Dienstag, 25. Juli 2017

Auf dem Holzweg



In einer Demokratie ist es keine Option nicht zu wählen.
Man darf dabei allerdings nicht die absurde Vorstellung haben eine Partei richte sich zu 100% nach den persönlichen Meinungen.
Wenn wie in Deutschland 82 Millionen Einzelmeinungen in gerade mal zwei Dutzend Parteien auf unserem Bundestagswahlzettel einfließen, kann der Einzelwähler keine individuell auf ihn persönlich abgestimmte Programmatik erwarten.
Parteien wirken bei der Meinungsbildung im Volk mit. Das ist eine wechselseitige Beziehung. Parteivertreter versuchen einerseits das Volk von ihrem Programm zu überzeugen und andererseits finden Volkes Meinungen Eingang in Parteiprogramme.
Dabei sind Wähler und Parteien als die beiden Entscheider in einer Demokratie nicht die einzigen Player. Beide Seiten werden mit enormem Aufwand von Lobbyisten aller Art, Journalisten und Kirchen umgarnt.

Diese kontinuierliche Einflussnahme in beide Richtungen kann zu vernünftigen Resultaten führen. So will beispielsweise auch die CDU aus der Atomkraft aussteigen, kriminalisiert Schwule nicht mehr und lehnt nun auch mehrheitlich die Straffreiheit von Vergewaltigung in der Ehe ab.
In all diesen Fällen waren „die Menschen da draußen“ fortschrittlicher und vernünftiger als die Partei, die sich letztendlich anpassen mußte.

Es kann auch umgekehrt sein. So wurde ein Umweltbewußtsein erst durch eine Partei mit drastischer Programmatik in das Volk übertragen.
Mülltrennung, Pfandflaschen, FCKW-Verbot in Haarsprayflaschen, Katalysatorenzwang für Autos, Ökostromvorgaben, Ächten von Plastikverpackungen erschien den Bürgern zunächst als staatliche Bevormundung. Konservative lehnte all das als wirtschaftsschädlich ab.
Inzwischen sind umweltschützende Maßnahmen breit akzeptiert.
CSU-Wähler und Linke-Fans würden es vermutlich gleichermaßen verdammen, wenn ich Plastiktüten in den Wald werfe.

Manchmal verweigern sich alle Parteien unisono vernünftigen Ansichten der Bevölkerung, weil sie unter besonders extremen Einfluss der Kirchen stehen.
Dafür stehen die Themen Patientenverfügung, Sterbehilfe, assistierter Suizid.
Gewaltige Mehrheiten von weit über 80% der Bevölkerung lehnen die letzten diesbezüglichen Gesetzesverschärfungen ab und sprechen sich für ein selbstbestimmtes Sterben aus.

In anderen Fällen übernehmen Parteien wider besseres Wissen eine völlig unvernünftige Mehrheitsmeinung des Volkes. Das ist beim Tabu des Autobahntempolimits der Fall. Rasen ist umweltschädlich und führt zu weit mehr Verletzten und Toten. Daher gibt es auch in jedem Land der Erde ein Autobahntempolimit. Außer in Deutschland, weil sich der hiesige Michl irrationalerweise über sein Recht aufs Todesrasen definiert.
Daher traut sich keine große Partei ein allgemeines Tempolimit zu fordern.

Da die Beeinflussungen kontinuierlich und dynamisch sind, sollte man möglichst viel partizipieren.

Das bedeutet bei einer Wahl das kleinste Übel auszusuchen.
Wenn zwei Dutzend Parteien antreten, kann es rechnerisch dazu führen, daß ein Kandidat, mit dem man zu 10% programmatisch übereinstimmt und den man zu 90% inhaltlich ablehnt, bereits das kleinste Übel ist, das man also auch wählen muss, wenn man mit dessen Konkurrenten noch etwas geringere Schnittmengen hat.
In dem Fall beeinflusst man als Wähler den politischen Prozess mit der Stimme für jemand, den man zu 90% ablehnt immer noch in die eigene Richtung.

Besser, sinnvoller und direkter geht die Beeinflussung einer Partei über eine Mitgliedschaft, die ich immer wieder nachdrücklich jedem empfehle.
Anders als bei einer einmaligen Wahlentscheidung reicht aber für eine Parteimitgliedschaft keine 10%-Übereinstimmung, weil man als Mitglied auch seine gesamte Partei stärkt, indem man sie über den Mitgliedsbeitrag finanziell unterstützt und weil Parteien natürlich auch mit ihrer Mitgliederzahl werben.

Um einer Partei beizutreten, sollte man mit 51% der Programmpunkte übereinstimmen.

Die Quote schaffe ich bei der SPD locker.

