Samstag, 6. April 2024

Kinderlos, ehelos, gut so! - Teil II

Das verstand ich nicht und es ärgerte mich: Frau Sommer von nebenan warnte mich vor meiner besten Grundschulfreundin; „Dörte ist unehrlich!“

Es stimme überhaupt nicht, echauffierte ich mich als 7-Jähriger; Dörte lügt gar nicht.

Meine Oma klärte mich auf; erstens solle ich grundsätzlich nicht auf Frau Sommer hören und zweitens wäre „unehelich“ gemeint und nicht „unehrlich.“ Zwei Begriffe, die sich phonetisch kaum unterscheiden ließen und von denen einer völlig konstruiert und absurd wirkte.

Dörtes Vater hatte ich nie gesehen, aber da mein Vater auch nicht bei uns wohnte, erschien mir das völlig normal.

Das muss einem Kind erst einmal moralisch eingehämmert werden; es gab also unterschiedliche Bezeichnungen. Sie war ein uneheliches Kind und ich ein Scheidungskind. In der Tat schien es so, als ob bei den meisten anderen Kindern in meiner Klasse, der Vater stets bei ihnen zu Hause war. Mein Vater kam nur Sonntags und Dörtes Vater nie. Das war offenkundig der Unterschied zwischen „Scheidungskind“ und „Unehelichkind“. Aber was machte das schon; Dörte konnte ja auch Sonntags bei uns sein und meinen Vater mitbenutzen. Was sie auch gern tat.

Irgendwann belauschte ich meine Eltern, als er Sonntagabend nach Hause fuhr; er wünschte sich ein Wochenende nur mit seinen Kindern, Dörte sei so klebrig und rücke ihm immer auf die Pelle, man merke, daß ihr der Vater fehle.

Unehrlich und nun auch noch klebrig. Was hatten die bloß alle gegen meine Freundin? Sie war doch eindeutig besser und klüger, als mein Bruder.

Noch so etwas rätselhaft „Erwachsenes“.

Es gab zu meiner Kindheit weniger Scheidungskinder; heute sind es 120.000

[….] Die Anzahl der Ehescheidungen in Deutschland belief sich 2021 nach Angaben des Statistischen Bundesamtes auf 142.751. Die Ehedauer unterscheidet sich stark. Im Jahr 2021 betrug die durchschnittliche Ehedauer bis zur Scheidung rund 14,5 Jahre.

Im Jahr 2021 betrug die Scheidungsrate von Ehen in Deutschland rund 39,9 Prozent. Auf drei Eheschließung kamen damit rechnerisch ca. eine Scheidung. Die Scheidungsrate setzt die Zahl der Eheschließungen mit der Anzahl der Ehescheidungen im gleichen Betrachtungszeitraum in Relation. Die Scheidungsrate - auch als Scheidungsquote bezeichnet - gibt entsprechend keine Aussage über das „Scheidungsrisiko“ eines bestimmten Ehejahrgangs, da sich die Scheidungen nicht auf ein Eheschließungsjahr beziehen. Während in den 1950-er Jahren durchschnittlich rund 12 Eheschließungen eine Scheidung kamen, waren es im Jahr 2021 nur noch rund 2,51 Hochzeiten pro aufgelöste Ehe. Das durchschnittliche Alter der Männer bei der Scheidung lag 2021 bei 47 Jahren, während Frauen mit 43,9 Jahren etwas jünger waren.

Wie viele Scheidungskinder leben in Deutschland?

Die Gründe für diese weitreichende Entscheidung sind unterschiedlich: Von dem klassischen Auseinanderleben bis hin zu zum Kennenlernen von neuen Partner:innen, können sogar kleine Streitereien in einer Ehe zu einer Scheidung führen. Die Angst vor den finanziellen Folgen und vor allem die eigenen Kinder lassen viele den endgültigen Schlussstrich jedoch oft so lang es geht hinaus zögern. [….] Doch ebenso sind auch Kinder von Ehescheidungen betroffen: Mit einer Trennung der Eltern steht ein Kind oft auch vor der schweren Entscheidung bei welchem Elternteil es künftig wohnen wird und welches Elternteil dagegen in den meisten Fällen nur besucht werden kann. Etwa 73.500 und damit über die Hälfte aller Ehescheidungen im Jahr 2021 betrafen minderjährige Kinder. Im Jahr 2021 lebten in Deutschland 121.777 minderjährige Scheidungskinder.   [….]

