Dienstag, 26. Januar 2021

Heterogenes Hamburg

Stolz ist mir ziemlich fremd. Ich finde es auch unsympathisch sich selbst über irgendjemand anderen zu erheben. Oft sind Menschen zu allen Übel auf Dinge stolz, die rein zufällig sind und in keiner Weise mit einer erbrachten Leistung einhergehen: Reiche Eltern, tolle blonde Haare, großer Penis, Nationalität, Adelstitel.

Mich lässt das aber alles kalt. Nationalismus halte ich für genauso schlecht wie Patriotismus, die stets so bemühten Unterschiede sehe ich nicht.

Beides führt wie Religion letztendlich dazu sich selbst über die Nachbarn zu erheben, sich für etwas Besseres zu halten und daraus mehr Rechte abzuleiten.

Nach einem halben Jahrhundert in Hamburg bin ich aber Lokalpatriot.

Wie ich das rechtfertige?
Indem ich das natürlich nicht erst nehme und mir darüber bewußt bin, daß andere Städter genauso über ihre Heimatstadt denken und dann eben Düsseldorf, Buxtehude oder Castrop Rauxel für die schönste deutsche Stadt halten. (Obwohl eindeutig Hamburg die schönste Stadt der Welt ist.)

Das Nationalprinzip, sich also den Nachbarstaaten überlegen zu fühlen, funktioniert fast immer und auf allen Ebenen. Menschen hassen immer den Nachbarn. Ob nun auf internationaler oder nationaler Ebene, stets beäugt man den Spieler nebenan argwöhnisch. Frankreich und Deutschland waren „Erbfeinde“, zwischen Polen und Deutschen herrscht böses Blut, viele Jahrhunderte beschäftigten sich europäische Nationen ausschließlich damit den Nachbarn mit Krieg zu überziehen.

Innerhalb einer Nation hassen sich Landesteile gegenseitig wie die Pest – Serben und Kroaten in Jugoslawien, Georgier gegen Abchasen, Armenien und Aserbaidschan innerhalb der Sowjetunion, Flamen und Wallone in Belgien, Protestanten und Katholiken in Nordirland.

Deutsche Patrioten finden sich zwar selbst besser als Tschechen oder Polen, lehnen sich aber umso deutlicher je nach Bundesland ab. Hamburger mögen keine Bayern, Bayern hassen die Sachsen, Sachsen blicken auf Mecklenburger herab. Bremer hassen Hamburger und NRWler lachen über Saarländer.

Innerhalb der Bundesländer geht es entsprechend weiter.

Hannoveraner fühlen sich Ostfriesen überlegen und die Oberbayern fühlen sich allemal besser als die Franken.

Hamburg ist sehr groß. Mit 756 Km2 spielt es in einer Flächenliga mit Berlin (890 km2), obwohl es nur halb so viele Einwohner zählt.

Die anderen beiden Millionenstädte sind deutlich kleiner; Köln hat etwa 400 km2, München 310 km2. Es folgen Frankfurt am Main mit 248 Km2, Düsseldorf mit 217 Km2, Stuttgart 207 Km2 und Hannover 204 Km2.

Die Großflächigkeit Hamburgs bedingt Heterogenität.

Die groben Hasslinien sind einerseits die Elbe, die Hamburg in einen Nordteil – „Hamburg“ - und einen Südteil – „Harburg“ teilt.

Andererseits gibt es die zentral gelegene riesige Außenalster, einen See von 164 Hektar Größe, der täglich von Myriaden Joggern auf 7,4 Kilometern Umfang-Länge umlaufen wird. Die Alster teilt Hamburg in eine West- und eine Osthälfte.

Die Rivalität von Ruder- oder Schachclub „links der Alster“ und „rechts der Alster“ ist legendär.

Geborene Hamburger bleiben in der Regel ihr Leben lang auf der angestammten Alsterseite und rümpfen die Nase über die Bewohner der falschen Seite.

Hamburg-Harburg wird verächtlich von den deutlich zahlreicheren nördlich der Elbe lebenden Hamburgern als „jenseits des Weißwurstäquators“  bezeichnet. Südlich der Elbe  beginnt nämlich schon Bayern.

Kein Hamburger, der etwas auf sich hält, zieht nach Harburg und umgekehrt halten Harburger die Hamburger für arrogant und bleiben lieber unter sich.