Allerdings sind bei potentiell bis zu 49% Ablehnung auch erhebliche Spielräume, um sich die Haare zu raufen, wenn man die eigene Partei betrachtet.

Ich werbe für die SPD, aber bin nicht parteiblind. Manchmal gefallen mir die Positionen von Linken oder Grünen besser, gelegentlich lehne ich einzelne Partei-Spitzenvertreter oder bestimmte Pläne so massiv ab, daß ich mich in diesem Blog fürchterlich aufrege. Herr Gabriel, Herr Thierse, Frau Nahles, Herr Oppermann, Frau Griese, die Thüringer, die Berliner Genossen haben immer wieder meinen verbalen Zorn zu spüren bekommen.

Rein zufällig bin ich von der Hamburger SPD verwöhnt.
Nicht nur ist der Hamburger Landesverband derjenige, der mit Abstand die besten Wahlergebnisse vorweist, sondern ich halte Olaf Scholz auch für einen ausgesprochen guten Verwalter.
Hinzu kommt, daß mir seine unprätentiöse, gelassene und seriöse Persönlichkeit ausgesprochen gut gefällt.
Was für ein Luxus nach den vielen Jahren CDU-Beust einen Bürgermeister zu haben, der nicht nur von der eigenen Partei stammt, sondern den man wirklich gern unterstützt.

Meine Übereinstimmung mit der Scholz-SPD Hamburgs liegt sehr viel höher als 51%. So ein Glück.

In diesem Fall schmerzt es besonders, wenn sich die Heimat-Genossen im G20-Nachspiel so verrennen, daß man sie kaum noch verteidigen kann.

Ich bin geneigt Scholz Kredit zu geben, weil er in einer NoWin-Situation steckte.

(…..) Es ist offensichtlich, daß sich Scholz heftig vergaloppiert hat.
Aber immerhin war es nun mal Angela Merkel, die den Gipfel unbedingt in Hamburg abhalten wollte. Als Bürgermeister der so geehrten und ausgekorenen Stadt zu sagen "Nö, da haben wir keinen Bock drauf" wäre ebenfalls eine sehr schlechte Option gewesen.
Dann wären CDU und FDP über ihn hergefallen und im Wahlkampf hätte man sich ewig anhören müssen, daß der SPD sicherheitstechnisch nicht zu trauen sei, daß sie sich vor dem linken Mob kapituliere.
Und hätte ein CDU-Bürgermeister Trepoll etwa zu seiner Kanzlerin und Parteichefin gesagt „such dir gefälligst eine andere Stadt für deine Gipfel-Show?“

A posteriori meine ich schon, daß Scholz besser "Nein" gesagt hätte, aber an ihm hätte dann erst recht das Loser-Image geklebt. Es war eine no-win-Situation.
Gegen die Guerilla-Taktik der organisierten G20-Protestierer, die mal in schwarz Pflastersteine werfen, dann blitzschnell umgezogen sich in bunt unter friedliche Demonstranten mischen gibt es in einer 1,9 Millionen-Stadt auf 756 km2 ohnehin keine Polizeitaktik, die funktioniert – solange man sich in einem demokratischen Rechtsstaat befindet und nicht wie in China oder Saudi Arabien vorgehen kann. (….)

Ich verstehe außerdem, daß man als oberster Dienstherr der Polizei, der mit für den Einsatz, den die Polizei nicht freiwillig machte, verantwortlich ist, ungern mit dem Finger auf „die Polizei“ zeigt.
Es ist ehrenvoll, wenn sich Scholz vor die Polizei stellt, der er den G20 eingebrockt hat.
Ich nehme an, der Bürgermeister wollte klarstellen, daß die Polizei nicht insgesamt gewalttätig war, daß man nicht der Polizei generell Gewalt unterstellen dürfe. Das ist auch richtig.
Scholz drückte sich aber unter dem Druck der Medien und der Konservativen etwas zu deutlich aus.

[….] Scholz verteidigte erneut die Arbeit der Polizei rund um den G20-Gipfel. Auf die Fragen, ob die Einsatzkräfte zu hart vorgegangen seien und ob es Anzeichen für Polizeigewalt gebe, sagte er: "Polizeigewalt hat es nicht gegeben, das ist eine Denunziation, die ich entschieden zurückweise." Auch bei Demonstrationen mit überwiegend friedlichen Teilnehmern hatte die Polizei teilweise Pfefferspray und Wasserwerfer eingesetzt.
"Ich will ausdrücklich sagen: Es gab sehr besonnene, sehr mutige, sehr schwierige Einsätze der Polizei. Und die Polizei hat wirklich alles getan, was möglich gewesen ist", so der Bürgermeister. [….]

So formuliert klingt es wie: „kein einziger der 21.000 Beamten wendete unangemessene Gewalt an“.
Das ist Unsinn, den der hochintelligente Scholz aus mir nicht bekannten Gründen nicht klar stellt.

