Donnerstag, 27. Dezember 2012

Rätsel Mensch



Als kleine affenartige Spezies mit sehr eingeschränkten Sinnen und einer (kosmisch betrachtet) erbärmlich kurzen Lebensspanne begreifen wir natürlich vieles nicht.
 
Was war vor dem Urknall und was wird in zehn Milliarden Jahren sein, wenn unser Sonnensystem längst aufgelöst ist?
 Wir planetar gebundenen Eintagsfliegen mit gerade mal drei Pfund Gehirn sind mit solchen Fragen überfordert.
Warum sollten wir auch alles wissen und verstehen?
Reine Hybris ist es für die Phänomene, die einem unerklärlich erscheinen eine Gottheit zu postulieren.
Für ein Pantoffeltierchen mag das Lösen einer Differentialgleichung weit außerhalb des geistigen Horizonts liegen. Deswegen ist Mathematik aber nicht göttlichen Ursprungs.

Für unsere Hirne ist unsere Lebenspanne ohnehin komplex genug.
 Es gibt unendlich viele Variablen, die wir bedenken können und es gibt viele Konstanten, an denen wir uns ausrichten können.
Die elementarste Konstante ist unsere eigene Endlichkeit; wir alle sterben.
LIFE SUCKS.......and THEN YOU DIE!
Bzw.
Das Leben ist eine sexuell übertragene Krankheit mit 100% tödlichem Ausgang.
Sich über den eigenen Tod zu wundern, vor ihm fliehen zu wollen, ihn zu tabuisieren, ist ungefähr so sinnvoll wie der Versuch die Erdanziehungskraft mit Akupunktur zu bekämpfen.

Ich staune immer wieder, daß neu erscheinende Bücher zum Thema als großer Tabubruch oder bahnbrechende Enthüllungen verstanden werden.

Gerade gibt es zwei recht neue Werke, von denen ich insbesondere das erste unbedingt empfehle.
Constanze Kleis
Sterben Sie bloß nicht im Sommer
Dumont, 224 Seiten, Hardcover
ISBN 978-3-8321-9657-8

Martina Rosenberg
Wenn die Pflege der kranken Eltern zur Zerreißprobe wird
Random House, 256 Seiten, ISBN: 978-3-7645-0468-7
 Schon lange bin ich der Meinung, daß das politische Versagen des Bundestags nirgendwo so eklatant wie bei der Pflege am Ende des Lebens ist. Claus Fussek publiziert und informiert dazu seit 30 Jahren. Ohne Effekt. Für alte/kranke Leute gilt das Grundgesetz scheinbar gar nicht mehr.
Es ist der Preis des Fortschritts: Je weiter sich die medizinischen Fertigkeiten entwickeln, desto mehr Krankheiten und Unannehmlichkeiten erleben wir im präfinalen Zustand. 
Unsere Urgroßeltern waren nie so krank wie wir es als Geronten sein werden. 
Ganz einfach weil sie schon lange tot waren, bevor Herzklappen ausfielen, sich Alterskrebse entwickelten und Demenz zuschlug.

Professionelle Selbstinszenierer und Schwätzer wie Frau Käßmann werden populär damit einen rationalen Umgang mit dem Lebensende zu verdammen.
Ihre Totschlagworte in Talkshows lauten „Palliativmedizin“ und „Hospizbewegung.“

Tatsächlich werden in Deutschland wie verrückt Sterbehospize eingeweiht.
 Kinderhospize gibt es inzwischen so viele, daß sie anfangen erbittert um die Insassen zu konkurrieren.