Ortsfremde, die sich in Hamburg eine Wohnung suchen müssen, gucken oft nach Hamburg-Harburg, sehen die gute Infrastruktur, die Nähe zur Innenstadt und finden ansprechende ruhig gelegene Wohnungen deutlich unter den Hamburger Durchschnittspreisen. Sie wundern sich, wieso man dort so viel günstiger leben kann, weil sie keine offensichtlichen Nachteile erkennen.

Aber sie wissen eben nicht, wie Alteingesessene denken: Man wohnt nicht in Harburg!

Die Bald-Zweimillionenstadt Hamburg gliedert sich in sieben Bezirke, 104 Stadtteile und 181 Ortsteile.

Der internationale bekannteste Stadtteil ist aus offensichtlichen Gründen St. Pauli; viele Nicht-Hamburger kennen auch Blankenese aus Film, Funk und Fernsehen.

Der eine ist der schmuddelige Rotlichtbezirk, der andere das offensichtliche Gegenteil: Schmucke Villen am Elbstrand.

 In Wirklichkeit ist Blankenese weit im Westen Hamburgs nicht so teuer wie einige Gegenden des ganz östlich gelegenen Wellingsbüttels. Der Walddörfer-Stadtteil am Alsterwanderweg ist weniger glamourös als Blankenese, aber dort sitzt das echte Geld und es gibt gewaltige Waldgrundstücke.

Im Durchschnitt zahlen die Hamburger direkt an der Außen- und Binnenalster die höchsten Mieten und Quadratmeterpreise. Je weiter weg vom Zentrum, desto günstiger – bis man wieder in den erwähnten Edelstadtteilen in Randlage ankommt.

Direkt um die Außenalster – das sind im Wesentlichen die Stadtteile St. Georg, Rotherbaum, Harvestehude, Winterhude und die Uhlenhorst – liegen die teuersten Quartiere. Auch diese Partialhamburger machen noch feine Unterschiede und wissen genau zu welchem Stadtteil sie gehören, bzw zu welchem sie nicht gehören wollen.

In dieser Liga spielen auch noch Eppendorf mit seinen enorm kostspieligen Altbau-Wohnungen, sowie die Hafencity.

Die Eppendorfer grenzen aber nicht direkt an die Außenalster und die Hafencity-Typen mag ohnehin niemand.

Der quirligste und diverseste der Alsterstadtteile ist St. Georg mit der radikal durchgentrifizierten Langen Reihe. Als ich studierte war es dort noch so schmuddelig und voller Huren und Stricher, daß man sich nicht traute aus dem Bus auszusteigen. Heute wohnen dort die Schickimickis und nur noch direkt am Hauptbahnhof sind letzte Schmuddel-Rudimente verblieben.

Rotherbaum fällt auch etwas aus dem Rahmen, weil dort die Universität liegt und sich massenhaft Studenten dort rumtreiben.

Die prächtigsten Häuser gibt es in Harvestehude und auf der Uhlenhorst, aber die beiden Edel-Stadtteile sind eher Wohngegenden. Auf dem gesamten Uhlenhorster Bereich zwischen Alsterufer und dem parallel laufenden Hofweg – immerhin etwa 700 m – gibt es kein einziges Geschäft, kein Restaurant, keinen Kiosk.

Da wohnen diejenigen, die es sich leisten können und bleiben unter sich.

Winterhude und Eppendorf sind viel gemischter. Wohnquartiere mit bombastischen Quadratmeterpreisen, aber gleichzeitig herrscht dort auch ein reges geschäftliches Treiben.

Es sind aber Geschäfte für Hamburger – viele exklusive Delikatessen-Läden, Kaviar-Bars, Restaurants, Bars, Bäcker, Boutiquen, Kioske, Gemüsehöker.

Aldi, Lidl und Kaufland sucht man dort vergeblich.

In Winterhude und Eppendorf gibt es allerdings im Gegensatz zu den teuersten Einkaufsstraßen an der Binnenalster, nicht die superexklusiven internationalen Player wie Armani, Wempe oder Cartier.

Das mag auf den ersten Blick verwundern, weil die Bewohner dort offensichtlich sehr wohlhabend sind; aber es fehlen die Touristen.

Die bleiben im Hafen und der Innenstadt; verirren sich nicht in die Einkaufsstraßen Mühlenkamp (Winterhude) oder Eppendorfer Baum.

Noch vor 30 Jahren als Student ging selbst ich regelmäßig in die Innenstadt an der Binnenalster einkaufen. Die Gegend war allerdings noch heterogener. Es gab auch mal einen Gemüseladen, oder Tödt, wo ich meine Kittel und Handschuhe für das Chemielabor kaufte.

