Samstag, 3. August 2024

Mehr als das kleinste Übel

Für die US-Doublehater habe ich nur Verachtung übrig.

Genauso erbärmlich sind die deutschen Nichtwähler, die ein paar BILD-Schlagzeilen auf Facebook folgend, erklären „die Politiker sind doch alle gleich“.

Willkommen in der Realität; es gibt kein Recht auf anstrengungslose Informationen und maßgeschneiderte Lieblingspolitiker, die zu 100% die Meinung eines Wählenden vertreten und dazu auch noch bescheiden, moralisch einwandfrei, sexy und gutaussehend sind.

Wählen ist kein Wunschkonzert/ Demokratie ist kein Ponyhof/ Das Parlament ist kein Bullerbü – man möge sich seine Lieblingsmetapher aussuchen. Aber der Preis dafür, in einem funktionierenden Rechtsstaat zu leben, in dem es Schulen, Krankenhäuser, Rentenversicherung, Müllabfuhr, fließend sauberes Wasser, Strom, unabhängige Presse, befahrbare Straßen, öffentlichen Nahverkehr und Polizei gibt, ist nun mal der, sich auch für das Allgemeinwohl zu engagieren:

Ehrenamtlich helfen, als Wahlhelfer arbeiten, Blut spenden, sich als Schöffe zu Verfügung stellen, in eine Partei eintreten und vieles andere mehr. Aber das allermindeste, das man tun muss, ist wählen.

Wer sich dem verweigert, könnte in einer autokratischen Willkürwelt ohne Individualrechte aufwachen. Mit Glück. Es könnte auch eine postapokalyptische Madmax-Welt sein, in der Kannibalismus herrscht und das Recht des Stärkeren gilt.

 „Die“ Politiker und „die“ Parteien sind nicht gleich. Wenn es keinen Kandidaten gibt, den man vom Fleck weg heiraten möchte, dann hat man gefälligst peu à peu seine Ansprüche herunterzuschrauben, bis man einen findet, der infinitesimal weniger scheiße, als die anderen ist.

Wenn alle Bundestagskandidaten Verbrecher wären, müsste man den am wenigsten verbrecherischen raussuchen.

Es gilt, das kleinste Übel zu finden. Aber das ist ein Extremfall, der sich nur für verschwörungstheorieaffine Aluhüte so darstellt.

In Wahrheit gibt es in den meisten Partei- und Wahlprogrammen eine Fülle von Punkten, die man voller Überzeugung unterschreiben kann. Auch wenn ich niemals CDU oder FDP wählen könnte; selbst in deren Grundsatzprogrammen findet sich meines Erachtens Zustimmungsfähiges. 

[….]  Staat muss funktionieren! Deutschland braucht eine umfassende Staats-

und Verwaltungsreform. Wir müssen staatliche Prozesse schneller und

effizienter machen. Dafür brauchen wir neue Strukturen und Arbeitsweisen:

leistungsfähige Parlamente, digitale Behörden und weniger Bürokratie. Mit

einer Föderalismusreform wollen wir die Bund-Länder-Beziehungen neu

regeln. Demokratie braucht Demokraten! Wir wollen zum Mitmachen in Staat und Gesellschaft ermutigen, politische Beteiligung auch jenseits von Wahlen

ermöglichen und dazu innerparteiliche Willensbildung stärken.  […..]

(CDU 2023)

[…..]  Wir Liberalen wollen deshalb das Zusammenleben freier Menschen

gestalten – in einer Gesellschaft freier Bürger. Wir nennen sie die freie,

offene Bürgergesellschaft. Dieses liberale Projekt der Wiesbadener

Grundsätze schreiben wir in unseren Karlsruher Freiheitsthesen fort.

Das heißt zunächst: Jeder Mensch soll faire Chancen haben, seine eigenen

Talente und Ideen entfalten, von seiner eigenen Arbeit leben und nach

eigener Façon glücklich werden zu können. Zu seinem eigenen Nutzen

und zum Nutzen der Gesellschaft. Dafür wollen wir die Voraussetzungen

schaffen. Das ist das Ziel liberaler Chancenpolitik: Toleranz gegenüber

anderen, die Bildung und Befähigung mündiger Menschen zu selbstbestimmtem Leben und die gesellschaftliche Teilhabe aller.   […..]

(FDP 2012)

Fast alle Menschen, die alle Parteien für gleichermaßen schlecht halten, wissen nichts über deren Parteiprogramme, weil sie selbst dumm wie Bohnenstroh sind und außerdem viel zu faul, um tatsächlich die Partei-Grundsatzprogramme zu lesen, bevor sie sie in Bausch und Bogen verurteilen.

Das sind nun einmal die Hauptkennzeichen unserer Demokratie: Apathie und Borniertheit.

