Donnerstag, 13. Mai 2021

Wenn die Wirklichkeit irrelevant wird.

Man hat sich daran gewöhnt, ist kaum noch zu überraschen, aber man sollte durchaus schockiert sein, wenn eine Lügen-Ideologie wie der Trumpismus so deutlich von der Realität widerlegt wird und dennoch von Millionen Anhängern gefeiert wird.

Ob die Propheten des Trumpismus bewußt lügen, oder den hanebüchenen Unsinn, den sie behaupten selbst glauben, ist kaum zu unterscheiden und für den Erfolg der Ideologie irrelevant.

Die Kollisionen mit der Wirklichkeit können noch so brutal entlarvt werden, ohne daß die Jünger zu zweifeln beginnen.

Nahezu alle Kernaussagen der Bibel wurden inzwischen widerlegt. All das wofür die Kirche über viele Jahrhunderte Menschen tötete, stellte sich aus Unsinn heraus. Die Erde ist rund, die Sonne steht im Zentrum des Sonnensystems, Sklaverei und Antisemitismus sind falsch, Frauen sind gleichberechtigt, Linkshänder sind nicht vom Teufel besessen, man schlägt keine Kinder, das Dezimalsystem mit seiner Null ist nicht der Untergang der Welt, Männer dürfen Männer heiraten, der Eintritt ins Himmelreich lässt sich nicht erkaufen.


Gläubige Christen stören sich aber nicht daran einer Lügenideologie anzugehören.

 In meiner Jugend ging ich gegen Atomkraftwerke auf die Straße. Eine Partei, die womöglich die nächste Bundeskanzlerin stellt, entstand aus der Anti-AKW-Bewegung. Zwei Generationen von Politikern und Wirtschaftsbossen hatten uns „Kernkraft ist sicher!“ weißmachen wollen. Ich hab das nie geglaubt, weil ich ein naturwissenschaftliches Studium hinter mir habe und viel zu lange in Nuklearchemie-Seminaren und Atomphysikvorlesungen saß.  Aber auch ohne derartiges Fachwissen, stellte sich die Behauptung von der sicheren Atomkraft völlig klar als Lüge heraus.

1957 brennt der britische Kernreaktor in Windscale; radioaktive Wolken werden bis auf das europäische Festland geweht. Anschließend wird der Ort in „Sellafield“ umbenannt.

1979 kommt es im Atomkraftwerk Three Mile Island im US-Bundesstaat Pennsylvania zu einer teilweisen Kernschmelze. 140.000 Menschen werden evakuiert.

1979 werden durch eine geheime Atomanlage im US-Bundesstaat Tennessee mehr als 1000 Menschen mit Uran verstrahlt.

1981 tritt viermal Radioaktivität aus dem Japanischen Atomkraftwerk Tsuruga aus und verstrahlt 278 Menschen.

1986 der Super-GAU von Tschernobyl verstrahlt Hunderttausende Menschen, macht weite Teile der Ukraine, Weißrusslands und Russlands unbewohnbar.

1993 explodiert die geheime Wiederaufbereitungsanlage Tomsk-7 in Westsibirien.

1995 schwerer Unfall beim Abbau von Brennmaterialien in Tschernobyl.

1997 Brand und Explosion japanischen Aufbereitungsanlage Tokaimura bei Tokio

1997 erneuter Super-GAU in Tokaimura durch viel zu viel Uran im Fülltank. 320.000 Menschen müssen evakuiert werden. Hunderte werden verstrahlt.

2004 werden vier Arbeiter in der Atomanlage in Mihama westlich von Tokio durch eine Wasserdampfverpuffung eines Reaktors getötet, sieben weitere erleiden schwerste Verletzungen.

2011 löste ein Tsunami mehrere Kernschmelzen im japanischen Kernkraftwerk Fukushima Daiichi eine Naturkatastrophe aus.  

2021 arbeiten Atomfans an einem AKW-Revival.

[…..] Es gibt nur ein deutsches Tabu: die Nutzung der Kernenergie, um das Klima zu retten.   […..] Bei allem Respekt vor der politischen Befriedung des Atomstreits: Das ist »Cancel Culture« at its best.  Zu konstatieren ist eine polit-gesellschaftliche Verscheuklappung, die alle Logik blockiert, die Regeln von Kosten-Nutzen-Analysen ignoriert und am Ende auch das Wesen von Politik selbst. […..] Aber warum ist die Atomkraft nicht einmal ansatzweise Gegenstand einer solchen Abwägung? Für die Grünen, aber nicht nur für sie, ist sie eine »Risikotechnologie«, und so kann man das natürlich sehen. Ich fürchte nur, dass die Rettung des Planeten, das Jahrhundertprojekt der Menschheit, nicht mehr ganz ohne Risiko zu haben sein wird. […..] Längere Laufzeiten könnten den noch einmal wachsenden Kostendruck beim Übergang zu rein erneuerbaren Energien mildern. […..] Wer heute mit jährlich Hunderttausenden Klimatoten oder Millionen Klimaflüchtlingen argumentiert, der muss einen zweiten Blick auf die tödlichen Risiken der Atomkraft wagen – und wie oft (oder selten) sie bislang Realität wurden. [….]