Die Mieten dort sind allerdings kontinuierlich so extrem gestiegen, daß nur internationale Edelmode-Ketten, umsatzstarke Juweliere, Banken dort bleiben konnten. Nun handelt es sich um einen homogenen Millionär-Tummelplatz.

 Ole von Beusts katastrophale Entscheidungen elf historische Kontorhäuser an der Binnenalter platt zu machen und mit der Europapassage einen besonders extrem misslungen Superluxus-Einkaufstempel dort hinzusetzen, gab mir den Rest. Verdammte CDU.

Für normale Hamburger wurde die Innenstadt immer unerschwinglicher und uninteressanter. Wenig verwunderlich, daß nun die dort verbliebenen Warenhäuser schließen mussten. Es ist eine fatale Todesspirale. Zumal der Fahrrad-fanatische Grünen Verkehrssenator Anjes Tjarks dem Wahn verfallen ist den Innenstadtverkehr zum Erliegen zu bringen und ich mittlerweile gar nicht mehr dahin käme, selbst wenn ich wollte.

Ich liebe Hamburg, aber mit solchen Politikern sind wir geschlagen.

Die Gegend rund um den Winterhuder Hofweg ist seit vielen Jahren meine bevorzugte Einkaufsgegend geworden. Dort wimmelt es so vor Leben und den unterschiedlichsten kleinen Geschäften, daß man nie parken kann.

Dennoch fehlt der Gegen der Schnöselfaktor, den es am noch feineren Eppendorfer Baum gibt.

Wegen des verschärften Lockdowns ist der Hofweg gegenwärtig ein Trauerspiel. Die Lebensmittelläden, Apotheken und Drogerien sind offen, aber alles dazwischen ist verrammelt. Der Buchladen, die Kramläden, die Restaurants, Friseure, Antiquariate, die Floristen, Parfümerien, Cafés – alles tot.  Die verbliebenen Kunden gehen in gebührenden Abstand voneinander mit FFP2 maskiert zu Edeka Nimerszein oder Lindner oder zu den fantastischen  Backgeschwistern. Ich habe nur noch nicht ergründet, wieso sich am oberen Teil des Hofwegs regelmäßig einen 100 Meter lange Schlange vor ROYAL DONUT bildet. Es ist ein extremer Hype, den ich schon seit Monaten beobachte.

Immerhin, das erste mal seit Jahrzehnten kann man mit dem Auto hinfahren und bekommt einen Parkplatz vor der Tür.

Heute war ich zufällig in Eppendorf und fuhr extra zum schicken Eppendorfer Baum, weil dort „Speicherstadtkaffee“ ist und mein Kaffeebohnenvorrat zur Neige geht. Ich war mir nicht sicher, ob ein Kaffee-Laden unter Lockdown fällt.

Es ist erstaunlich; obwohl die beiden Einkaufsstraßen nur 5 Minuten (etwa zwei Kilometer) auseinanderliegen, bleibt man aber fast immer der einen treu.

Ich erwartete natürlich, daß es dort ähnlich ausgestorben wie am Mühlenkamp aussehen müsste.

Aber weit gefehlt: Ich kam in eine ganze andere Welt. Die Eppendorfer machen alle „Click And Collect“.

Man kann also telefonisch oder online irgendetwas bestellen und sich das dann vor dem Laden abholen.

So war es wohl gedacht. Der Ladeninhaber sitzt drinnen und gibt gelegentlich kontaktfrei eine Tüte aus der Ladentür.

Tatsächlich haben sich die Geschäfte des Eppendorfer Baums kurzerhand zu Kiosks umfunktioniert. Vor und hinter der Ladentür werden die Auslagen präsentiert und vor den Geschäften bilden sich Trauben von maskenlosen Kunden, die endlich wieder einmal ihrer Prasserites frönen.

Die Straße ist frequentiert wie eh und je, die Bügersteige voller Passanten mit ihren Einkaufstüten.

Ich habe keine Erklärung dafür.

Bisher nahm ich an, Hamburg wäre allgemein so gelockdownt wie am Mühlenkamp. Wieso wird das ein paar Straßen weiter schon ganz anders gehandhabt?

Wieso wird dort das rege Treiben geduldet? Weil die Menschen statt Bus und Klapprad eher Porsche und Mercedes fahren?
Weil sie unter dem Radar der Medienöffentlichkeit der luxuriösen Innenstadt agieren?