(Statista, 22.02.2024)

Als Angela Merkel Kanzlerin wurde, stieg die deutsche Scheidungsrate auf einen Rekordwert und verharrte dort während der desaströsen schwarzgelben Herrschaft.

Die AfD möchte zurück in die Steinzeit und das vor 1977 geltende Schuldprinzip wieder einführern, welches eine einvernehmliche Scheidung unmöglich macht.

[….] Bis zur Reform des Ehe- und Familienrechts im Jahr 1977 herrschte im (west-)deutschen Eherecht für die Frau das Prinzip der sogenannten „Hausfrauenehe“. Der Gesetzgeber regelte bei der Entstehung des BGB im Jahr 1900 beispielsweise, dass deutsche Frauen erwerbstätig sein durften, allerdings nur wenn ihre Tätigkeit den Interessen des Ehegatten und der Familie entsprachen. Frauen hatten also Rechte, jedoch nur unter Zustimmung ihres Ehegatten und je nach Vereinbarkeit mit ihrer Rolle als Mutter und Hausfrau. Für viele Frauen bedeutete diese erhebliche Einschränkung eine lebenslange finanzielle Abhängigkeit von ihrem Ehegatten, die ein eigenes Leben nach einer Scheidung unmöglich machte. Lieber blieben sie unglücklich verheiratet als wirtschaftlich ruiniert.

Zudem galt im Scheidungsprozessverfahren vor 1977 bei der Ermittlung des Scheidungsgrundes das Schuldprinzip. Es wurde nach dem oder der Ehepartner:in gesucht, der oder die die Scheidung zu verschulden hatte. Die „schuldige“ Partei musste dann dem oder der Ehepartner:in und etwaigen gemeinsamen Kindern Unterhalt leisten. Dementsprechend entstanden Scheidungsverfahren, die eher einer Schlammschlacht als einem gerichtlichen Verfahren ähnelten. Es wurden die intimsten und unangenehmsten Details des Ehelebens enthüllten, vor allem auf Seiten der Frau, um festzustellen, wer nun die Schuld am Scheitern der Ehe trug. Selbst Fragen bezüglich der sexuellen „Befriedigung“ des Ehemannes waren erlaubt. [….] Seit nahezu 50 Jahren stehen Frauen unter dem Schutz des neuen Ehe- und Familienrechts von 1977. Seit 10 Jahren möchte die Partei Alternative für Deutschland (AfD) das rückgängig machen. Ein halbes Jahrzehnt lang konnte diese Gefahr für die gleichberechtigte Ehe- und Familiengemeinschaft ignoriert werden, doch in der letzten Bundestagswahl erzielte sie 10,3 Prozent und in der Umfrage zum „Sonntagstrend“ im Dezember 2023 schon 22 prozent. In den Bundesländern Brandenburg, Sachsen und Thüringen wurde in den Landtagswahlen des vergangenen Jahres selbst dieser Wert übertroffen  [….]

(Clara Walter 11.03.2024)

Der AfD-Mindset von heute ist deckungsgleich mit der CDUCSU-Position aus den 1970er, die erbittert das von der sozialliberalen Koalition geschaffene Scheidungsrecht bekämpfte.

[….] Zukünftig solle die wirtschaftliche Lage der Beteiligten nach Auflösung der Ehe entscheidender Maßstab sein, so der Justizminister. „Ehe- und familienbedingte Nachteile müssen unter sozialen Gesichtspunkten ausgeglichen werden.“ Neu ist auch der sogenannte Versorgungsausgleich, der beide Ehegatten an der während der Ehe erarbeiteten Altersversorgung gleichmäßig beteiligen soll. [….] In der abschließenden Beratung kritisierte die Opposition vor allem, dass sich durch das neue Scheidungsrecht die grundsätzlich auf Lebenszeit geschlossene Ehe zu einer Ehe auf Zeit entwickeln würde. Das Leitbild der auf lebenszeitliche Dauer angelegten Ehe müsse deshalb gesetzlich fixiert werden, forderte Dr. Paul Mikat für die Oppositionsfraktion. Für die CDU/CSU sei dies nicht nur eine deklaratorische Feststellung, sondern ein notwendiges Bekenntnis zu einer „Wertentscheidung unserer Verfassung“, erklärte er. [….] Der CDU-Abgeordnete Dr. Carl Otto Lenz wetterte: „Dieses Gesetz ist frauenfeindlich. Dieses Gesetz ist männerfeindlich. Dieses Gesetz ist familienfeindlich. Dieses Gesetz ist volksfeindlich. Deshalb darf es nicht in Kraft treten.“ Den Vorsitzenden des Rechtsausschusses empörte vor allem die erleichterte Form der Scheidung, nach der auch dem Ehegatten die Scheidung ermöglicht werde, der die Zerrüttung der Ehe selbst verschuldet hatte. Der für die Zerrüttung verantwortliche Partner könnte so den anderen Partner quasi verstoßen, lautete die Kritik.   [….]

