Coaches und Therapeuten stürzen sich darauf. „Du schaffst
das!“.
Überall wird die Selbstoptimierung gepriesen. Neue Frisuren,
Muskeln oder in der kostengünstigen Variante Motoröl-Injektionen in Arsch und
Lippen – irgendwie wird man schon so hübsch und selbstsicher, daß man im
Selfie-Zeitalter mithalten kann und seinen Beitrag zur sekündlichen Grinsebilderflut
im Internet leistet.
Offensichtlich fruchten die Therapien wider die Scham ganz
hervorragend.
Die TV-Reality-Formate fluten den Bildschirmen mit einem nie
enden wollenden Strom kleiner Selbstdarsteller, die völlig talent- und sinnfrei
vor den Kameras turnen und dem Irrglauben erliegen die Welt warte nur auf sie.
Wer nur irgendwie verschwippschwägert mit einem C-Trashpromi
ist, weil er beispielsweise „einmal den Wendler gebumst hat“, ist schon so
berühmt, daß er es in die Königsdisziplin aller Promis, das RTL-Dschungelcamp, geschafft hat.
Die Exen von Wendler und Büchner? Wenn das später mal auf
dem Grabstein steht, hat man sein Leben wirklich sinnvoll genutzt.
Scham, Schüchternheit, Sozialphobie, Selbstzweifel, Ängste, Introvertiertheit
und Hemmungen unter allen Umständen zu bekämpfen und ins Gegenteil zu verkehren
ist so sehr Allgemeingut geworden, daß man zum Jahreswechsel nach nur drei
Minuten Social-Media bereits eine Coaching-Floskel-Überdosis erleidet.
Wir sind alle Kämpfer! Niemals aufgeben! Ich stehe zu mir!
Ich bin wie ich bin! Ich bin nur ehrlich! Ich ziehe keine Show ab! Fallen ist
OK – liegenbleiben ist eine Sünde. Entdecke Dein Potential. Kopf hoch, Brust
raus!
Ich kann es nicht mehr hören. Coaching und Therapien sollten
für diejenigen reserviert bleiben, die psychisch erkrankt sind; da besteht
ausreichend Bedarf.
Natürliche Scham und Schüchternheit haben sich inzwischen
zur echten Mangelware entwickelt.
Dabei wäre sie vielfach durchaus wünschenswert. Ich möchte
nicht von jedem „Promi“, Nachbarn, Bekannten Details aus seinem Sexualleben,
Kostproben seiner nicht vorhandenen Gesangs- oder Poetryslamtalente, Nahaufnahmen
von Tattoos, Narben oder Piercings, Penislängen, Brustumfänge und Bilder
sämtlicher Haustiere sehen.
Sicherlich gibt es immer Menschen, die genau das
interessiert, aber das gilt nicht grundsätzlich für alle.
Das von der Süddeutschen Zeitung zum „Jahr der Scham“
ausgerufene 2019 ist in dieser Hinsicht durchaus zu begrüßen.
Scham ist gut. Ich plädiere für noch viel mehr Scham.
Homo Sapiens sollte sich wirklich schämen.
[…..] 2019 war das Jahr der Scham. Doch nicht jeder empfand Scham
gleichermaßen. Der eine errötete, wenn er in ein Flugzeug stieg (Flugscham).
Der andere, wenn er in ein Schnitzel biss (Fleisch-Scham). Manchen reichte es
auch einfach nur, sich Cristiano Ronaldos Jahresendzeit-Grüße auf Twitter
anzusehen (mit Freundin, Cola und Kleenex-Tüchern im der Stretch-Limo,
Fremdscham also). Der Mensch, er ist halt "Ehre und Scham des
Universums" zugleich (Blaise Pascal). Haben wir gerade der gesagt? Pardon,
auch sie und es natürlich (Gender-Scham). […..] Vermehrungs-Scham Was das
ist: Der Erdüberlastungstag, berechnet von der Organisation „Global Footprint“,
fiel 2019 auf den 29. Juli – früher als je zuvor in der Geschichte der
Menschheit. Das Budget der Natur für das ganze Jahr ist also immer früher
aufgebraucht, auch durch steigende Bevölkerungszahlen. 2100 sollen laut UN elf
Milliarden Menschen auf der Erde leben.
[…..] Müll-Scham
Was das ist: Eigentlich müsste man jetzt noch den Tesa-Film von der Verpackung
reißen und die Metallklammer vom Teebeutel lösen. […..] Fleisch-Scham
[…..] Internet-Scham Was das ist:
Einmal googeln verbraucht ebenso viel Energie wie eine
11-Watt-Energie-Sparlampe in einer Stunde. Zeit also, sich endlich einmal zu
schämen für die dämliche Dauer-Klickerei. Und völlig egal, mit welchem Endgerät
wir gerade durchs Netz surfen: Digitale Technologien tragen zu vier Prozent der
globalen Treibhaus-Emissionen bei.
[…..] Geschlechter-Scham
[…..] Haustier-Scham Was das ist:
Je größer das Haustier, desto schlechter für die Umwelt. Ein Labrador gilt im
Vergleich mit einem Goldhamster, einem Wellensittich oder einem Goldfisch als
Klimasünder – in der Jahresbilanz ist er so umweltschädlich wie eine 3700
Kilometer lange Autofahrt. Das ist das Ergebnis einer Schweizer Studie zur
Ökobilanz von Haustieren.
[…..] Fußball-Scham
[…..] Heizpilz-Scham
[…..] Weltkonzern-Scham […..]
Bleibt nur zu hoffen, daß sich Vermehrungsscham, Flugscham,
Müllscham und Haustierscham 2020 prächtig weiter entwickeln. Bisher war die
Scham noch zu rudimentär; es folgten keine Konsequenzen. Wir fliegen immer
mehr, fressen immer mehr Fleisch, verbrauchen mehr Ressourcen.