Montag, 30. Dezember 2019

Hühnerauge zudrücken.


Californische Youtuber erscheinen aus Perspektive der Ost-Küste und erst Recht von Europa aus betrachtet extreme Blasen-Wesen zu sein, die jeden LALA-Land-Witz verdienen.
Extreme Beschäftigung mit sich selbst und dazu eine bizarre Mischung aus politischem Desinteresse und gleichzeitiger Hypersensibilität für politische Correctness.
Da machen aufgeklärte, ökobewußte, genderfluide Leute täglich Videos für ihre 10, 20 oder 30 Millionen Follower ohne ein Wort darüber zu verlieren, daß Präsidentschafts- oder Kongresswahlen sind.
Trump finden sie zwar alle doof, aber wichtiger sind ihre neuen Schminkutensilien, Tiktok-Videos, Gucci-Sandalen oder Feuchtigkeitsmasken nach dem Gym.
Das völlig aus dem Ruder geratene Influencer-Wesen führt dabei zu einer Geschmacks-Nivellierung, die ich so noch nie irgendwo beobachtet habe. Die Häuser haben alle den gleichen Schnitt, die Frauen die gleichen Lippen und Brüste, die Männer die gleichen Figuren, die Kinder die gleichen Interessen. Alle fahren die immer gleichen SUVs, tragen dieselben Farben und streben nach dem Einheits-Lifestyle.
Wieso einen das kümmern muss?
Muss es nicht, aber Kalifornien mit seinen 40 Millionen Einwohnern ist auch eine ökonomische und kulturelle Supermacht.
Mit beinahe drei Billionen Dollar Bruttoinlandsprodukt ist der Westküstenstreifen die mit Abstand wichtigste Wirtschaftsregion der USA und wäre für sich allein betrachtet nach den USA, Japan, China und Deutschland die fünftgrößte Macht der Welt.
Diese eben noch so geschmähten ewig lächelnden sonnigen Youtuber beeinflussen nicht nur die Jugend weltweit, sondern machen dabei auch noch zig Millionen Dollar allein mit der Youtube-Werbung, let alone die vielfache Summe, die sie mit Merch und Werbedeals einkassieren.
Man kann diese schillernde Glitzerwelt belächeln.
Aber immerhin können die exaltierten Wesen, die wie zum Beispiel die Dolan-Twins, zwei Teenager mit elf Millionen Followern, die nichts besonders vollbringen, sondern einfach für ihr Berühmt-Sein berühmt sind, oder James Charles, der immerhin schon reife 20 Jahre alt ist und seine mehr als 16 Millionen Follower mit Variationen seines Lidschattens entzückt, durch ihren gewaltigen Einfluss auch zur Liberalisierung der Gesellschaft beitragen, indem sie konsequent gegen Fat-Shaming, Rassismus und andere Formen der Diskriminierung vorgehen. Da haben die Heten-Jungs keinerlei Berührungsängste mit ihrem Homo-Altersgenossen, sie fahren Tesla, um die Umwelt zu retten und betonen bei all ihren Merch-Produkten „it is vegan! It is cruelty-free!“
Sie sorgen sich um die Waldbrandgefahr und essen gluten-free.
Man kann das natürlich belächeln.     
Aber als Gegenpol zu den Abscheulich-Amerikanern wie Don Trump Jr., der als lupenreiner Rassist den Klimawandel für eine „hoax“ hält, als Waffenlobbyist auftritt und durch die Welt reist, um vom Aussterben bedrohte Tierarten wie das Argali abzuknallen, lobe ich mir jeden angeökten gelifteten Jung-Kalifornier mit Louis-Vuitton-Täschchen und lackierten Fingernägeln.
Allzu kritisch darf man natürlich nicht hinsehen, wenn diese Menschen Pro-Greta-Thunberg-Memes teilen, während sie im Privatjet von LA nach Las Vegas fliegen, um sich zu schminken.
Oder aber nur so ein bißchen im eigenen Jet rumfliegen, um zu sehen wie viele Hamburger man währenddessen fressen kann.
Aber zum Glück sparen sie ja wieder mit der Tesla-Flotte beim CO2-Ausstoß.
Die konsequente Umsetzung ihrer modernen Überzeugungen ist natürlich so eine Sache, wenn das neue Wangen-Glitter-Zeug für 50 Dollar als „it’s vegan!“ beworben wird und in einer Lederschachtel verschickt wird.
Während in Deutschland Veganer und Vegetarier eifersüchtig um die Deutungshoheit streiten und Veganer mit anderen Veganern darüber debattieren, ob man Äpfel vom Baum pflücken darf oder warten muss, bis sie von allein abfallen, wird in Kalifornien so gut wie alles unter „organic food“ subsummiert.
A „nice vegan meal“ kann dann schon mal Käse aus Kuhmilch, Lachs und Hühnerbruststreifen enthalten.
Da ist alles vegan, wenn nicht gerade ein riesiges blutiges Rindersteak in der Mitte liegt.

