Seit den frühen 1980er Jahren verfolge ich intensiv jeden
Landtags- und Bundestagswahlkampf. Unzählige Mal wunderte ich mich darüber,
wenn mir jemand sagte, es genüge doch um 18.00 Uhr die Prognose im Fernsehen
anzuschalten und dann wisse man auch Bescheid.
Nicht könnte verkehrter sein. Das eigentlich Interessante
ist es nämlich vorher die Mechanismen der Demokratie zu analysieren und so
Wahlentscheidungsprozesse nachzuvollziehen.
Das ist ein komplexes Unterfangen, da es nicht „den Wähler“
gibt, der einen Kurs bestätigt, indem er einer Partei eine Mehrheit verschafft.
Es gibt stattdessen einzelne Wähler, die sich aus rationalen
und vielen irrationalen Gründen für diese Partei entschieden und andere Wähler,
die genau das eben nicht wollten.
Hatte die CDU einst 30% und erringt bei der nächsten Wahl
20%, hat sie damit mathematisch 33% = 10 Prozentpunkte verloren.
Die politische Deutung lautet meistens „der Wähler ist heute
viel unzufriedener mit der CDU als vor fünf Jahren“.
Das ist aber viel zu pauschal und kann möglicherweise ganz
anders sein.
Vielleicht waren die CDU-Wähler vor fünf Jahren noch viel
unzufriedener mit der Partei, wählten sie aber dennoch, um einen noch viel
unsympathischeren Gegenkandidaten zu verhindern.
(Beispiel Kretschmer vs AfD bei der Landtagswahl am 1.
September 2019, Chiracs 82%-Sieg über Le Pen am 5. Mai 2002)
Die 20%, die fünf Jahre später die CDU wählten, taten das
womöglich aus tiefer Überzeugung und Begeisterung für den neuen Kurs.
Trends sind extrem wichtig. Die unentschlossenen Wähler (das
können noch in der letzten Woche vor der Wahl 30 oder 40 Prozent der
Wahlberechtigten sein) werden psychologisch davon beeinflusst wer der Sieger
sein könnte. Niemand will am Ende die Partei gewählt haben, die verloren hat.
Die Wähler springen auf einen Zug auf, weil sie unabhängig
von ihren eigentlichen Überzeugungen zu den Siegern gehören wollen.
Daher verbreiten die Wahlkämpfer auch bis zum Schluss
geradezu abstruse Zuversicht.
Die Zuversicht darf aber nicht zu extrem ausfallen, denn
sobald die Wähler denken, das Ergebnis stünde ohnehin fest, gehen sie gar nicht
mehr zur Wahl. Sie wollen einerseits gern für den späteren Sieger stimmen, aber
andererseits soll das Rennen doch noch so offen sein, daß sie mit ihrer Stimme
den Ausschlag geben könnten.
Während sie manipuliert werden, wollen Wähler unbedingt sicher
sein auf gar keinen Fall manipuliert zu werden und alles zu durchschauen, sonst
sind sie beleidigt und bleiben schmollend zu Hause – in dem grotesken
Irrglauben, dadurch gäbe es anschließend weniger Abgeordnete oder schlechter bezahlte
Minister.
Das Wetter spielt eine große Rolle, weil die meisten
Wahlberechtigten zu desorganisiert und planlos sind, um Briefwahl zu
beantragen. Ihnen fällt erst am Wahlsonntag ein wählen zu gehen. Wenn es dann
aber regnet, haben sie keine Lust das Haus zu verlassen.
Zu toll darf das Wetter aber auch nicht sein, denn dann könnten
sie sich am Freitag schon dazu entschlossen haben ein langes Wochenende auf
ihrer Datsche an der Ostsee oder den Bergen zu verbringen, wo sie nicht mehr
zum Wahllokal kommen.
Wer einmal Straßenwahlkampf beobachtet hat und weiß wie
Passanten auf Parteienstände reagieren, verabschiedet man sich auch von der
Illusion, sie wüßten welche Politiker für welche Positionen stehen.
Sie kennen zwar die Wichtigsten wie Merkel oder Schäuble
oder Scholz, haben ganz sicher eine Meinung zu ihnen, aber deswegen haben sie
noch lange keine Ahnung in welchen Parteien sie sind.
