Man muss nicht jeden einzelnen Artikel eines Periodikums lieben, das man bezahlt.
Im Gegenteil, wenn man sich in einer Medienblase bewegt, in der alle haargenau das gleiche denken, wie man selbst, hat man etwas gewaltig falsch gemacht.
Es ist notwendig, sich auch ein bißchen über Artikel zu ärgern, die man liest.
Ich finde es immer noch richtig und ratsam, den SPIEGEL zu abonnieren, also für guten Journalismus zu bezahlen. Aber unter uns Pastorentöchtern; diese Woche schüttele ich mal wieder mit dem Kopf über die aktuelle Ausgabe.
Gerade noch gab es einen so hervorragenden Marc-Pitzke-Artikel über die peinlichen Fehler der Presse im Umgang mit Donald Trump, die ihm auf den Leim geht und ihn kostenlos hypt.
[….] Obwohl es kaum Bilder von Donald Trump gab, wurde flächendeckend live gesendet. Mehr denn je lassen sich die Medien vom Ex-Präsidenten manipulieren. [….]
(Eine Analyse von Marc Pitzke, 05.04.2023)
Gerade heute wurde noch berichtet, wie der Rechtspopulist finanziell und politisch von dem Medienhype profitiert.
[….] Donald Trump profitiert finanziell von Anklage gegen sich
Der ehemalige US-Präsident Donald Trump hat seit der Anklageerhebung über 15 Millionen Dollar an Spendengeldern für seinen bevorstehenden Wahlkampf eingenommen. Ein Viertel dieser Geldgeber spendete zum ersten Mal für ihn. [….]
Und dann erscheint ein Sahra-Wagenknecht-Titel, der so einer xenophob-völkischen rechtspopulistischen homophoben Covidiotin-Schwurblerin jede Menge Aufmerksamkeit und kostenlose Werbung verschafft.
Muss das derartig groß aufgezogen werden, daß ich die im Saarland enthusiastisch Ovulierende bis nach Hamburg jubilieren höre?
[….] Wenn alles gut für sie läuft, will Sahra Wagenknecht Ende des Jahres eine eigene Partei gründen und möglicherweise das erste Mal bei der Europawahl 2024 für sie antreten. Die Partei soll Wähler einsammeln, die sich nicht mehr gehört fühlen: nicht von den Linken oder den Grünen, nicht von der Union oder der SPD, Leute, die gegen die Fokussierung auf das Gendern sind und für die Enteignung von Wohnungskonzernen, gegen die Waffenlieferungen an die Ukraine und eine offene Flüchtlingspolitik, für flächendeckende Tarifverträge und eine liberale Coronapolitik. Es wäre eine Partei jenseits der alten Milieus, von der der Politikwissenschaftler Benjamin Höhne sagt, sie »würde den Nationalstaat als entscheidenden Raum betonen, um soziale Gerechtigkeit durchzusetzen«, politisches Neuland also, widersprüchlich wie Wagenknecht selbst. Laut Umfragen können sich 19 bis 24 Prozent der Wahlberechtigten vorstellen, eine Wagenknecht-Partei zu wählen, ein riesiges Potenzial, nach heutigen Maßstäben volksparteigroß. [….]
(SPIEGEL-Titelstory. Marc Hujer und Timo Lehmann, 14.04.2023, DER SPIEGEL 16/2023)
Ein wichtiges Thema der letzten Woche waren zweifellos auch die Sorgen, die man sich um Frankreich machen muss. Ein historisch unbeliebter Emanuel Macron, gegen den die Nation rebelliert und der in China einen neuen, nicht auf Brüsseler Linie liegenden Kurs, einschlägt. Wie riskant ist das? Wie sehr beißt sich das mit der Baerbock-Position und welche guten Argumente gibt es, in der Taiwan-Frage auf Äquidistanz zu den USA und China zu gehen? Oder will sich Brüssel ernsthaft militärisch beteiligen, wenn am anderen Ende der Welt Atom-Supermächte um Taiwan kämpfen?
Der SPIEGEL analysiert zu diesem Zeitpunkt lieber die Maconsche Ehe.
[….] Emmanuel und Brigitte Macron: Nein, diese Liebesgeschichte ist kein Vorbild [….][….] Brigitte Macron ist diesen Donnerstag 70 Jahre geworden. Ihr Mann ist 45 Jahre alt. Ich nehme an, dass die beiden viel zu viele befremdete Reaktionen wegen des Altersunterschieds ertragen mussten und müssen. Andererseits sind sie dafür auch gefeiert worden. [….] Die Macrons sind als Paar zu einer Zeit in die Öffentlichkeit getreten, in der sich endlich viele Vorstellungen davon, was sich gehört und was nicht, erledigt hatten. Davon haben die beiden profitiert.
Es war und ist aber auch eine Zeit, in der sich – ebenfalls endlich – eine Sensibilität dafür ausgebildet hat, dass sich Intimität zwischen Lehrkräften (oder auch Priestern und ähnlichen Autoritätspersonen) und Schutzbefohlenen verbietet. Eine Zeit, in der klar geworden ist, welches Unheil in der Psyche von Schutzbefohlenen angerichtet werden kann, wenn dieses Verbot übergangen, wenn ein Machtgefälle ausgenutzt wird. Von diesen Erkenntnissen jedoch bleibt das Paar Macron seltsamerweise verschont. [….] Macron inszeniert sich hier als Kämpfer für das Wahre und Gute, als habe er lediglich gegen eine Konvention gekämpft. Und nicht gegen den so legitimen wie nötigen Vorbehalt, dass ein Verhältnis zwischen einer Lehrerin und einem Schutzbefohlenen eben nicht sein darf. [….]
