ländern? Als man möglichst viele Kinder brauchte, um sich zu ernähren und zu schützen?

Aber darüber sind wir doch längst hinweg. Der Planet ächzt unter fürchterlicher Überbevölkerung.

Man sollte lieber diejenigen preisen, die auf Kinder verzichten.

Und tatsächlich sind bereits in Städten wie Hamburg die Singlehaushalte in der Mehrheit. Nur noch in 20% der Haushalte leben Kinder.

Wieso gibt es dann keine einzige Partei in Deutschland, von Linke bis AfD, die sich die Vertretung von Singles auf die Fahnen schreibt? Wieso sind alle ausschließlich darauf bedacht Familien zu fördern?

Die „guten Zeiten“ von früher, als es noch nicht so viele Scheidungen und nicht so viele Alleinerziehende gab, standen vor allem deswegen für intakte Familien, weil Kinder und Frauen gar keine Alternativen hatten. Deren Vater suchte den Ehemann aus.  In den ersten Jahren der Bundesrepublik durften Frauen nur mit Erlaubnis des Vaters oder Ehemanns einen Beruf ergreifen oder ein Bankkonto eröffnen. Bis vor 25 Jahren durften Ehemänner ihre Frauen straflos vergewaltigen – und die überwältigende Mehrheit der CDU/CSU war auch noch 1996 dagegen die Regelung zu ändern.

Die Väter hatten – so steht es schließlich in der Bibel – die alleinige Gewalt, sollten sogar ihre Kinder durch Schläge misshandeln.

Die Frau konnte schon allein deswegen keine Scheidung einreichen, weil die dann a) mittellos gewesen wäre, b) vermutlich ihre Kinder nicht mehr gesehen hätte und c) auch noch gesellschaftlich als Ehebrecherin geächtet worden wäre.

Eine hohe Scheidungsrate nenne ich einen Fortschritt; denn die Möglichkeit sich zu trennen, bedeutet im Umkehrschluss, daß ein Großteil der bestehenden Ehen auf Freiwilligkeit beruhen.

Absurderweise spricht man aber immer noch von „gescheiterter Ehe“ bei einer Scheidung. Dabei heißt Scheidung nur, daß eine Ehe beendet wird.

Aber eine Ehe, die irgendwann, womöglich nach Jahrzehnten des glücklichen Zusammenlebens, getrennt wird, kann höchst erfolgreich und für alle Beteiligten angenehm gewesen sein.

Meine Eltern ließen sich scheiden, bevor ich in die Grundschule kam, betonten aber beide bis an ihr Lebensende, es habe sich um die ganz große Liebe gehandelt. In der gemeinsamen Zeit trafen sie große Entscheidungen, lebten auf verschiedenen Kontinenten, zeugten Leben etc. Ich nenne das nicht „gescheitert“.

Ich spreche auch nicht gegen die Ehe an sich aus. Insofern ist es nicht mit der Kirche zu vergleichen, die ich durchaus grundsätzlich ablehne.

Aber ich wende mich gegen die unkritische und absurde Erhöhung der Ehe, die alles Nicht-eheliche als minderwertig, gescheitert oder bedauerlich ansieht.

Ich behaupte, daß viele Singles solidarischer netzwerken und für einander einstehen als Familien.

Wer sich einen Partner wählt und Kinder bekommt, legt automatisch seine Beziehungsfokus in eine andere Richtung. Das ist weder gut noch schlecht, sondern liegt in der Natur der Sache. Natürlich müssen Kinder eine gewisse Priorität haben.

Aber in meiner Arbeit in Pflegeheimen sehe ich auch die Kehrseite. Die Bewohner, die keine eigenen Kinder haben, sind meistens besser mit ihrem Freundeskreis vernetzt, werden mehr umsorgt, während die mit Kindern oft nur dann von denen umsorgt werden, wenn diese keine eigenen Kinder haben und dadurch Zeit haben.

Sind erst einmal Enkel da, bleibt logischerweise weniger Zeit für die dementen Eltern im Heim.