Interessant daran ist, daß Hospize die teuerste Möglichkeit sind sein Lebensende abzusitzen und gleichzeitig die Unbeliebteste.
Niemand will „ins Heim“.
 In der weit überwiegenden Zahl der Fälle krallen sich die Menschen (verständlicherweise) an ihre gewohnte Umgebung und wollen zu Hause sterben.
 Es passiert aber das Gegenteil, weil Personen wie Daniel Bahr und Ursula von der Leyen die häusliche Pflege missachten.
Die Pflegesätze für Menschen, die ihre Angehörigen in den eigenen vier Wänden pflegen betragen nur 1/3 bis ½ von der Summe, die man stattdessen für „Sachleistungen“ bekäme.
Stationäre Pflege kostet sogar ein Vielfaches. Es entsteht ein Markt. Betreiber von Pflegeheimen können wie Ulrich Marseille (Marseille-Kliniken AG), Eugen Münch (Röhn-Kliniken) oder Bernard Broermann (Asklepios/Helios) zu Milliardären werden.
Ich hätte die 2,7 Milliarden Euro, die beispielsweise allein Herr Broermann laut Manager-Magazin sein Eigen nennt (konservativ geschätzt) lieber in den Händen der Patienten und Pflegebedürftigen gesehen, um ihnen dabei zu helfen zuhause zu bleiben.

Rätsel Mensch. 
Man soll und darf nicht sterben, aber wenn man schon stirbt, soll das möglichst lang hingezogen werden und weitab der Öffentlichkeit in Pflegeheimen passieren. Die Zukunft hat schon begonnen: Lästige pflegebedürftige Alte werden ins Ausland abgeschoben - aus den Augen, aus dem Sinn. Danke an die Christliche Bundesregierung.

Daß Individuen mit der individuellsten Angelegenheit überhaupt, nämlich dem eigenen Leben womöglich ganz anders umgehen wollen, ist in der veröffentlichten Diskussion nicht vorgesehen.

Beim Thema Sterbehilfe und Patientenverfügung reagieren Journaille und politische Klasse bemerkenswert unterkomplex; setzen einfach voraus, daß Suizide zu ächten und zu vermeiden sind.
Warum eigentlich?

SZ-Journalistin Nina von Hardenberg, die zu dem Thema schon enormen Unsinn verzapft hat, würdigt heute im Leitartikel der Süddeutschen den Leutheusser-Schnarrenberger-Gesetzentwurf für ein Verbot der Suizidhilfe.

Daß überhaupt eine andere Meinung möglich sein könnte, kommt ihr gar nicht erst in den Sinn - und das ist noch eine relativ liberale Stimme.
In einem Land wie Deutschland, das aufgrund seiner Geschichte ein besonders sensibles Verhältnis zum Thema Sterbehilfe hat, reicht eine moralische Begründung aus. Man muss die Umtriebe des Hamburger Ex-Senators Roger Kusch nicht billigen, der sich darin gefällt, in Altersheimen Sterbeautomaten vorzustellen. Man muss auch den deutschen Ableger der Sterbehilfeorganisation Dignitas nicht tolerieren, die lebensmüde Menschen in die Schweiz vermittelt. Solche Organisationen gehen mit der Not der Menschen zynisch um. Sie bieten scheinbar einfache Lösungen an, und senden damit ein fatales Signal an alle, die mit Lebenskrisen kämpfen.
(N.v.H. 27.12.12)
Umgekehrt wird ein Schuh draus: Es ist zynisch leidende Menschen mit dem Wunsch zu sterben allein zu lassen und ihnen NICHT dabei zu helfen. Es ist zynisch Dignitas zu verbieten und Menschen zum Leben zu verurteilen.
Wem es wirklich darum geht, die Zahl der Suizide in Deutschland zu senken, der muss ohnehin an anderer Stelle ansetzen. Es sind vor allem die Gesunden, die im Suizid eine einfache Lösung sehen, um einem Siechtum zu entkommen. Aus vielen Studien aber weiß man, dass Schmerzen nur selten der wichtigste Grund sind, warum Menschen sterben wollen. Meist steht vor dem Suizidwunsch der soziale Tod. Wenn Menschen niemanden mehr haben, der sie anruft und dessen Leben sie verfolgen können - und sei es auch nur in Gedanken - dann verlieren sie den Lebensmut. Wer also Suizide verhindern will, der muss hier ansetzen.
(N.v.H. 27.12.12) 
Wenn ich mir das ungeheure Leiden ansehe, das Sterben heutzutage so oft bedeutet, komme ich zu dem diametral gegenteiligen Schluß: Es sollte darum gehen die Zahl der selbstbestimmten Suizide zu erhöhen.
Ich habe in meinem Leben bisher dreimal aus allernächster Nähe (einmal über mehrere Monate, einmal sogar über drei Jahre, in einem dritten Fall überlebte die Person) qualvolle Sterbeprozesse miterlebt.
Todesursache war jeweils die Häufigste, die es gibt: Herz-Kreislauferkrankung. 
Klingt harmlos, ist es aber nicht. Die Herzschwäche führt dazu, daß die Lunge nicht mehr richtig arbeitet und das Perikard voll Wasser läuft. Man ertrinkt innerlich.
 Es kommt zu einem unendlichen Ersticken, permanenter Luftnot. Auf all die Nebenwirkungen, wie das Versagen des Verdauungssystems will ich an dieser Stelle nicht eingehen.

