Montag, 5. November 2012

Sinnlose Existenz




Als Blogger wird man manchmal überflüssig gemacht.

So wie unter dem Realsatiriker Helmut Kohl die Kabarettisten um ihren Job bangten, gibt es keinen Platz mehr für mich, wenn Merkel, Seehofer und Rösler das tun, was sie gestern Abend wieder vorexerzierten.

Normalerweise gibt es zu den Tagesgeschehen beschreibende Artikel und Kommentare. Der Blogger verschafft sich einen Überblick, zieht seine eigene Schlüsse, übertreibt ein wenig und fügt die flapsige und akzentuierte Sprache hinzu, die man in einer seriösen Print-Zeitung so nicht verwendenden würde.

Aber wie sollte man ein derartiges Regierungsversagen in Worte fassen? 
Selbst die gröbsten Schimpf-Metaphern wirken angesichts der schwarzgelben Realität wie Euphemismen! Grüne und Linke geben heute noch nicht mal richtige Pressemitteilungen zu dem Koalitionsbeschlüssen von gestern Nacht heraus.

Zum Regieren ist volle Handlungsfähigkeit eigentlich die allermindeste Voraussetzung, so wie man zum studieren lesen können sollte oder als Parfümista einen Geruchssinn haben sollte.

Bei der debilen Schnittmenge aus Gurkentruppe und Wildsäuen, die Merkels Kabinett bildet, sitzt man allerdings schon seit drei Jahren taten- und ratlos auf dem Hintern und bewirft sich gegenseitig mit Dreck.
Merkel wollte nun also wenigstens ein einziges mal „Handlungsfähigkeit“ beweisen. 
Aus ihrer Perspektive ist das schon ein gewaltiger Fortschritt.
WIE man handelt, ob das Ganze irgendeinen Sinn macht, womöglich in irgendeine Richtung weist oder auf bizarre Weise womöglich sogar dem Volk zu Gute käme, ist bei Merkel schon längst irrelevant.
Es sollte diesmal nur etwas beschlossen werden, IRGENDETWAS. 
Geld aus dem Fenster werfen nach dem Zufallsprinzip. 
Bezeichnenderweise war der Bundesfinanzminister, der das Ganze bezahlen sollte, gar nicht erst angereist. Er wollte sich das Elend ersparen.

In der deutschen Bundesregierung geht es nicht nur zu wie beim Geschacher auf einem orientalischen Basar. 
Nein, diesmal hat sich die Kanzlerin offenbar auch von der koptischen Papstwahl inspirieren lassen:
Man schreibe die ältesten und sinnlosesten Wünsche der drei Koalitionspartner auf kleine Zettel, wirbele diese durcheinander und lasse dann den Dümmsten und Kleinsten der Runde mit verbundenen Augen ein Los ziehen.

Herausgekommen ist die Apotheose der politischen Dummheit: Die Herdprämie, die Bildungsfernhalteprämie.

Blogger Jake würde an dieser Stelle einwerfen „Schlimmer geht immer!“.
Mag sein, allein mir fehlt dazu die Phantasie.

Während Millionen Menschen in prekären Arbeitsverhältnissen schuften, die so miserabel bezahlt sind, daß sie weniger als Hartz-IV-Empfänger bekommen, während wir anfangen arme Omen und Open nach Osteuropa zu exportieren, weil uns der politische Wille fehlt das lästige senile Pack hier adäquat zu versorgen, während unsere Bundesregierung mal wieder verschärft Fachkräfte im Ausland anwirbt, weil unser Bildungssystem so marode ist, daß hier 70.000 Kinder jedes Jahr die Schule abbrechen, beschließt Schwarzgelb rund 1,5 Milliarden Steuerzahlergeld dafür rauszuwerfen, daß bildungsferne Kinder auch garantiert von jedem Bildungsangebot ferngehalten werden.