Mein Tutor in der Schule war so ein guter Typ, mit dem viele Schüler, auch ich, später befreundet blieben. Das lag sicher daran, daß er keine eigenen Kinder hatte und seine Tür bei ihm zu Hause immer offen stand. Seine Frau war beruflich viel unterwegs; zu ihr hatte ich kaum Kontakt. Sie starb eines Tages durch einen Verkehrsunfall und als mein alter Tutor langsam gebrechlicher wurde und eine längere Zeit im Krankenhaus war, traf ich mal seinen Zimmernachbarn, der mir weinend sagte, er wünsche sich, eins seiner Kinder käme auch mal zu Besuch. Bei meinem Tutor war immer was los; das hatten wir im Nu organisiert. Wer sich um das Haus kümmerte, den Hund versorgte und im Krankenhaus gaben wir uns eh die Klinke in die Hand. Hauptsächlich ehemalige Schüler, die über die Jahrzehnte zu engen Freunden geworden waren.

Solche Beziehungen kann man generieren und pflegen, wenn man keine „Blutsfamilie“ hat.

Wir wurden zwar „nur“ für seine Familie gehalten, obwohl wir alle nicht seine echte Familie waren.

„Ach, das sind nur IHRE SCHÜLER?“ fragte man ihn oft im Krankenhaus und später in der Reha, weil alle annahmen, nur Kinder würden sich so intensiv kümmern.

Dabei gibt es eben keine Sicherheit, daß sich die Kinder später mal kümmern. Vielleicht haben sie eigene Familien, andere Interessen, leben in einem anderen Land und man mag sich schlicht und ergreifend nicht.

Die „Ersatzfamilie“ meines Tutor war aber in Wahrheit sogar besser als eine „echte Familie“, weil wir handverlesen waren. Der Typ war ein Exzentriker und Denker, den nicht etwa jeder mochte.

Diejenigen, die Kontakt gehalten hatten, waren wie ich, wirklich auf einer Wellenlänge mit ihm. Wir halfen ihm nicht weil wir gemußt hätten, oder irgendwelche Familienbande verlangt hätten, sondern einzig und allein, weil wird es wollten.

Familien haben Kehrseiten. Die meisten Kinder werden tatsächlich nicht von katholischen Geistlichen sexuell missbraucht und geschlagen, sondern von ihren eigenen Eltern.

Millionen Kinder in Deutschland sind schlicht und ergreifen von ihren vernachlässigt.

Corona-Quarantäne und geschlossene Schulen bedeuten nicht nur Stress für die Eltern, sondern für viele Frauen und Kinder eben auch blanke Gewalt, weil es zu viel Familie ist.

[….] Die Corona-Pandemie zwang Familien in die Isolation – und alarmierte die Hilfsorganisationen. Unicef und der Opferverband Weißer Ring, aber auch die Vereinten Nationen und der Europarat warnten vor einem Anstieg von Missbrauch und häuslicher Gewalt gegenüber Kindern und Frauen. In China vermeldete eine Frauenrechtsorganisation bereits drei Mal so viele Anfragen von Gewaltopfern wie vor der Quarantäne. Bereits vor der Corona-Krise hätten laut Kriminalstatistik für das Jahr 2019 Befragungen von Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Deutschland gezeigt, dass etwa fünf bis zehn Prozent der Eltern ihre Kinder schwerwiegend und relativ häufig körperlich bestrafen.  Eine Studie hat nun Anfang Juni ergeben: 3,1 Prozent der Frauen erlebten zu Hause mindestens eine körperliche Auseinandersetzung, zum Beispiel Schläge. In 6,5 Prozent der Haushalte wurden Kinder von einem Haushaltsmitglied körperlich bestraft. 3,6 Prozent der Frauen wurden von ihrem Partner zum Geschlechtsverkehr gezwungen. Und 3,8 Prozent der Frauen fühlten sich von ihrem Partner bedroht. 2,2 Prozent duften ihr Haus nicht ohne seine Erlaubnis verlassen. In 4,6 Prozent der Fälle regulierte der Partner Kontakte der Frauen mit anderen Personen, auch digitale Kontakte, zum Beispiel über Messenger-Dienste.  Waren die Frauen in Quarantäne oder hatten die Familien finanzielle Sorgen, lagen die Zahlen deutlich höher. Das traf auch auf Haushalte mit Kindern unter 10 Jahren zu. […..]

(Nele Langosch, 21.08.2020)

Familie kann man sich nicht aussuchen.

Freunde, also die fälschlich sogenannte „Ersatzfamilie“, aber schon. Die Blutsverwandten mag man, weil man sie kennt, sich gewöhnt hat und vielleicht auch genetisch bedingt Ähnlichkeiten mitbringt.

Aber dennoch gibt es in der Familie auch die größten Streitigkeiten, weil man auch mit Menschen zusammen ist, die man sich freiwillig nicht als Freund ausgesucht hätte.