Wer mir im Brustton des moralischen Gutmenschentums erklärt „es“ gehe darum die Anzahl der Suizide zu senken, weiß offensichtlich nicht wovon er redet.
Der Suizidwunsch entsteht auch keinesfalls immer aus „sozialer Not“ wie es von Hardenberg suggeriert. Auch die sozial umsorgtesten Menschen müssen eines Tages sterben und dann wird es leider sehr oft hässlich.

Im Übrigen ist es eine Anmaßung die Begründungen für einen Suizidwunsch moralisch zu bewerten.

Das geht weder Frau von Hardenberg, noch Frau Leutheusser-Schnarrenberger, noch Frau Käßmann irgendetwas an.
Es wird immer Menschen geben, die aus kaum nachzuvollziehenden Gründen sterben möchten.
Entscheidend ist ihr Wunsch und nicht, ob dieser verständlich ist.
Es sollte ein generelles Menschenrecht auf Sterbehilfe geben.
Für sehr viele Bürger wäre das eine ungeheure Erleichterung.
Das gilt auch für „partielles Sterben.“
Wenn sich ein gesunder Mensch morgen ein Bein amputieren lassen möchte, weil er es nicht als zu seinem Körper gehörig empfindet, ist es moralisch nicht am Gesetzgeber dies zu verbieten.

Beeindruckt war ich heute aber auch von der sprachlichen Perfidie des Hamburger Erzbischofs Thissen.
Wenn man bedenkt, daß er über viele Jahre eine staatlich finanzierte Rhetorik-Ausbildung (vulgo: „Theologiestudium“) genossen hat, ist sein Ausfall umso erschreckender.
Hamburgs Erzbischof Werner Thissen nannte die Rüstungsexporte "organisierte Sterbehilfe". Die Welt sei "voll von Gewalt, und wir in Deutschland tragen dazu bei", sagte Thissen in seiner Weihnachtspredigt im Hamburger St.-Marien-Dom. Er fügte hinzu: "Panzer und anderes Kriegsmaterial verkaufen wir zum Fest des Friedens in den Süden."
Er geißelt (zu Recht) Waffenexporte, die aber erlaubt sind und gerade von seinen christlichen Parteien gefördert werden, indem das Wort „Sterbehilfe“ und damit ein Humanistisches Recht abfällig benutzt.

Eine der übelsten Machenschaften, die es überhaupt gibt, nämlich den organisierten Waffenhandel, wirft der Hamburger Metropolit mal eben in einen Topf mit einem Akt, den eigentlich schon die Nächstenliebe gebieten sollte.

Aber was versteht schon ein Bischof von Nächstenliebe?