Sonntag, 2. August 2020

Neoliberalismus kaputt


Der 1971 in Bonn geborene Professor für Makroökonomie an der Humboldt-Universität zu Berlin Marcel Fratzscher ist seit über sieben Jahren Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW).
Das 1925 gegründete Berliner DIW ist mit weit über 300 Mitarbeitern heute die größte deutsche ökonomische Forschungsinstitution und sicherlich der sozialistischen oder sozialdemokratischen Umtriebe unverdächtig.

Mit großer Genugtuung bedienen sich FDPler, Arbeitgebervereine, Industrielobbyisten, FriedrichMerze seit Jahrzehnten der DIW-Analysen.

Umso entsetzter verfielen Christian Linder und Co in Schnappatmung angesichts der Fratzscher-Auftritte in den letzten Monaten.
Der politisch neutrale Forscher diagnostiziert zunehmend Zustände, die der rosaroten Welt der Markt-Gläubigen die Luft ablassen.

[…..] Der Kampf gegen die wirtschaftlichen Folgen des Corona-Schocks zeigt nach Ansicht des Ökonomen Marcel Fratzscher die Stärke der Politik und die Gefahren reiner Marktgläubigkeit. Wenn sich Gesellschaften nur auf den freien Wettbewerb verließen, würden die Risiken derzeit überdeutlich, sagte der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin der Deutschen Presse-Agentur: „Ich würde schon sagen, dass die Corona-Krise so etwas wie der letzte Sargnagel für den Neoliberalismus ist.“ Hilfen für Arbeitnehmer, Unternehmen, Kliniken oder Schulen seien in der aktuellen Lage ohne Alternative.
„Nun sehen wir: Der Staat ist die letzte Instanz, wenn es darauf ankommt“, sagte Fratzscher. „Der Markt kann in entscheidenden Bereichen nicht mehr allein funktionieren.“ Die Finanzkrise 2008/2009 habe dies angedeutet, ebenso die Migrations- und die Klimakrise. Covid-19 mache die Kritik am schwerfälligen, bürokratischen Staat nun ziemlich unglaubwürdig.
„Die Bundesregierung hat über eine Billion Euro an Garantien und direkten Hilfen mobilisiert“, betonte der DIW-Chef. „Das ist ein Signal, das uns allen bewusst machen sollte: Ein starker, effizienter, gut funktionierender Staat ist absolut essenziell.“ Das gelte auch fürs Gesundheitswesen, das nicht primär Gewinninteressen unterworfen sein dürfe.
„Beim Blick in die USA, wo viele Menschen auf sich allein gestellt sind, wird einem klar, wie wichtig staatliche Institutionen jetzt sind.“ [….]

Nach dem weltweiten Jahrhundertversagen der Marktwirtschaft von 2008, als sich insbesondere in Deutschland das Prinzip „Gewinne privatisieren, Verluste sozialisieren“ etablierte, konnte die Steuersenkungen-Steuersenkungen-Steuersenkungen-Westerwelle-FDP noch ein Rekordergebnis von fast 15% bei der Bundestagswahl 2009 einfahren, um dann auch sofort Milliardengeschenke an ihre reichen Spender der Versicherungs- und Hotel- und Pharmabranche zu verteilen.
Während die Steuerzahler also finanziell für die astronomischen Verluste der Lindnerigen Finanzspekulanten geradestanden, kamen die Superreichen, die diese toxische Krise angerichtet hatten dank ihrer weltweiten politischen Protektion ungeschoren davon.
Der deutsche Urnenpöbel setzt auf Schwarz/Gelb. Schluss mit Sozialstaat und freie Fahrt für die Wirtschaft.
Millionenschwere Heuschrecken wie Friedrich Merz, der allein eine Million Euro pro Jahr beim Hedgefonds Blackrock verdiente* nicht wahrhaben wollten und unverdrossen auch den Altersarmut entgegen sehenden Geringverdienern empfahl mit Aktien zu spekulieren, wollten es nicht wahrhaben.
Aber ihr System ist am Ende.