Ein vernünftiger Familienunternehmer, der seine Firma in die fünfte Generation überreichen möchte, sagte mir einmal, es solle derjenige sein Nachfolger werden, der es am besten kann. Das wäre aber nicht notwendigerweise jemand, der seinen Nachnamen trage.

Es wäre ihm sehr willkommen, wenn sich zufällig eins seiner Kinder als der beste für den Job herausstellen sollte, so wie er vor beinahe 60 Jahren von seinem Vater ausgewählt wurde.

Aber die Firma, das Wohl der Angestellten gehe vor. Sollten die Kinder es nicht können, kämen sie nicht zum Zug.

Ich sehe meine Familie wie diese Firma.

Diejenigen, mit denen ich eng befreundet sein möchte, sollen die sein, die ich am meisten mag. Wenn darunter Familienmitglieder sind, umso besser.

Aber nur weil wir gewisse Gene teilen, sind sie mir nicht sympathischer und lieber als andere.

Familie ist kein Wert an sich. Familie muss nicht schön sein. Wenn eine Pandemie mehr Nähe zur Familie aufzwingt, wird es für viele Kinder brutal. Das zeigen beispielsweise Anrufe bei Hotlines für Kinder in Not.

[….] Die Pandemie verändert offensichtlich die Probleme von Eltern und Kindern. Gesprächsinhalte aus den Bereichen "psychosoziale Themen und Gesundheit", "Probleme in der Familie" und auch "Gewalt" haben deutlich an Relevanz gewonnen, wie die Sprecherin des Sorgentelefons sagte. Bei den Heranwachsenden wären im Vergleich vor allem die Probleme "psychische Gewalt" und "Opfer häuslicher Gewalt" der Grund gewesen, die "Nummer gegen Kummer" anzurufen. [….]

(MDR, 16.12.2020)

Ich wünsche mir nicht Familien zu benachteiligen, aber man sollte gerade in Zeiten von Corona endlich anfangen auch nicht familiäre Lebensformen entsprechend schützen und würdigen. Unverheiratete Paare, Patchworks-Familien, Freunde und alle Menschen, die sich um andere kümmern.

Deswegen sollte die Gesellschaft als Ganzes auch verstehen, daß die nahezu einheitliche Verklärung Weihnachtens als „Familienfest“ diskriminierend ist und auf die Soziologin Eva Illouz hören. Wir sind nicht minderwertig, wenn wie den Unsinn nicht mitmachen.

[…..] Viele Jahrhunderte lang war Weihnachten kein so wichtiger Feiertag, es hat gedauert, bis daraus wurde, was es heute ist. Geschenke gab es allenfalls bei den Reichen. Interessant ist, dass Weihnachten in dem Moment zum Fest der Liebe, der Dankbarkeit und der Familie wird, als es kommerzialisiert wird. Das passt sehr gut zu meiner These, dass sich der Konsumkapitalismus in jeden Winkel unserer privaten Beziehungen und Gefühle einschreibt. Um unseren Konsum zu begründen, werden ständig die Bilder von der perfekten Familie und der perfekten Intimität heraufbeschworen, die natürlich Fiktion sind. An Weihnachten genauso wie am Muttertag, am Vatertag oder am Valentinstag. All diese Feiertage sind zugleich vom Konsum und vom Gefühl bestimmt. […..] Der wichtigste Grund [für die vielen Scheidungen nach Weihnachten] ist, dass unsere Vorstellung von Weihnachten genau wie die von der Liebe sehr stark auf Mythen und Fiktion beruht. Und wenn wir dann tatsächlich zusammensitzen, merken wir, dass Weihnachten gar nicht so magisch ist, und die Familie verliert auch ihren Zauber. Die ganze schöne Weihnachtsdekoration macht die Herzen nicht schöner. Zur Familie zählen an Weihnachten ja oft auch die Schwiegereltern, der Schwager oder die Schwägerin. Die Familie des Partners ist häufig eine große Belastung, das führt zu Spannungen in der Paarbeziehung. […..] Weihnachten und die Liebe sind beides sehr starke Mythen. Es geht ums Zusammensein, um Harmonie, Glück. Und wenn das nicht eintritt, haben wir das Gefühl, versagt zu haben. […..]

(Eva Illous, 01.12.2018)

 Und nur weil "Familie" drauf steht, muss es nicht schön und schützenswert sein.