(Susanne Beyer, DER SPIEGEL, 16.04.2023)
Ja, Brigitte Macron ist 25 Jahre älter. Ich kann nicht fassen, daß ich vom SPIEGEL am 16.04.2023 daran erinnert werden. Die Vorbildfunktion der Präsidenten-Ehe ist das aktuelle Problem in Frankreich?
Um versöhnlich zu enden; sei die große GB-Reportage von Jörg Schindler sehr lobend erwähnt. Was für historisch einmaliges Desaster haben die Tories ihrem eigenen Land angetan? Über die sagenhafte destruktive Doofheit der Brexiteers zu lesen, tut physisch weh.
[….] Es steht nicht gut um Großbritannien und Nordirland in diesen Tagen. Die schlechten Nachrichten reißen seit Monaten nicht ab, die Kassen sind leer, die Verwaltungen ausgelaugt, Unternehmen am Anschlag. Mehr als sieben Millionen Menschen warteten am Ende des Winters auf einen Arzttermin, darunter Zehntausende Herz- und Krebskranke. Vor britischen Gerichten stauen sich Schätzungen der Regierung zufolge 650.000 ausstehende Prozesse. Wer einen Pass oder einen Führerschein benötigt, muss sich oft viele Monate lang gedulden.
In zahllosen High Streets dominieren verrammelte Schaufenster, blinde Fassaden, »To let«- und »To rent«-Schilder das Stadtbild. In den Regalen von Supermärkten klaffen seit Jahren große Lücken, kürzlich haben mehrere Ketten bekannt gegeben, Gurken, Tomaten und Paprika bis auf Weiteres zu rationieren.
»Während die Zahl der Milliardäre im Königreich mit 177 so hoch ist wie noch nie, sind Millionen Briten in die Armut abgerutscht.«
560 Pubs haben im vergangenen Jahr für immer den Zapfhahn zugedreht, Tausende weitere könnten nach Verbandsangaben bald schon folgen. Ohne Oxfam, Samariter, Heilsarmee und ihre Krimskramsläden mit Gebrauchtwaren wären ganze Innen- längst Geisterstädte. [….]
(DER SPIEGEL 16/2023)
Das britische Megadesaster wird an vielen Beispielen eindrucksvoll beschrieben und bebildert. Der SPIEGEL zeigt dazu Karten, wo die Briten, die nun besonders leiden, mit den höchsten Stimmanteilen für den Brexit stimmten.
Eins vergisst Autor Schindler aber zu erwähnen: Die Tories und der extra zerstörerische Boris Johnson fielen nicht vom Himmel, haben sich nicht an die Macht putscht.
[….] Die Stadt lag bereits auf den Knien, als die konservativ-liberale Regierung von David Cameron 2010 ein Zeitalter der Austerität ausrief, um die Fantastilliarden wieder reinzuholen, die man während der Finanzkrise in die Bankenrettung gesteckt hatte. [….] Und auch wenn der Fünfte, Rishi Sunak , sich alle Mühe gibt, die Zeiten der bloßen Slogan- und Slapstickpolitik vergessen zu machen, wird sich das Königreich so schnell nicht von seinen Vorgängern erholen. Am wenigsten von Boris Johnson. Zumal der bis heute schuldunbewusst und beleidigt von der Seitenlinie ins Geschehen blökt. […..]
(DER SPIEGEL 16/2023)
Das waren die britischen Bürger höchstselbst, die sich in gnadenloser Doofheit immer wieder freiwillig für den totalen Abstieg der Nation aussprachen. Die Konservativen regieren seit 13 Jahren.
Die britische Unterhauswahl am 6. Mai 2010: Tories 7 Prozentpunkte vor Labour. Sitzverteilung (326 sind die absolute Mehrheit): Labour: 258, LibDem: 57, Tories: 307
Die britische Unterhauswahl am 7. Mai 2015: Tories 6 Prozentpunkte vor Labour. Sitzverteilung (326 sind die absolute Mehrheit): Labour: 232, LibDem: 9, Tories: 331
Die britische Unterhauswahl am 8. Juni 2017: Tories 2 Prozentpunkte vor Labour. Sitzverteilung (326 sind die absolute Mehrheit): Labour: 262, LibDem: 12, Tories: 318
Die britische Unterhauswahl am 12. Dezember 2019: Premierminister Boris Johnson gewinnt haushoch. Tories 12 Prozentpunkte vor Labour. Sitzverteilung (326 sind die absolute Mehrheit): Labour: 203, LibDem: 11, Tories: 365
Nach neun Jahren des Abstiegs mit den Tories, nach dem Brexit und nach dem Chaos mit den Lügen-Premiers David Cameron (2010-2016), Theresa May (2016-2019) und Boris Johnson (2019-2022) denken sich die Briten, es wäre schlau, den Ultra-Brexiteer-Tories 162 Sitze mehr als Labour zu geben.
Sie haben sich Truss und Sunak ehrlich verdient.