*verdient hätten die Million die Beschäftigten der Betriebe, mit deren Hände Arbeit die Gewinne erwirtschaftet wurden und nicht, der Blackrock-Lobbyist Merz, der nie schwitzen musste.

Schon Ende 2014 war der Kern des Kapitalismus durch die Negativ-Zinsen implodiert. Den durchaus auch Marktwirtschafts-freundlichen Zentralbanken blieb angesichts der durch die Finanzspekulanten angerichteten Mega-Schuldenkrise gar nichts anderes übrig, als diese Billionen-Verluste in den Staatshaushalten wegzuinflationieren und den Markt  mit ultrabilligem Geld zu überschwemmen.
Jakob Augstein brachte es damals auf die wunderbare Formel „Kapitalismus kaputt“!

[….] Kapitalismus kaputt
Die Commerzbank hat bekannt gegeben, dass sie bei "einzelnen großen Firmenkunden mit hohen Guthaben sowie bei Großkonzernen und institutionellen Anlegern" eine "Guthabengebühr" berechnen will. Was damit gemeint ist: negative Zinsen. Geld bringt kein Geld mehr. Geld kostet Geld. Das ist die Implosion des Kapitalismus.
[….] Worum geht es beim Zins? Verzicht wird belohnt. Aber Buße soll tun, wer heute schon ausgeben will, was er erst morgen hat. Das Problem ist: In einer alternden Gesellschaft kippt das Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage nach Geld. Früher liehen sich junge Leute Geld, das sie später zurückzahlten. Heute sparen alte Leute für ihr längeres Leben. Die Folge ist das, was Ökonomen "säkulare Stagnation" nennen: Auf den Konten verstaubt das Geld, ungenutzt.
Wie zwingt man die Leute dazu, von ihrer Sparsucht zu lassen? Negativzinsen. Die Europäische Zentralbank hat sich schon vor Monaten auf diesen Weg begeben, die Geschäftsbanken folgen jetzt langsam nach.
Für Vertreter der reinen Lehre ist das Teufelszeug: "Ein negativer Marktzins ist ein Frontalangriff auf die Marktwirtschaft", hat der Volkswirt Thorsten Polleit geschrieben: "Die Idee, den Zins abzuschaffen, hatten schon die Marxisten und Nationalsozialisten. Ein negativer Marktzins würde das ,antikapitalistische' Zerstörungswerk perfektionieren."
Das wäre natürlich furchtbar. [….]


Die Marktwirtschaft funktioniert nicht ohne einen starken Staat, der sie einhegt, reguliert, kontrolliert.

Neu ist die Erkenntnis natürlich nicht.
Die Herausgeber der ZEIT, Marion Gräfin Dönhoff und Helmut Schmidt verfassten darüber schon vor einem Vierteljahrhundert treffende und weitsichtige Analysen, die wie wir heute, nach dem Tod der beiden, wissen erschreckend real sind.
Der Wahnsinn des Urnenpöbels zeigt sich darin, daß der Mann, der mit „Mehr Kapitalismus wagen“ dagegenhielt, heute als fähigster Kanzlerkandidat der CDU gilt.