Das tut diese Bundesregierung, obwohl sie selbst mit übergroßer Mehrheit davon überzeugt ist hierbei Schwachsinn zu verzapfen.
Sie wird aber getrieben von einer randständigen Regionalpartei, die von einem Soziopathen geführt wird, den niemand einnorden kann.
Da ob des allgemeinen Fehlens von Rückgrat niemand diesen Bajuwarischen Berserker stoppen kann, besinnt sich eine andere sterbende Klein-Partei unter Führung eines erratischen Hobby-Komikers an ihre einzige Kompetenz, nämlich die eigene Käuflichkeit und läßt sich die Zustimmung zur Herdprämie mit der Finanzierung eines FDP-Lieblingsplans bezahlen.
Bundeskanzlerin Merkel und ihre Koalition stellen politisches Kalkül über das Gemeinwohl. Nur um einen Gesichtsverlust von Horst Seehofer vor den Landtagswahlen in Bayern zu vermeiden und dem siechenden FDP-Vorsitzenden Rösler das Überleben für wenige weitere Monate zu sichern, schließen sie beim Betreuungsgeld einen faulen Kompromiss. Der Burgfrieden ist teuer erkauft. Merkel lässt den Preis dafür Kinder und Eltern zahlen. Denn denen drohen jetzt schlechtere Bildung und Integration sowie weniger und schlechtere Kitaplätze.
Frau Merkel und ihre Koalition handeln damit gegen den überwältigenden und nahezu einstimmigen Widerstand aus allen gesellschaftlichen Bereichen: gegen Gewerkschaften und Arbeitgeber, gegen Wohlfahrtsverbände und die evangelische Kirche, gegen die renommierte Wissenschaft – und auch gegen die eigene Anhängerschaft, die selbst mehrheitlich ein Betreuungsgeld ablehnt. Selten war eine Regierung so ignorant, so uneinsichtig und so verantwortungslos.
Pressesplitter:
Acht Stunden saßen die drei Konfliktparteien letzte Nacht im Kanzleramt zusammen, und herausgekommen ist: nicht viel. Praxisgebühr gegen Betreuungsgeld, so lautet der kleinste gemeinsame Nenner von Schwarz und Gelb nach mehr als drei Jahren gemeinsamer Regierung. Wobei kaum zu erkennen ist, wo hier noch regiert wird. Über beide Themen haben Union und FDP schließlich schon seit Wochen erbittert gestritten, im Grunde war allen Teilnehmern klar, dass es auf diesen Kuhhandel hinauslaufen wird. […] Aber die größte Lachnummer ist und bleibt das Betreuungsgeld - eine weiß-blaue Kröte, für die die CSU notfalls auch die ganze Koalition über die Klippe springen lässt, eine bayerische Machtfrage. Um die Sache geht es längst nicht mehr. (Eva Corell BR 05.11.12)
Ursula von der Leyen (CDU) spricht von der "Zuschussrente mit neuem Namen". Die Arbeitsministerin tut alles, um nicht als Verliererin der Gipfelnacht dazustehen. Schließlich war sie es, die den Kampf gegen drohende Altersarmut mit lautem Alarm auf die Tagesordnung gehievt hatte. Nun sollen noch in dieser Wahlperiode die Weichen gestellt werden, damit Geringverdiener später nicht aufs Sozialamt müssen. Doch für die Mini-Renten soll es wohl auch nur eine Mini-Aufstockung geben, nur zehn bis 15 Euro über der Grundsicherung. Ein Witz, findet nicht nur die Opposition. Der DGB spricht von "blankem Zynismus", der Sozialverband VdK beklagt eine "Rentenpolitik auf Sparflamme".

Noch nie fielen Anspruch und Wirklichkeit eines Regierungsbündnisses so weit auseinander: Nach drei Jahren an der Macht ist die schwarz-gelbe Koalition in ihren politischen Spielräumen eingeschränkt, in ihren Prozeduren ineffektiv und im Erscheinungsbild ermüdend. […]
Die jüngste Sitzung des Koalitionsausschusses war sinnbildlich für diese Not: Erst Monate der Untätigkeit, dann Wochen der Streiterei und zuletzt siebeneinhalb Stunden mühsames Gezerre für ein Minimum an Beschlüssen. Verbindlichkeit: ungewiss.
Einer Koalition mit dieser Arbeitsweise soll man nun abnehmen, dass ihr bei dem wirklich großen Problem der Rente noch etwas gelingt? 

