Montag, 31. August 2020

Spinner in den eigenen Reihen


Im Jahr 1977 unter der glanzvollen Führung des Bundeskanzlers Helmut Schmidts überstieg die Mitgliederzahl der SPD die Eine-Million-Grenze.
Unter Nowabo und Esken sind wir nur noch ein Schatten davon.
Wir sind abgestürzt auf nur noch 412.000 Genossen (Juni 2020); liegen aber immerhin noch knapp vor der CDU mit 402.000 (Mai 2020).
Dahinter folgen CSU (141.000), Grüne (101.000), FDP (65.000), Linke (61.000) und AfD (34.000).
Die Trends der Mitgliederentwicklungen sind unterschiedlich.
CDU, CSU und SPD schrumpfen kontinuierlich. Die FDP rauschte von 170.000 (1990) auf 53.000 (2016), nimmt seit dem aber wieder leicht zu (2019: 65.000).
Auch die Linke verlor bis 2016 dramatisch, ist seit dem aber stabil.
Die Grünen gewinnen nach Habecks Inthronisierung massiv Mitglieder hinzu und stiegen von 61.000 (2016) auf einen nun erstmals sechsstelligen Wert.

Wie dramatisch man die Abkehr von den klassischen Parteien empfindet, hängt von den Relationen ab. In absoluten Zahlen erlebten die Altparteien seit der deutschen Vereinigung ein Desaster. Verglichen mit der Entwicklung bei anderen Massenorganisationen wie Kirchen und Gewerkschaften kommen die Parteien aber mit einem blauen Auge davon und mit über 1,2 Millionen Parteimitgliedern insgesamt wirken die Deutschen demokratisch deutlich engagierter als die Bürger anderer westlicher Länder.

Die britischen Tories haben 160.000 Mitglieder, Labour 480.000.
Die französischen Grünen kommen auf gerade mal 5.000 Mitglieder, Macrons La République en Marche auf 230.000 und die einst strahlende  Parti Socialiste (Mitterand, Hollande) auf knapp 100.000.
Die spanischen Sozialdemokraten Partido Socialista Obrero Español (PSOE) haben etwa 200.000 Mitglieder, die konservative Partido Popular (PP) etwa 66.000.
In den USA gibt es gar keine verbindlichen Parteimitgliedschaften. Man kann sich lediglich als Sympathisant ohne Pflichten und ohne Rechte registrieren lassen.

