Samstag, 2. November 2019

Politische Mathematik


Wenn eine Partei in Umfragen bei 15% steht, aber den Anspruch eine Regierung zu führen nicht aufgibt, gilt es eine Lücke zwischen den demoskopischen 15% und den notwendigen 50,x% der Sitze des Bundestages für die Kanzlermehrheit zu füllen.

Einige Sozialdemokraten, die sich selbst als sehr links oder klassische Arbeitnehmervertreter verstehen, behaupten seit 20 Jahren hartnäckig, die Partei müsste sich auf den ursprünglichen Kern des Arbeitskampfes konzentrieren.
Abgesehen davon, daß das offensichtlich Unsinn ist, weil es dieses Milieu kaum noch gibt, …….

[….] Drei Gründe für die Krise der Volksparteien. Der erste Grund ist natürlich die Auflösung der klassischen Milieus - bei der SPD-Wählerschaft so sehr, dass sie mehr Akademiker- als Arbeiterpartei geworden ist. [….]

…… kann das auch mathematisch nicht funktionieren.
Wer eine Mehrheit links der CDU anstrebt, kann seinen politischen Anspruch nicht auf die klassische rotrotgrüne Wählerschaft reduzieren. Es gab noch nie eine linke Mehrheit im strukturkonservativen Deutschland. SPD-Kanzler regierten entweder mit der FDP zusammen, oder deckten wie die Schröder-Regierung mit Schily und Clement selbst die klassisch-konservativen Politikfelder Sicherheit und Wirtschaft ab. Seither ist die Bundesrepublik bekanntlich deutlich weiter nach rechts gerutscht.
Juden werden gejagt, Schwule angegriffen und wer als strammer Faschist NS-Parolen in die Welt posaunt, bekommt in Thüringen jede vierte Stimme.

Sich in seine linke Nische zu verziehen, gibt einem das wohlige Gefühl der reinen Lehre. Endlich keine Kompromisse mehr.

Wenn man wie Lafontaine, WASG und Post-PDSler meint ausschließlich mit linker Verteilungsprogrammatik – „Hartz abschaffen!“ – Politik zu betreiben, landet man bei kümmerlichen einstelligen Werten.
Die Bundes-SPD ist heute deutlich linker als vor 20 Jahren. Das freut Herrn Kühnert und linke sozialdemokratische Facebookgruppen.
Es bringt aber auch nahezu zwangsläufig die CDU ins Kanzleramt, weil keine anderen Mehrheiten erreicht werden.

[….] Der bislang und vielleicht für immer letzte SPD-Bundeskanzler, Gerhard Schröder, hatte das rot-grüne Lager noch erfolgreich gegen "die Konservativen" positioniert. Das war nicht frei von einem kräftigen Hauch Populismus, aber auch nicht falsch: In vielen großen Fragen - der Verweigerung devoter Gefolgschaft im Irakkrieg der USA, dem Atomausstieg, der Gleichberechtigung von Minderheiten - bot Rot-Grün eine klare Alternative zur Opposition, und umgekehrt. [….]

Heute hassen linke Sozis Gerhard Schröder wie die Pest. Seine Cohibas, seine gut sitzenden Anzüge, sein Verständnis für Wirtschaftspolitik.
Sie vergessen aber, daß Schröder mit dieser Methode geradezu genial Mehrheiten erreichte und so viel linke Politik durchsetzte wie nie zuvor.
Staatsbürgerschaftsrecht, Homoehe, Zwangsarbeiterentschädigung, ökologische Steuerreform – CDU, CSU und FDP schäumten vor Wut, rannten heulend zum Bundesverfassungsgericht.

Der rechte Schröder konnte für links sehr viel mehr bewegen als die heutigen Sozis, weil er 41% bei der Bundestagswahl bekam und den starken Seniorpartner in der Regierungskoalition stellte.
Daß die SPD aus dem März 2018 als Juniorpartner mit 20% den Koalitionsvertrag noch so stark dominieren konnte, liegt an der außerordentlich geschickten Verhandlungsführung durch Olaf Scholz, der sehr schwachen CDU-Chefin und dem schmollenden Christian Lindner, der mit vollen Hosen vor der Verantwortung floh und damit die Regierungsteilnahme der SPD erzwang.

Wenn sich die SPD weiter verzwergen will, muss sie nur dem Lindnerischen Schmollwinkel-Impuls folgen. Mit zwei gleich linken Parteien – der SPD mit derzeit 14% in den Umfragen und der LINKEN mit derzeit 8% (=22%) - hat selbst die debakulierende Merz-Karrenbauer-CDU leichtes Spiel.
Das linke Lager hätte sich als regierungsunfähig bewiesen; jeder Grund sie zu wählen entfiele.

