Nichts ist so alt, wie die Zeitung von gestern. Oder von heute. Gerade las ich in der Hamburger Morgenpost, weswegen nicht Lars Klingbeil und nicht Hubertus Heil die neue Lambrecht würden, sondern alles auf Eva Högl hinausliefe, da tickerten die Boris Pistorius-Meldungen.
Wie wir inzwischen wissen, informierte die Noch-Verteidigungsministerin den Bundeskanzler vor genau 14 Tagen über ihren Rücktritt. Zwei Wochen ganz ohne Leck sind im politischen Berlin ein Wunder, welches für das Funktionieren des Scholzschen Machtapparates spricht.
Nun könnten die allwissenden Medienhäuser, die so genau wissen was Lambrecht und die gesamte Ampel alles falsch machen, fünf Minuten innehalten und einräumen in den letzten Tagen bei ihren Personalspekulationen vollkommenen Unsinn publiziert zu haben, nur ahnungslos im Nebel gestochert zu haben. Peinlicherweise hatte kein einziger Journalist richtig gelegen.
Stattdessen brach das Scholz-Bashing aus. Der Lügner habe sein Paritätsversprechen gebrochen.
Die Grüne Ampelanerin Ulle Schauws tutete ebenfalls in das Horn. Zu Pistorius kein Wort. Zur Qualifikation des neuen Amtsinhabers kein Wort. Dafür aber über sein Geschlecht. Ein Penisträger als Minister? Das kann sie nicht akzeptieren.
[….] „Das klare Versprechen von Olaf Scholz, beim Start der Regierung ein paritätisch besetztes Kabinett zu bilden, war wichtig und im Sinne der Gleichberechtigung ein zeitgemäßes, richtiges Signal. Wir Grüne stehen klar zum Grundsatz der Parität. Darum ist es mehr als enttäuschend, wenn der Kanzler bei der ersten Hürde dieses Ziel über Bord wirft. Er muss sich an dem progressiven Kurs messen lassen, den er gesetzt hat.“ [….]
Ja, Frauen werden in der Politik massiv benachteiligt. Ja, alle Appelle an freiwillige Frauenförderung waren vergebens. Ja, deswegen muss es Quoten geben. Ja, deswegen hatte Olaf Scholz Recht, sein Kabinett paritätisch zu besetzen. Ja, daher war es richtig von der SPD, die Männerminister-Riege der FDP zu kompensieren.
Frau Schauws vergleicht aber Äpfel mit Birnen.
Die Bundestagswahl war am 26.09.2021. Die neuen, paritätisch ausgewählten Minister wurden am 08.12.2021 vereidigt.
Man kann und soll einen Pool von 16 Personen innerhalb von zweieinhalb Monaten ausgewogen besetzen.
Es ist aber etwas anderes, quasi über Nacht, einen einzigen Posten zu besetzen, wenn dabei 50% der Deutschen wegen ihres Geschlechts ausgeschlossen sein sollen.
Außerdem; das mag Frau Schauws noch nicht mitbekommen haben; es herrscht Krieg in Europa. Die Bundeswehr ist jetzt gefordert. Es ist wahrlich keine Situation, in der man eine Fachfremde wie Uschi von der Leyen, Karliczek oder AKK erst einmal mit einem Jahr Schonzeit sanft anschiebt, um sich so langsam mal in das Thema einzulesen.
Der mehr als unangenehme Ukrainische Vizeaußenminister donnert schon mit Maximalforderungen gen Boris Pistorius los, bevor dieser überhaupt Minister ist.
[….] Der stellvertretende ukrainische Außenminister und frühere Botschafter in Deutschland Andrij Melnyk erwartet vom neuen deutschen Verteidigungsminister Boris Pistorius schnelle Militärhilfe. Berlin müsse Kiew »massiv mit schweren Waffenlieferungen« unterstützen, sagte Melnyk gegenüber »t-online.de« Dazu zählten aus seiner Sicht »Kampfpanzer, Kampfjets, Kriegsschiffe, Mehrfachraketenwerfer, Artillerie, Flugabwehr und natürlich ausreichend Munition«. Pistorius müsse »viel entschlossener und schneller« agieren als seine Vorgängerin Christine Lambrecht. Zugleich ergebe sich für den SPD-Mann eine Chance: »Damit kann er beweisen, dass Deutschland seine Verweigerungstaktik für immer ad acta gelegt hat.« […]
Ein Deutscher Minister nach Melnyks Gnaden? Ein Ukrainischer Vizeminister gibt dem designierten deutschen Minister Anweisungen, was er tun „muss“?