Eine hohe Mitgliederzahl ist grundsätzlich ein Vorteil. Der Organisationsgrad zahlt sich bei der Kampagnenfähigkeit vor den Wahltagen aus und gibt der Partei finanziellen Spielraum. Viele Mitglieder sind aber insbesondere demokratietheoretisch ein Segen, da die Parteien bei der Willensbildung des Wählers eine entscheidende Rolle spielen. Wer nicht Mitglied ist, kann seine politischen Vorstellungen nur sehr begrenzt einbringen.
Wer eine Partei verlässt, weil ihm die Richtung nicht passt, erreicht damit mit hoher Wahrscheinlichkeit das Gegenteil.
Nach Genschers Rechtsschwenk von 1982 waren die linksliberalen Mitglieder der FDP so entsetzt, daß mit ihren Helmut Schmidt versprochenen Stimmen der bräsige Kohl Kanzler wurde, daß sie in Massen die Partei verließen.
Der Zorn war verständlich, aber in der Konsequenz ging das liberale, säkulare, bürgerrechtliche Profil fast vollständig verloren und die FDP wurde zu einem rudimentären Unions-Anhängsel.
Die Grünen sind deswegen heute Unions-affine Olive, weil alle Mitglieder, die sich zum „Fundi-Flügel“ bekannten inzwischen die Partei verlassen haben.
Genauso ist es in sich logisch, daß die SPD natürlich nicht linker wird, wenn hunderttausende, die mit der „parlamentarischen Linken“, bzw dem „Forum DL 21“ sympathisierten, ausgetreten sind.
Mitglieder sind nicht so scheue Rehe wie Wähler, aber auch sie können von der Fahne gehen und wollen gepflegt werden.
Keine leichte Aufgabe für eine Partei wie die SPD, die damit über 400.000 Menschen mit eigenem politischem Kopf im Auge behalten muss.
Bei einer sechsstelligen Mitgliederzahl wäre es umgekehrt absolut unredlich die Partei für jeden einzelnen verantwortlich zu machen.
Alle Parteien haben gelegentlich damit zu kämpfen, daß entweder Spinner eintreten oder aber eins höchst vernünftige verdienstvolle Funktionsträger zunehmend irre werden.
Manche sind uneinsichtig wie die CDU-Rechtsausleger Martin Hohmann oder Erika Steinbach. Da braucht es Druck der Parteiführung. Merkel funktionierte im Fall Hohmann, im Fall Steinbach nicht.
Einige einst gute Leute wie Florian Gerster entwickeln sich von allein weg von der Partei, treten auch ohne Druck aus.
Wolfgang Clement, einst mächtiger NRW-Ministerpräsident und Superminister im Bund warnte 2008 vor der Wahl der SPD in Hessen, weil er Befürchtete Andrea Ypsilanti könne mit den Linken kooperieren.
Ein klassischer Ausschlussgrund. Es folgten Parteiordnungsverfahren und Rügen, die mit Clements Austritt am 25.11.2008 endeten. Der Ex-Sozi rief dann zur Wahl Westerwelles auf.
Zehn Jahre brauchte die SPD um Thilo Sarrazin loszuwerden, der inzwischen zu so einer bekannten Ikone der völkischen Rechten geworden ist, daß völlig in Vergessenheit geriet was für ein hervorragender Finanzsenator er 2002 bis 2009 in Berlin war.
Zehn Jahre kämpfte die SPD-Spitze für seinen Rauswurf, scheiterte immer wieder an der Dummerhaftigkeit der damaligen Generalin Andrea Nahles und dem hartnäckigem Widerstand Sarrazins.  Erst am 31.07.2020 wurde sein Parteiausschluss rechtskräftig.
Solche Verfahren können sehr häßlich werden, wenn sich die Betroffenen so wehren. Es gibt sehr viel negative Presse und der
Spinner vom rechten Rand bekommt exponentiell noch mehr Aufmerksamkeit, mit der er womöglich viel mehr schadet, als wenn man ihn einfach in der Partei gelassen und ignoriert hätte. Selbst die Faschistoide AfD erlebt das in der Causa Kalbitz.
FDP, CSU und CDU gehen daher mit ihren am braunen rechten Rand fischenden Mitgliedern meistens den Weg des Todschweigens.
Erhebliche Teile der ostdeutschen Landtagsabgeordneten von FDP und CDU sympathisieren offen mit der AfD und müssten für ihre Unterstützung völkischer Anträge eigentlich ein Parteiordnungsverfahren erhalten.
Die halbe Thüringer CDU stellte sich gegen den Parteitagsbeschluss nicht mit der AfD zu kooperieren. Aber Annegret Kramp-Karrenbauer unternahm wie das gesamte Konrad-Adenauer-Haus nichts gegen die Thüringer, die Sachsen, die Sachsen-Anhaltiner. Sie lässt sich weiterhin von Werteunion und Hans-Georg Maaßen auf der Nase herumtanzen.
 Ebenso verhält sich Christian Lindner mit seinem rechten Flügel. Er wird Kemmerich nicht los, weil er es nicht versucht.
Sahra Wagenknecht und Oskar Lafontaine sind trotz ihrer offenen Sympathie für völkische Positionen und die antisemitischen Gelbwesten weiterhin Mitglieder der Linken.
Weniger prominente Irre fliegen schon mal raus.
Der Hamburger Bürgerschaftskandidat Tom Radtke wurde zum Austritt aus der Linken Jugend aufgefordert nachdem er immer wieder mit Nazi-Symbolen auffiel und für die Identitäre Bewegung warb.
Die Grünen sind in der Hinsicht leider gar kein Vorbild.
Immer und immer wieder lassen sie sich von dem offen völkisch und obrigkeitsaffin redenden Tübinger Bürgermeister Boris Palmer provozieren.
Der Grüne unterscheidet sich inzwischen kaum noch von der AfD, aber Kretschmann, Baerbock und Habeck lassen ihn gewähren.