Bei Parteien, die mir näher stehen, Grüne und Linke zB, gibt es sogar eine ganze Menge sinnvolle Dinge in den verschiedenen Programmen.

Und, wenig überraschend, die Partei, in der ich Mitglied bin, die SPD, bietet sogar weit überwiegend Programmpunkte, die ich unterschreiben kann. Zu 100% Übereinstimmung reicht es auch da nicht und in der praktischen Politik mit realen Politkern habe ich auch in meiner RGG-Blase viel zu stöhnen und zu seufzen. Es gibt sogar mächtige Parteichefs, die ich für echte Katastrophen halte.

Charakterlich und inhaltlich.

Ich bin gegen eine Ausweitung der plebiszitären Elemente, für komplette Drogenfreigabe, ein Recht auf aktive Sterbehilfe und akribische Trennung zwischen Kirche und Staat. Ich will keine Kirchenfuzzis in Rundfunkräten und Ethikkommissionen, ein Ende der kostenlosen Polizeieinsätze für die Fußballbundesliga, Schluss mit öffentlichen Geldern für Sportübertragungsrechte, Aberkennung von Homöopathie und Heilpraktiker-Unfug als Kassenleistung. Blasphemie- und Inzest-Paragraph gehören abgeschafft, dafür aber freiwillige Polygamie erlaubt. Alles Dinge, die auch unter Rotgrün nicht passieren werden, da sie nicht mehrheitsfähig sind.

Trotzdem zahle ich Mitgliedsbeiträge an meine Partei und wähle sie auch. Sie ist nämlich nicht nur das kleinere Übel vergleichen mit anderen Parteien, sondern vertritt in der Mehrzahl der Fälle meine Position.

In der Realpolitik gibt es nie zu 100% die Politik einer Partei. Das Wesen des parlamentarischen Demokratie ist der Kompromiss, auch wenn das bedauerlicherweise kaum verstanden wird und sich die allermeisten Wähler bei jedem Kompromiss sofort fürchterlich betrogen fühlen und schwören, die Partei nie mehr wieder zu wählen. Dabei ist Kompromissfähigkeit eine positive Eigenschaft.

Kompromisse sind das Wesen der Demokratie.

Unglücklicherweise wird das im Zeitalter der Informationsfilterblasen und der immer rüderen Artikulation von Maximalforderungen immer weniger verstanden.

Legendär ist die Aussage des damaligen SPD-Parteivorsitzenden Müntefering nach der Abwahl Gerhard Schröders, als er sich beklagte wie unfair es sei die SPD an ihren Wahlversprechen zu messen.

Bis heute wird das den Sozis höhnisch und voller Häme als Eingeständnis der Unzuverlässigkeit ausgelegt.

(…..) Mir tut heute noch Franz Müntefering Leid, den vor der Erfindung des Ausdrucks „Shitstorm“ ein solcher ereilte, nachdem er 2005 beklagt hatte es sei unfair die Parteien immer an den Wahlversprechen zu messen.

Das wollten alle nur zu gerne falsch verstehen. In der „Heute-Show“ von letzter Woche wurde Müntefering unter dem Gejohle des Publikums erneut mit diesem Spruch vorgeführt.

Gemeint hatte der damalige SPD-Chef natürlich nicht, daß Parteien generell lügen.

Vielmehr beklagte er die Zwänge einer großen Koalition, in der die SPD zu allem Übel auch nur Juniorpartner war.

ALLE Wahlversprechen kann und muß man umsetzen, wenn man die absolute Mehrheit bekommen hat. Eine absolute Mehrheit der SPD wollte der Wähler aber ganz offensichtlich NICHT.

Natürlich kann ein Koalitionsvertrag nicht zu 100% dem Wahlprogramm einer Partei entsprechen.

Viele Köche haben in den Koalitionsverhandlungen die Chance den Brei zu verderben.

Es ist tatsächlich unfair vom Wähler eine Partei an den Wahlversprechen zu messen, wenn er diese Partei durch ein mickriges Stimmenergebnis selbst daran hindert diese Versprechen 1:1 umzusetzen. (….)

(Koalitionsverhandlungen, 25.10.2013)

Angesichts dessen, was uns bei einem Scheitern der Ampel droht, wenn völkische Rechtspopulisten und radikal unfähige Spahns und Scheuers an die Macht kommen, verteidige ich die Ampel natürlich so laut und aktiv, wie ich kann.

Denn in der realen Welt geben die demoskopischen Zahlen keinerlei Chance auf eine bessere, linkere Mehrheit ohne die FDP her.

Die Ampel ist gegenwärtig tatsächlich das kleinste Übel. Also bin ich Ampelaner.
Auch, wenn es verdammt schwer fällt.