Das gibt schon einen Hinweis darauf, weswegen Verteidigung, neben Gesundheit, als das unangenehmste Ministerium gilt. Das will niemand haben und im Kriegsfall schon mal gar nicht.
Christine Lambrecht wäre als erfahrene Ministerin und Verwaltungsjuristin womöglich die Richtige gewesen, um eine monströse Strukturreform der Bundeswehr zu dirigieren.
Dann kam aber „der Ernstfall“ und traf auf eine Armee, die von 16 Jahren CDUCSU-Herrschaft völlig handlungsunfähig und demoralisiert hinterlassen wurde. Schon ein halbes Dutzend Minister versagten bei der Herkulesaufgabe, das Bundeswehrbeschaffungswesen wieder funktionsfähig zu machen. Journalisten können auch nicht sagen, wie das funktionieren sollte und warfen sich umso geiferiger auf Äußerlichkeiten wie Lambrechts Schuhe und ihre Frisur.
Für Scholz und Lambrecht war klar: So geht es nicht weiter. Es braucht einen Neuanfang und zwar einen Kaltstart. Ohne Schonfrist. Gesucht wird eine fachwissende Person mit Minister-Erfahrung, die über viel Autorität verfügt, mit der Bundeswehr vertraut ist und so eine Aufgabe unbedingt haben will.
Ich bin überzeugt; hätte sich dem Bundeskanzler so eine Frau angeboten, wäre sie jetzt Lambrechts Nachfolgerin.
Aber; den Job will kaum einer und die Bundeswehr hat, ob wir es wollen oder nicht, eine weitüberwiegend männliche Personalstruktur. Unter den Abgeordneten aller Parteien, gibt es im ministrablen Alter keine Frauen, die „gedient haben.“
Das ist nicht Schuld der Frauen, das ist nicht die Schuld des Kanzlers, sondern eine soziologische Tatsache.
Es ist jetzt Zeit, den oder die Bestqualifizierte zu nehmen und nicht zunächst einmal die Person mit der Vagina.
Boris Pistorius könnte sich zum Glücksfall für die Ampel mausern.
[….] Was in der Bundeswehr mit Sicherheit gut ankommen wird: Pistorius hat gedient, von 1980 bis 1981 in der Steuben-Kaserne in Achim bei Bremen. Darauf schaut man in der Truppe immer noch, wenn ein Mann seines Alters an die Spitze rückt. Das heißt ganz praktisch: Dem muss man nicht erklären, wie die Bundeswehr funktioniert. In der Kaserne, in der er seinen Wehrdienst abgeleistet hatte, war unter anderem die Heeresflugabwehr mit dem Gepard stationiert, jenem Typ Flakpanzer also, der der Ukraine in diesen Monaten so sehr bei der Verteidigung des Landes gegen Luftangriffe hilft und den die Bundeswehr bei sich vor mehr als zehn Jahren ausgemustert hat. Die Auflösung der Heeresflugabwehr ist zum Symbol für die vielen Fehlentwicklungen in der Bundeswehr geworden. [….] Pistorius hat sich in den vergangenen Jahren einen Ruf als profilierter Sicherheitspolitiker erarbeitet. In der Welt der Uniformen bewegt er sich ohne Anpassungsschwierigkeiten, auch wenn es bislang vor allem Polizisten waren, um die er sich gekümmert hat. Pistorius ist seit 2013 Innenminister in Niedersachsen. Zuvor war er Oberbürgermeister der Stadt Osnabrück, der Geburtsstadt des Bundeskanzlers.
In seinem Umfeld wird auch auf die Herausforderungen durch Cyberangriffe und beim Katastrophenschutz verwiesen, hier bringe er viel Erfahrung mit. [….] Auf Pistorius warten ereignisreiche Tage: Am Donnerstag kommt gleich nach der Vereidigung US-Verteidigungsminister Lloyd Austin nach Berlin. Am Freitag trifft sich die Ukraine-Kontaktgruppe auf dem US-Stützpunkt Ramstein in Rheinland-Pfalz, um über weitere Waffen- und Panzerlieferungen an die Ukraine zu beraten. Es wird die Premiere für Pistorius auf internationalem Parkett werden, gleich mit wichtigen Entscheidungen. [….]
(SZ, 18.01.2023)