Sonntag, 27. Juni 2021

Der politische Schmerz

Vielleicht spielt das Gehirn uns einen Streich, vielleicht schützt es uns: Man vergisst Schmerzen.

Wenn zum Beispiel die Weisheitszähne unglücklich in den Kiefer gewachsen sind, man zwei Stück auf der einen Seite von einem Kieferorthopäden rausmeißeln läßt, anschließend in brutaler Pein darniederliegt, schwört man, es nicht noch mal zu tun, die beiden Weisheitszähne auf der anderen Seite nicht anzurühren.

Nach ein paar Monaten aber, weiß man zwar noch rational, wie schlimm die Schmerzen waren, kann aber das Gefühl nicht mehr in seiner ganzen Dimension nachempfinden.

Erst, wenn man, entgegen den vorherigen Schwüren, doch Zahn Nr. Drei und Vier ausgraben lassen hat, weiß man wieder: Verdammt, das tut weh!

Donald Trump ist ein kontinuierlicher brutaler politischer Schmerz in vielen Dimensionen: Da ist dieser schreckliche Mensch an sich; seine groteske Optik, die widerlich obszöne Sprache, dieses permanente Lügen, das enorme Unwissen, seine Borniertheit.

Da ist aber auch das Entsetzen über 75 Millionen US-Amerikaner, die ihn lieben, als ihren Kult-Leader bedingungslos unterstützen, ausgerechnet seine angebliche „Ehrlichkeit“ lobpreisen.

Ein weiterer enorm schmerzhafter Aspekt ist die Erkenntnis des Totalversagens großer Teile der US-Medien, die so eine groteske rassistische Type als ihren Messias hervorbringen.

Und wie kann ein Bildungssystem, welches so viel Spitzenforschung und Nobelpreisträger hervorbringt, zig Millionen mal so katastrophal versagen, daß absurde Verschwörungstheorien geglaubt werden?

Der Verlust einer gesamten Großpartei ist zu beklagen; die Republikaner haben alle Werte, alle moralischen Maßstäbe aufgegeben und konzentrieren sich nur noch auf zwei Dinge: Alle Nicht-Trumpisten zu vernichten und ihrem Anführer zu huldigen. Schließlich gehört zum Trump-Schmerzsyndrom das Wissen um die reale Gefahr, wenn man so einen zutiefst verblödeten, destruktiven Psychopathen mit der Machtfülle eines US-Präsidenten ausstattet.

Jedes Jahr richtete er mit seinen katastrophalen Entscheidungen schweren Schaden für die USA an.

Aber selbst dieses Schreckenskonglomerat gerät ein wenig in Vergessenheit, während Joe Biden in Washington regiert, der irre Orange nicht mehr die täglichen Nachrichten dominiert und glücklicherweise sein Social Media-Bann aufrecht erhalten wird.

Dabei werden immer noch abenteuerliche Trump-Episoden enthüllt, die uns verdeutlichen, welche enorme Gefahr der Mann in Oval Office bedeutete.

Vieles ist lange öffentlich bekannt, weil Trump selbst damit prahlte.  Er überlegte Hurrikans mit Atombomben aufzuhalten, bestach die Regierung in Kiew, um gegen Joe Biden vorzugehen, steckte Kinder in Käfige und empfahl die Injektion von Bleichmitteln als Covid-Kur.    Von manchem hanebüchenen Plan konnten ihn seine Mitarbeiter abbringen.   So hatte der Wahnsinnige sich ausgedacht, möglicherweise mit Corona infizierte Amerikaner nach Guantanamo auszufliegen.

Dabei hätten wir im Oktober 2020 fast das Glück gehabt, den gefährlichsten Menschen der Welt loszuwerden.

[…..] Anfang Oktober 2020 machte der ehemalige US-Präsident Donald Trump Schlagzeilen, weil er sich mit dem Coronavirus infiziert hatte. Nach einem dreitägigen Krankenhausaufenthalt schleppte sich Trump die Treppen des Weißen Hauses hinauf. Mit einem Lächeln und zwei Daumen nach oben signalisierte Trump: Coronavirus? Ungefährlich. Dabei war er viel kränker als nach außen kommuniziert. [….]

(FR, 27.06.2021)

In den folgenden Monaten wurde insbesondere mit dem Putschversuch, dem blutigen Sturm auf das Kapitol und die Weigerung fast der gesamten Republikanischen Partei gegen die mörderischen Verfassungsfeinde vorzugehen, jede Hoffnung auf eine Normalisierung des politischen Systems vernichtet.

Trump schmollte zunächst in Mar A Lago, hat aber seine Partei noch fester im Griff als man stets befürchtete.

Die Treue der Senatoren und Abgeordneten zu ihm war so groß, daß sie skrupellos jedes seiner Verbrechen, jede Lüge deckten. Man erklärte sich das mit seinem enorm mächtigen und einflussreichen Amt. Als US-Präsident konnte seine Rache gegenüber Renegaten fürchterlich sein.

Nach Joe Bidens Amtsübernahme ist Trumps administrative Macht futsch. Er ist kein Oberbefehlshaber mehr, verfügt über keine außenpolitische Bedeutung, kann weder Pöstchen beschaffen, noch Getreue für besondere Ämter ernennen. Er kann nicht begnadigen und auch keine Executive Orders mehr schreiben.

Umso unheimlicher, daß sämtliche Top-GOPer dennoch nach Mar A Lago pilgern, um ihrem Messias die Füße zu küssen.   Dabei erscheint Trump bei seinen wenigen öffentlichen Auftritten immer offensichtlicher debil und gestört.

Seine Macht über seine 75 Millionen verschwörungstheoretischen Jünger ist immer noch so groß, daß er jeden abtrünnigen GOPer politisch töten kann.

So ergeht es gerade dem Kongressabgeordneten Anthony Gonzalez aus Ohio, der es gewagt hatte als einer von gerade mal zehn Republikanern für ein zweites Amtsenthebungsverfahren zu stimmen.

So erschien Trump gestern genau in dem Wahlkreis, um für den parteiinternen Gegenkandidaten Max Miller, einen ihm zu 100% Ergebenen, zu trommeln.   Gonzales wird aus dem Kongress fliegen.

[…..] Seine eineinhalbstündige Rede lässt sich schnell zusammenfassen. Die neue Biden-Regierung sei eine "Katastrophe", sagte er. Und die Wahl 2020 das größte Verbrechen in der US-Geschichte. Wieder und wieder behauptet er, er sei es, der die Wahl gewonnen habe. Ein von ihm selbst ins Leben gerufener Verschwörungsmythos. Aber das tut hier nichts zur Sache. Seine Fans glauben ihm jedes Wort. […..]

(Thorsten Denkler, SZ, 27.06.2021)

Trump ist alles andere als Geschichte.

Er ist wieder da. Man erinnert sich, wie schlimm er ist.

Der Schmerz ist wieder da.

Trumps Jünger sind infiziert und gefährlicher denn je.