Um die ganze Fragwürdigkeit der Ergebnisse des Koalitionsgipfels richtig zu erfassen, muss an die Startphase des schwarz-gelben Bündnisses von Kanzlerin Angela Merkel erinnert werden. Vor der letzten Bundestagswahl versprachen Union und FDP den Wählern großspurig nicht weniger als solides "Durchregieren" und eine deutliche Entlastung im Geldbeutel. […]
Um das Wahlvolk milde zu stimmen, werden auf den letzten Metern Geschenke verteilt, die widersinnig sind, teuer und zu bizarren Fehlsteuerungen führen werden. FDP und CSU erinnern an zwei Schuljungen, die das ganze Jahr viel Unfug gemacht haben und sich nun für die letzte Klassenarbeit anstrengen, um die Versetzung noch zu retten. […Merkel] moderiert faule Kompromisse, die noch reichlich Schaden anrichten können.
[…] Unsinn ist die Einführung des Betreuungsgeldes. Nach der Diktion der schwarz-gelben Koalitionäre soll man sie nicht Herdprämie nennen. Aber warum eigentlich nicht? Das Betreuungsgeld ist nichts anderes. Sie begünstigt ein Frauen- und Familienbild, das Mutti daheim bei Kindern und Küche sieht, während Papi das Geld ranschafft. Schon heute sind weitere Fehlsteuerungen absehbar: Etliche Familien aus einkommensschwachen und/oder Problem-Familien werden ihre Kinder daheim "erziehen", um die Prämie zu kassieren. Wichtige frühkindliche Förderung, die in den Kindergärten geleistet wird, bleibt aus.
 (Roland Nelles, SPON, 05.11.12)

Nichts macht die wahre Bedeutung des Koalitionsgipfels klarer als der Umstand, dass Wolfgang Schäuble nicht dabei war. […] Von der Wunschkoalition des Jahres 2009 ist eine mut- und ziellose Truppe geblieben. CDU, CSU und FDP haben mit ihren Entscheidungen den Bundestagswahlkampf eingeläutet.
 Ein Konzept sucht man bei den Ergebnissen der achtstündigen nächtlichen Verhandlungen vergeblich. Selbst der fürs Schönreden der CDU-Politik engagierte Generalsekretär Hermann Gröhe flüchtete sich in blumige Sätze: „Im Übrigen finde ich es auch schwierig, die Dinge jetzt einzeln der einen oder anderen Partei allein zurechnen zu wollen.“ Erfolge verkauft man anders. Jeder Koalitionär will nur noch retten, was zu retten ist. Am ehesten gelingt das noch der FDP.
Paradoxerweise will sie ihre Unersetzbarkeit mit einer Entscheidung belegen, die auch alle anderen Parteien einschließlich der Opposition herbeiführen wollten. Ausgerechnet die selbsterklärte Partei marktwirtschaftlicher Vernunft schafft zum Jahreswechsel die Praxisgebühr ab. Jedoch: Die rund 2 Milliarden Euro, die jährlich in der gesetzlichen Krankenversicherung fehlen werden, müssen früher oder später durch Erhöhungen der Kassenbeiträge wieder hereinkommen. Die FDP sorgt also damit für eine Steigerung der Lohnnebenkosten.
[…] Dieser Umstand offenbart die Misere der Freidemokraten: Die vorgeblichen Wirtschaftsexperten genieren sich für ihren Wirtschaftsminister und Nochparteichef.

Wer bisher noch Zweifel hatte, ob die Koalition wirklich so schlecht ist wie ihr Ruf, der ist jetzt bekehrt worden: Sie ist noch schlechter. Die Spitzen von Union und FDP brauchen eine ganze Nacht, um zu entscheiden, was längst hätte entschieden sein müssen. Der Gipfel sollte Handlungsfähigkeit demonstrieren und zeigte doch nur eines: das Scheitern dieser Regierung. […]
Um es kurz zu machen: Das Betreuungsgeld soll jetzt tatsächlich, ganz wirklich und in echt kommen. Was für eine Überraschung! Es ist ja vorher schon dreimal von genau den Leuten beschlossen worden, die vergangene Nacht im Kanzleramt zusammensaßen. Im Tausch darf die FDP die Abschaffung der Praxisgebühr als ihren großen Sieg feiern. […]
Weiterer Kuhhandel: Weil die CSU so lange auf das Betreuungsgeld warten muss - statt zum 1. Januar 2013 wird es erst zum 1. August eingeführt -, darf sich ihr Verkehrsminister Peter Ramsauer noch 750 Millionen Euro für seinen Etat aus dem Steuersäckel holen. […]
Der Koalitionsgipfel sollte Handlungsfähigkeit demonstrieren. Das hat Schwarz-Gelb auch wahrlich nötig. Bewirkt aber hat der Gipfel das Gegenteil. Nach Monaten des Streits, der gegenseitigen Blockade, des Misstrauens, der Beschimpfungen und der Durchstechereien ist das, was der Gipfel hervorbrachte, ein Dokument des Scheiterns dieser Regierung.