Es mögen sich 99% der Polizisten korrekt verhalten haben, aber dennoch gab es einige (wie viele weiß ich nicht) Fälle von Polizeigewalt.
Es ist müßig darüber zu diskutieren, weil das auf Video festgehalten wurde.
Man kann das beispielsweise im YouTube-Kanal von „Unicorn Riot“ ansehen, aber auch die ARD zeigte unter anderem in der letzten PANORAMA-Sendung diese Bilder.


Anja Reschkes Sendung war, wie meistens, die beste und Lehrreichste zum Thema G20. Wer es noch nicht gesehen hat, möge sich die gesamten 29 Minuten ansehen.

Unterdessen beginnt sogar der rechts-bürgerliche CICERO-Chef die Hamburger Genossen zu bedauern.

[….]  Der rechtschaffene Prügelknabe
Nach den Randalen in Hamburg um den G20-Gipfel beginnt bei den Parteien das Spiel um die politische Verantwortung. Dabei zeigt sich ein Muster: Die SPD geht der CDU immer wieder auf den Leim. Den Sozialdemokraten fehlt dabei eine nicht sympathische, aber erfolgreiche Eigenschaft
Die SPD ist eine Partei, der man vieles anlasten kann, mit der man inhaltlich in vielen Punkten überkreuz liegen kann. Aber eines muss man ihr lassen. Sie ist eine Partei, die es sich nie leicht macht. Die es im Zweifel sogar lieber sich selbst als anderen schwer macht. Sie ist eine im Kern liebenswert (oder auch bedauernswert) rechtschaffene Partei. Sie ist keine ruchlose Partei. Sie ist oft zu gut für diese Welt. Wahrscheinlich ist das zwangsläufig so, wenn man Gerechtigkeit zu seinem obersten Grundwert erklärt. [….]

Offensichtlich ahnt die Hamburger SPD, daß etwas gründlich schief gelaufen ist, daß der G20 noch a posteriori für ganz ganz schlechte Stimmung in der Stadt sorgt.

Statt aber zuzugeben, daß man einiges falsch einschätzte, bleiben sie bockig auf ihrem Rechtfertigungskurs.
Die Hamburger Genossen werden nun von der Partei mit Rechtfertigungsstanzen versorgt…..

Wenn man in einem Loch sitzt, sollte man nicht weiter graben, sagte schon Rumsfeld.

[…..] Die Ham­bur­ger SPD hat ih­ren Mit­glie­dern ei­nen Ka­ta­log mit zwölf „Fra­gen und Ant­wor­ten zum G-20-Gip­fel in Ham­burg“ ge­mailt. Er soll den Ge­nos­sin­nen und Ge­nos­sen hel­fen, kri­ti­sche Fra­gen von Mit­bür­gern zur Si­cher­heits­la­ge wäh­rend des Gip­fels zu be­ant­wor­ten. Ob dies mit dem zwi­schen Pein­lich­keit und Pro­pa­gan­da os­zil­lie­ren­den Fünf-Sei­ten-Pa­pier ge­lingt, darf be­zwei­felt wer­den. Die Fra­ge „Hat sich der G-20-Gip­fel in­halt­lich ge­lohnt?“ be­ant­wor­ten die Ver­fas­ser so: „Das Fa­zit ist ge­mischt.“ Als größ­ten Er­folg wer­ten sie „die Waf­fen­ru­he in Sy­ri­en“, die auf dem Gip­fel bloß ver­kün­det, nicht aber be­han­delt wor­den war. Zum G-20-Rah­men­be­fehl der Ham­bur­ger Po­li­zei, in dem es heißt, „der Schutz und die Si­cher­heit der Gäs­te ha­ben höchs­te Prio­ri­tät“ (SPIEGEL 29/2017), und der un­wah­ren Aus­sa­ge des Ers­ten Bür­ger­meis­ters Olaf Scholz (SPD), es habe kei­ne Prio­ri­sie­rung ge­ge­ben, fin­den sich nur Ant­wort­stan­zen. Ei­gent­lich, so die Au­to­ren, habe die Po­li­zei „zu je­der Zeit“ alle schüt­zen wol­len. „Das hat in den meis­ten Si­tua­tio­nen sehr gut funk­tio­niert“, heißt es dort, of­fen­bar mit ei­ni­gem Rea­li­täts­ver­lust. „Lei­der“ habe es „bei ei­ni­gen An­grif­fen et­was län­ger ge­dau­ert, bis die Po­li­zei vor Ort war“. [….]
(Der Spiegel, 30/2017, s.21)

Zum Mitschämen.

Aber was soll’s? Ich liege immer noch bei über 51%.
Besser als die anderen Hamburger Parteien ist die SPD immer.