(…..) Marion Dönhoff schrieb schon in den 1990er Jahren ihr bedeutendes Werk „Zivilisiert den Kapitalismus“ und legte damals schon dar, was uns dann richtig offensichtlich 2008 mit der Weltfinanzkrise ereilte.
Welche Gegenmeinung soll man da noch einnehmen, wenn jemand so offensichtlich voll ins Schwarze getroffen hat.
Bezweifelt denn noch irgendeiner, daß den internationalen Spekulanten das Handwerk gelegt werden muß? Ich würde dazu gern eine SERIÖSE Stellungnahme lesen, die mir erklärt weswegen das Derivatehandeln und Spekulieren mit Lebensmitteln eigentlich sein muß.
Es gibt auch Menschen, die sich dafür einsetzen.
So schrieb CDU-Darling Friedrich Merz, den heute noch fast die ganze Partei zurücksehnt, im Jahr 2008 sein Buch „Mehr Kapitalismus wagen“.
Wenn jemand so rechts argumentiert, merkt man allerdings meistens sehr schnell wieso das so ist. In Merz‘ Fall hängt das offenbar damit zusammen, daß er für den Hedgefonds „TCI“ arbeitet und persönlich damit sehr reich geworden ist.
Darauf läuft es fast immer hinaus.
Wenn jemand etwas offensichtlich Unsinniges beschließt, wie zum Beispiel den Merkel’schen Freifahrtschein für CO2-verschleudernde schwere Limousinen, dann erfolgte dies natürlich nicht aus Überzeugung, sondern auf Druck.
Eine Millionenschwere Lobby ist sehr effektiv.
Waffenexporte, AKW-Subventionen, tierquälerische Geflügelzucht – wieso so etwas erlaubt ist, kann relativ leicht beantwortet werden.
Gier, Geld, Macht. (……)
(Verschiedene Journalisten, 28.10.2013)

Christian Lindners Partei schrammt inzwischen an der 5%-Hürde.
Das sind angesichts der offensichtlichen Untauglichkeit all seiner Ansichten immer noch fünf Prozentpunkte zu viel.

Das DIW, welches dem Lindnerismus endgültig auf den Müllhaufen der Geschichte schmeißt, ist damit nicht allein; die anderen Wirtschaftsfreundlichen Professoren und Institute sehen es genauso.

[….] Sebastian Dullien, Direktor des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK), sprach sich für eine gezielte Ausweitung der Staatsausgaben aus: «Jetzt muss die Nachfrage gestützt werden. Auch Investitionen in Wasserstoffnetze könnte man anschließen. Und der Investitionsstau im Straßenbau und bei den Schulen ist groß.» [….]

Der industriefreundliche Subventionskapitalismus à la Lindner und Merz ist am Ende.
Die Alternative dazu lautet natürlich nicht Protektionismus, Isolationismus oder gar Planwirtschaft.
Nein, Unternehmertum und Gewinne muss es weiterhin geben, aber es braucht einen starken sozialdemokratisch geführten Staat, der Exzesse wie Steuerfreiheit für internationale Tech-Konzerne abstellt, der eine Tobinsteuer einführt, streng auf Arbeitnehmerrechte, Teilhabe und Umweltschutz achtet.

So wie Deutschland jetzt aufgestellt ist, wird es nicht mehr lange gut gehen.

[….] Je länger die Covid-19-Pandemie anhält, desto höher die Zahl der Unternehmenspleiten, was wiederum den Berg fauler Unternehmenskredite in der EU-Finanzbranche anschwellen lässt und Banken wie jüngst die spanische Santander in Schieflage bringt. Davon abgesehen urteilen US-Think-Tanks, der weltweit zunehmende Protektionismus werde der extrem exportabhängigen Bundesrepublik eine dauerhafte konjunkturelle Erholung unmöglich machen.[14] In den ökonomisch kollabierenden Vereinigten Staaten etwa, die im zweiten Jahresquartal eine Kontraktion der Wirtschaftsleistung um rund zehn Prozent hinnehmen mussten - auf das Jahr hochgerechnet, wie es US-Standards entspricht, sind es sogar 32,9 Prozent -, sprechen sich im Wahlkampf beide Kandidaten für eine stärkere Abschottung des US-Binnenmarkts aus. Für die deutsche Exportindustrie, deren bedeutendster Absatzmarkt die USA zuletzt waren, ist das eine verhängnisvolle Perspektive. [….]

Deutschland braucht jetzt also dringend all das, wovon sich Lindners Fußnägel hochbiegen:
Strenge Corona-Maßnahmen, mehr Schulden, kräftige Investitions- und Konjunkturprogramme, Ausweitung der Sozialleistungen und ein deutlich angehobener Mindestlohn (ohne Ausnahmen durch Werksverträge), so daß die Binnenkonjunktur angekurbelt wird.