Das Projekt Rotrotgrün kann nur funktionieren, wenn jeder sein Milieu bedient und die SPD darüber hinaus die vernünftigen Menschen der Mitte für sich gewinnt.

Das LINKE Milieu bilden die finanziell Schwächsten, die eher ungebildeten Protest-Wähler mit einem starken Hang zu simplen Antworten und einem offenen Ohr für Populismus.

Das GRÜNE Milieu sind die urbanen Topverdiener mit Villa im Grünen oder schicken Innenstadt-Penthäusern. Zu ihnen gesellen sich EKD-Funktionäre und fromme Frauen aus der Kleinstadt. Sie jetten um die Welt, wollen aber ein gutes Gewissen haben, ohne sich tatsächlich einschränken zu müssen. Sie verachten die bornierte Xenophobie und Homophobie der Konservativen, freuen sich aber insgeheim doch, wenn die CDU – gern in Koalition mit den Grünen – regiert, weil das garantiert, daß ihre prallgefüllten Bankkonten nicht durch Steuererhöhungen gefährdet werden.

Das SPD-Milieu ist das Volatilste von allen. Es ist sehr heterogen. Einerseits halten ihr Gewerkschaftler und Arbeiter die Treue, aber die werden immer weniger. Kleinbürger mit geringer Bildung rennen zur AfD. Stark ist die SPD noch unter Akademikern, Polit-Nerds und den rationalen Analysten, die wissen, daß man weder den Lobbyisten folgen darf, noch sie einen schlanken Fuß durch Verweigerung machen darf, wenn vernünftig regiert werden muss.
Ein sehr überzeugender SPD-Kanzlerkandidat wie Schmidt oder Schröder kann weit ins bürgerliche Lager hinein Stimmen bekommen, wenn er es schafft allgemeine Kompetenz auszustrahlen und deutlich weniger borniert als die Christlichkonservativen zu wirken.

Die Kanzlermehrheit für Grünrotrot oder Rotgrünrot kann es nicht mit einem Verweigerer à la Kühnert geben, der zwar an der Basis der Berliner LINKEN hoch angesehen ist, aber keine Chance hat über dieses Ur-linke Milieu hinaus Stimmen zu holen.

Wer eine Mehrheit links der CDU wünscht, muss auf einen SPD-Chef und Kanzlerkandidaten Scholz setzen. Nur er kann gegenwärtig auch die eher drögen Wechselwähler ansprechen, die ganz schnell zu CDU und FDP fliehen, wenn ihnen die Sozis zu links wirken.

[…..] Hamburg. Es ist ein Jahrzehnt her, da lag die SPD in Trümmern. Die stolze Hamburg-Partei, die bis 2001 mit einer kleinen Ausnahme in den 50er-Jahren das Rathaus regiert hatte, schien in einer Todesspirale gefangen: 2007 […..] überholte die CDU die SPD, die nur noch auf 27,4 Prozent kam. […..] Die Partei schien am Ende und wählte im November 2009 Olaf Scholz zum Vorsitzenden – nicht nur aus Überzeugung, sondern auch aus Verzweiflung. In Hamburg regierte die CDU mit den Grünen, in Berlin die Union mit der FDP. In Umfragen lag die Hamburger SPD mit 33 Prozent deutlich hinter der CDU. Wer brauchte da noch die SPD?
In Hamburg gelang der SPD die bislang letzte absolute Mehrheit
Es brauchte nicht einmal 16 Monate. Im Februar 2011 gewannen die Sozialdemokraten in Hamburg 14,3 Prozentpunkte hinzu und erreichten mit 48,4 Prozent die absolute Mehrheit der Sitze – es war übrigens die letzte absolute Mehrheit der Sozialdemokraten in der Bundesrepublik, die Scholz mit 45,6 Prozent vier Jahre später fast verteidigt hätte. […..]
Norbert Walter-Borjans […..] hat gar keine Erfahrung mit der Führung einer Partei, seine Mitstreiterin hat nur den Kreisverband Calw geführt, ihren Bundestagswahlkreis aber stets verloren.
[…..] Nun müssen die Genossen entscheiden, ob sie mit Robin Hood den Sherwood Forest erobern wollen – oder mit Scholz vielleicht das Kanzleramt. Die Deutschen wählten stets Männer oder Frauen der Mitte zu Regierungschefs, die bis ins andere Lager hineinstrahlen – Gerhard Schröder war eben auch der „Genosse der Bosse“, Helmut Schmidt der Kanzler des Nato-Doppelbeschlusses.
Scharf links der Mitte gewinnt man keine Wahlen, sondern nur Trostpreise. […..] In einer Welt, in der Internetgiganten wie Amazon ganze Fußgängerzonen leer räumen und wie Facebook sogar über eigene Währungen nachdenken, ist eine Linke wichtiger denn je. […..]