[….] Der Tübinger Oberbürgermeister und Grünen-Politiker Boris Palmer weiß zu polarisieren. Sein neuester Coup ist – mitten in der Rassismus-Debatte – ein Selfie vor dem Hechinger Hotel-Gasthof „Mohren“.
„Wo bin ich?“, fragt Palmer auf Facebook provokant. Hinter dem gut gelaunten Konterfei des Polit-Rebellen weht schwarz-rot-golden die Deutschland-Fahne und ist der der Schriftzug „Hotel Mohren“ deutlich zu lesen. Und Palmer liefert auch postwendend die richtige Antwort auf seine Frage: Das Foto habe er in Hechingen aufgenommen. [….] Palmer hat auf dem Foto ein breites Grinsen im Gesicht. Offenbar weiß er schon, was ihm jetzt wieder blühen wird: ein Aufschrei der Empörung, ein Shitstorm im World Wide Web. [….]

Er outete ein transsexuelles Parteimitglied und findet es unnötig ältere Menschen vor Covid19 zu bewahren, da sie ohnehin bald sterben.


 [….] Bereits während der Corona-Krise hatte der Grünen Politiker und Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer für Empörung gesorgt und viel Kritik geerntet. Grund dafür war ein Fernsehinterview, in dem es um die Schutzmaßnahmen in der Coronavirus-Pandemie ging. Palmer sagte im Interview: „Ich sage es Ihnen mal ganz brutal: Wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in einen halben Jahr sowieso tot wären - aufgrund ihres Alters und ihrer Vorerkrankungen.“ [….] Nun steht der Oberbürgermeister erneut in der Kritik, weil er sich auf Facebook transfeindlich geäußert hat. Gegen ihn wurde in diesem Zusammenhang sogar Strafanzeige gestellt - ausgerechnet von einem anderen Grünen-Mitglied.
[….] Am vergangenen Freitag teilte Palmer auf Facebook seinen umstrittenen FAZ-Gastbeitrag „Entspannt euch!“ aus dem Jahr 2015. Darin schreibt Palmer unter anderem, dass es nicht helfe, den Vorwurf der Homophobie auszupacken, wenn sich jemand kritisch über das volle Adoptionsrecht für Schwule und Lesben äußere. Ihm zufolge trete eine „geradezu jakobinische Verdamnis“ an die Stelle eines „aufgeklärten Diskurses“. [….] Den Facebook-Beitrag ergänzte er außerdem um einen aktuellen Artikel der Stuttgarter Zeitung mit der Überschrift: „Mal Nein sagen zur Minderheit“.
Palmer schrieb dazu in seinem Post: „Endlich, endlich, endlich. Die Intoleranz gegen Andersdenkende, öffentliche Anprangerungen und Ausgrenzung wird nicht mehr schweigend hingenommen, nur weil sie von Minderheiten oder dem eigenen Milieu ausgeht.“ [….]

Es ist schwer Parteimitglieder auszuschließen. Man blamiert sich wie die SPD im Fall Sarrazin. Moralisch verwerflich ist es aber erst, wenn man wie die Grünen gar nicht handelt.

Der nächste kleine grüne Palmer stammt aus Schleswig-Holstein. Der Flensburger Grünen-Abgeordnete David Siber stellte sich bei der Berliner Covidioten-Demo vom Samstag an die Seite der NPD und wütete Verschwörungstheorien.

[….] Das bürgerschaftliche Fraktionsmitglied David Siber (Grüne) ist am Samstag bei der umstrittenen Corona-Demonstration in Berlin aufgetreten. Der Politiker hat sich dort ins Herz der Regierungskritiker gesprochen und gegen seine eigene Partei ausgeteilt. Jetzt droht ihm der Rauswurf.
Das hat seine Fraktion am Sonntag in den sozialen Netzwerken mitgeteilt. „Die Flensburger Ratsfraktion wird unmittelbar über den Ausschluss von David Siber entscheiden“, heißt es. Man distanziere sich „in aller Entschiedenheit“ von dem Auftritt des eigenen Parteimitglieds.[….]

Es bleibt abzuwarten, ob Robert Habeck in seinem eigenen Landesverband anders als in Tübingen Konsequenzen zieht.