(Nikolaus Blome, SPIEGEL, 10.05.2021)

Herr Blome ist auch FDP-Fan. Dabei handelt es sich um die Partei, die nicht nur die simpelste Programmatik vertritt – Steuersenkungen, Deregulierung, weniger Staat, alle Freiheiten den Unternehmern – sondern auch noch um die Truppe, deren Ideologie nach dem Weltfinanz-Zusammenbruch von 2008/2009 nun durch die Corona-Pandemie von 2020/21 erneut total ad absurdum geführt wird.

Ein „schlanker Staat“ ist höchstgefährlich; wieder einmal braucht es den starken Staat und viele Regelungen, um die debakulierenden Unternehmer zu retten.

Die schwarze Null ist genauso unsinnig wie der Neoliberalismus.   Die USA verschulden sich mit mehreren Trillionen Dollar für ein gewaltiges Sozial- und Sozialprogramm; erleben dadurch enorme Fortschritte bei der Pandemiebekämpfung und der Wiederankurbelung der Wirtschaft.  Hubertus Heil hat durch staatliche und sehr teure Kurzarbeiterregelungen mehr als zwei Millionen Arbeitsplätze in Deutschland gerettet.

[…..] Wirtschaftsliberale Politiker versprachen unter dem Slogan "schlanker Staat" einst Wohlstand für alle zu geringeren Kosten. Nur funktioniert hat es nicht, im Gegenteil: Corona hat die Mängel dieser Philosophie schonungslos aufgedeckt. […..] Der schlanke Staat, das war ein Gebilde, das keiner Erläuterung bedurfte, das sein Versprechen von freien Märkten, niedrigen Steuern und den Segnungen des Finanzkapitalismus schon im Namen trug. Der Staat löse keine Probleme, er sei das Problem, erklärte US-Präsident Ronald Reagan, einer der Urheber des Konzepts. […..] Zweieinhalb Jahrzehnte, eine Bankenkrise und eine Pandemie später ist big government zurück. Überall auf der Welt nehmen die Regierungen Milliarden in die Hand, um Impfkampagnen zu finanzieren und Arbeitsplätze zu sichern - nicht, weil sich der Zeitgeist erneut gedreht hätte, sondern weil die Umstände den Paradigmenwechsel erzwingen: Niemand anderes als der Staat erweist sich in der Krise als handlungsfähig, niemand sonst verfügt über die finanziellen Ressourcen und die nötige Risikobereitschaft, nicht die Unternehmen, nicht die Banken und schon gar nicht die Finanzmärkte, die fernab jeder gesellschaftlichen Verantwortung weiter ihr wundersames Spiel treiben. […..] Dabei geht die Kehrtwende mit großen Schmerzen einher, die zeigen, wie sehr sich der "schlanke Staat" vielerorts zum schlappen Staat entwickelt hatte. Zum tönernen Riesen, der es zu Beginn der Pandemie nicht einmal schaffte, die Bürger mit Vliesmasken und Ärzte mit Schutzkleidung auszustatten, weil man auch bei der Produktion strategisch wichtiger Güter dem freien Spiel von Angebot und Nachfrage vertraut hatte. […..]

(Claus Hulverscheidt, SZ, 13.05.2021)

Und wie steht FDP-Chef Christian Lindner nun da, nachdem seine gesamte Ideologie zweifach von der schnöden Realität als gewaltiger Unsinn entlarvt wurde. Geht er nun in Sack und Asche, schämt sich, schwört seinen sozialdarwinistischen Lehren ab?

Nein, im Gegenteil. Er ist genau wie die Trumpisten, Religioten und Atomfans immun gegenüber der Wirklichkeit, predigt weiter seine falschen Thesen.   Zu allem Übel ist er damit erfolgreicher, denn je.   Die FDP, die lange an der 5%-Grenze knabberte, steht in allen Umfragen rund um die 12% und kann vor Kraft kaum laufen.

Es ist wie bei Homöopathie-Fans, Impfgegner, Flatearthern oder Chemtrail-Gläubigen; man kann ihre noch so gründlich mit Fakten und Wissenschaft widerlegen, sie bleiben auf ihrem Kurs in die Irre.

[….] Das strategische Ziel der FDP ist es, eine schwarz-grüne oder grün-rot-rote Mehrheit zu verhindern - um dann für eine Jamaika-Koalition oder gar eine Ampel-Konstellation mit Grünen und SPD gefragt zu sein. Das klingt selbstbewusst, wird aber durchaus gestützt durch die Umfragen. Die FDP hat sich oberhalb der Zehn-Prozent-Marke stabilisiert, mit Tendenz nach oben. […..] Auf den ersten Blick ist die Ausgangslage von Parteichef Christian Lindner also komfortabel. Wurde die FDP noch vor wenig mehr als einem Jahr von Selbstzweifeln geplagt, ist die vorherrschende Stimmung mittlerweile gut gelaunter Optimismus. Mit ihrer zumindest bei potenziellen Wählern erfolgreichen regierungskritischen Linie in der Corona-Pandemie ist es der FDP gelungen, fast alles vergessen zu machen, was sich vorher zu einer bedrohlichen Krise summiert hatte: der Ärger eines Teils der Wähler über das Jamaika-Aus, die Wahl des FDP-Politikers Thomas Kemmerich mit Stimmen der AfD zum Thüringer Ministerpräsidenten und ein Parteichef, der mitunter Schwierigkeiten zu haben schien, den richtigen Ton zu treffen. [….]

(Daniel Brössler, 13.05.2021)

Würde die Demokratie ideal funktionieren, gäbe es nur interessierte, informierte und rational entscheidende Wähler.

Dann käme die FDP aber niemals über 5%.