(Deutscher Bundestag 2021)

Auch die Merz-CDU von heute möchte zurück in die 50er Jahre, lehnt eine Reform des zutiefst ungerechten und frauenfeindlichen Ehegattensplittings strikt ab.

Die Positionierungen von AfD, CDU und CSU hängen hauptsächlich damit zusammen, daß sie alle drei beschissene Kackparteien sind, die man nie nie niemals wählen sollte.

So wie eine niedrige Geburtenrate ausdrücklich zu begrüßen ist, kann kann man die Möglichkeit zur Scheidung nur begrüßen.

(…..)  Die „guten Zeiten“ von früher, als es noch nicht so viele Scheidungen und nicht so viele Alleinerziehende gab, standen vor allem deswegen für intakte Familien, weil Kinder und Frauen gar keine Alternativen hatten. Deren Vater suchte den Ehemann aus.  In den ersten Jahren der Bundesrepublik durften Frauen nur mit Erlaubnis des Vaters oder Ehemanns einen Beruf ergreifen oder ein Bankkonto eröffnen. Bis vor 25 Jahren durften Ehemänner ihre Frauen straflos vergewaltigen – und die überwältigende Mehrheit der CDU/CSU war auch noch 1996 dagegen die Regelung zu ändern.

Die Väter hatten – so steht es schließlich in der Bibel – die alleinige Gewalt, sollten sogar ihre Kinder durch Schläge misshandeln. Die Frau konnte schon allein deswegen keine Scheidung einreichen, weil die dann a) mittellos gewesen wäre, b) vermutlich ihre Kinder nicht mehr gesehen hätte und c) auch noch gesellschaftlich als Ehebrecherin geächtet worden wäre.

Eine hohe Scheidungsrate nenne ich einen Fortschritt; denn die Möglichkeit sich zu trennen, bedeutet im Umkehrschluss, daß ein Großteil der bestehenden Ehen auf Freiwilligkeit beruhen.

Absurderweise spricht man aber immer noch von „gescheiterter Ehe“ bei einer Scheidung. Dabei heißt Scheidung nur, daß eine Ehe beendet wird.

Aber eine Ehe, die irgendwann, womöglich nach Jahrzehnten des glücklichen Zusammenlebens, getrennt wird, kann höchst erfolgreich und für alle Beteiligten angenehm gewesen sein.

Meine Eltern ließen sich scheiden, bevor ich in die Grundschule kam, betonten aber beide bis an ihr Lebensende, es habe sich um die ganz große Liebe gehandelt. In der gemeinsamen Zeit trafen sie große Entscheidungen, lebten auf verschiedenen Kontinenten, zeugten Leben etc. Ich nenne das nicht „gescheitert“.

Ich spreche auch nicht gegen die Ehe an sich aus. Insofern ist es nicht mit der Kirche zu vergleichen, die ich durchaus grundsätzlich ablehne.

Aber ich wende mich gegen die unkritische und absurde Erhöhung der Ehe, die alles Nicht-eheliche als minderwertig, gescheitert oder bedauerlich ansieht.

Ich behaupte, daß viele Singles solidarischer netzwerken und für einander einstehen als Familien. Wer sich einen Partner wählt und Kinder bekommt, legt automatisch seine Beziehungsfokus in eine andere Richtung. Das ist weder gut noch schlecht, sondern liegt in der Natur der Sache. Natürlich müssen Kinder eine gewisse Priorität haben.

Aber in meiner Arbeit in Pflegeheimen sehe ich auch die Kehrseite. Die Bewohner, die keine eigenen Kinder haben, sind meistens besser mit ihrem Freundeskreis vernetzt, werden mehr umsorgt, während die mit Kindern oft nur dann von denen umsorgt werden, wenn diese keine eigenen Kinder haben und dadurch Zeit haben.

Sind erst einmal Enkel da, bleibt logischerweise weniger Zeit für die dementen Eltern im Heim. (….)

(Tabubrüche, 27.12.2020)