Zig Millionen Euro werden dafür ausgegeben, daß sich Profi-Werber
in großen Agenturen den Kopf über die Kleidung und Frisuren der Kandidaten
zerbrechen. Unterschiedlichste Outfits werden von Marktforschern in Testgruppen
ausprobiert.
Bundeskanzler Schröder zog ein einziges mal für eine
Werbekampagne einen Brioni-Maßanzug an und war für immer als der „Brioni-Kanzler“
gebrandmarkt.
Viele Wähler sind stets in Denkzettellaune. Sie ärgern sich
über irgendeine Entscheidung der Groko, die womöglich auf Druck der CSU durchgesetzt
wurde und zahlen es ihrem lokalem SPD-Abgeordneten in Bremen heim, der diese Entscheidung
genauso ablehnt.
Kommunale Probleme sind umgekehrt immer wieder Anlass dafür
Bundespolitiker mit Stimmenentzug zu strafen.
Wenn der Lieblingsparkplatz vor der Tür durch einen Poller blockiert
wurde oder der Eintrittspreis des Lieblingsschimmbades erhöht wurde und dafür
auch nur im entferntesten Sinne irgendein CDU-Politiker der Bezirksversammlung
Mitverantwortung trägt, bekommt Angela Merkel bei der Bundestagswahl womöglich
eine Stimme weniger.
Generell werden die Verantwortungsebenen munter vertauscht.
Landesregierungen mit vorbildlicher Bilanz müssen Prügel für EU-Entscheidungen oder
Bundespolitik einstecken. Und umgekehrt bekommt ein hervorragender EU-Kandidat
der SPD vielleicht keine Stimme, wenn ein Wähler bei einer Informationsveranstaltung
über die Verlegung einer Bushaltestelle, die sozialdemokratische Bezirksvertreterin
unsympathisch fand.
Einige Wähler haben hingegen immer noch die sogenannten „längerfristigen
Grundüberzeugungen“. Ein Schweinezüchter in Cloppenburg-Vechta wählt immer CDU,
auch wenn der Kandidat ein pädophiler Krimineller mit abstoßender Physiognomie
und Mundgeruch ist. Genauso gibt es in Hamburg-Eimsbüttel oder Berlin-Kreuzberg
urgrüne Milieus, bei denen anderen Parteien gar nicht erst angeguckt werden.
Wieder anderen geht der Lokalkolorit über alles. So erging
es dem Hamburger Kurzeit-Bürgermeister Christoph Ahlhaus, der als geborener
Heidelberger nicht nur ein Quiddje war, sondern auch anders
als die Quiddje Scholz und Tschentscher vollkommen unfähig war seinen
schwäbischen Habitus hinter sich zu lassen und auf ganzer Linie unhanseatisch
wirkte.
Da konnten eine rechte Hamburger noch so begeistert von
stramm konservativen Ahlhaus sein, aber sie wollten wieder einen Hamburger als
Hamburger Bürgermeister.
Sogar die Konfession spielt noch eine Rolle, wie der
abgewählte protestantische Ministerpräsident Beckstein in Bayern erleben musste.
Nur 43,4% bei der Landtagswahl im Jahr 2008 waren das Aus.
Er wurde in die Wüste geschickt. Aber auch solche Regeln ändern sich.
Markus Söder ist evangelisch und Franke – über viele
Jahrzehnte wäre das in der oberbayerisch dominierten CSU ein
Ausschlusskriterium für den Ministerpräsidentenjob gewesen.
Bei der Landtagswahl 2018 debakulierte Söder auf 37,2%, noch
mal über sieben Prozentpunkte weniger als das Beckstein-Desaster.
In dem einen Jahrzehnt hatte sich aber die Großwetterlage
völlig verändert. Söder wurde nicht nur nicht in die Wüste geschickt, sondern
stieg zum unumstrittenen Alleinherrscher auf, der nun in der gesamten Union bewundert
wird.
Eine eher untergeordnete Rolle spielen die politischen
Erfolge der Wahlkämpfer. Die Bilanz eines Ministerpräsidenten ist keineswegs
ausschlaggebend für den Wahlkampferfolg.
Nahezu irrelevant sind die Partei- und Wahlprogramme.
Die werden außer von einigen Journalisten und wenigen
Delegierten nicht gelesen und sind in der weit überwiegenden Mehrheit der
Bevölkerung ganz und gar unbekannt.