Ökologisch betrachtet ist der Wasserverbrauch bei der Rindfleischproduktion einer der Höchsten. Ein katastrophaler „Footprint“.
Aber mit der ökologischen Moral ist es kompliziert.

[….] Platz 1 für den größten tierischen Klimaschädling geht somit an das Rind mit etwa 15 Kilogramm sogenannter CO2-Äquivalente pro Kilo Fleisch; das Schwein folgt mit weitem Abstand und 4,2 Kilo, dicht gefolgt vom Geflügel mit etwa 3,5 Kilo CO2 pro Kilo Fleisch. Zum Vergleich: Gemüse verursacht im Schnitt nur etwa 150 Gramm CO2 pro Kilo.
Ganz anders sieht das Fleischranking aus, wenn man die ethische Seite betrachtet, also die Frage, wie viele Tiere ihr Leben lassen müssen, damit der Mensch satt wird. Das Magazin „Scientific American“ hat dazu eine Studie veröffentlicht, die der Vegetarierbund vebu aufgegriffen hat. Die provokante Frage lautete, wie viel Töten mit dem Konsum einer bestimmten Menge an Energie aus Fleisch, Milch und Eiern verbunden ist. Hier nun steht Hühnerfleisch bei weitem am schlechtesten dar, da jedes geschlachtete Federvieh lediglich 3.000 Kalorien auf die Teller bringt. Im Gegensatz dazu liefert das Schlachten eines Rindes über 400.000 Kalorien. Ein Schwein macht mit 84.000 Kalorien „pro Tod“ immerhin noch so satt wie 28 Hühner. […..]

Bedenkt man also wie viele Individuen für eine menschliche Mahlzeit getötet werden, sollte man insbesondere auf Hühnerfleisch verzichten.
Also ist es völlig absurd wie so viele ums Tierwohl Besorgte bei „weißem Fleisch“ alle Augen zuzudrücken, während man einen Bogen um das böse „rote Fleisch“ macht.

Aber als Vogelfreund bin ich ohnehin nicht neutral. Ich liebe alle Piepsis und würde dafür plädieren statt der allgegenwärtigen Hühnerbruststreifen lieber Hunde und Katzen zu essen.
Watschelige Vögel finde ich zwar noch großartiger – wie kann man bitte sehr Enten nicht lieben? – aber das Haushuhn wird auch extrem unterschätzt.
Ich empfehle dazu die hervorragende Reportage der hervorragenden Schriftstellerin/Journalistin Anja Rützel über Hühnerdressur.

[….] Aufs Huhn gekommen
Wer Hunde dressieren will, soll sich erst einmal an Hühnern versuchen. Unsere Autorin hat am Hühnerkurs einer weltberühmten Tiertrainerin teilgenommen – und sieht das Geflügel seitdem mit anderen Augen.
Das klügste Huhn der Welt heißt Buffy. Es hat Federn, die in der Sonne aussehen wie das Fell eines Füchsleins. Es kann Rot, Blau und Grün unterscheiden und, wenn es sich anstrengt, einen gezeichneten Adler von einem gezeichneten Häschen. Es mag Mais, und es mag nicht, wenn man es zu fest unter den Arm klemmt.
Ich lerne Buffy kennen, als ich einen Hühnerdressurkurs in Bayern besuche. Bei dem ich mich nicht – obwohl das an manchen Tagen wie ein absolut plausibler Plan erscheint – angemeldet habe, weil ich vorhabe, mich mit einer gemischten Hühner-Alpaka-Ameisenbär-Dressurnummer und ein bisschen Messerwerferei dem fahrenden Volk anzuschließen. Ich mache den Kurs, um meinen Hund besser trainieren zu können. Wer lernen will, wie man Tieren etwas beibringt, fängt am besten mit einem Huhn an.
Das sagt Terry Ryan, Wissenschaftlerin, in Tiertrainerkreisen ein Guru. Auf der ganzen Welt veranstaltet sie »Chicken Camps«, dabei will sie ja eigentlich nicht Hühnern etwas beibringen, sondern Hunden, oder noch besser gesagt: den Menschen. […..]

Jeder sollte die Geschichte von Buffy kennen und sich fragen weshalb wir eigentlich nicht den ganzen Tag vor dem Ministerium der Großbauern-Lobbyisten Julia Klöckner demonstrieren, die immer noch für betäubungslose Ferkelkastration und Kükenschreddern sorgt.

[…..] Das ganze Jahr lang haben die Menschen über das Klima diskutiert. Über die Flugscham und das Artensterben. Über Elektroautos, SUVs und Kohlekraftwerke. Sie haben wütender und lauter diskutiert als je zuvor. Wen das Klima bewegt, den bewegt die Frage, wie wir mit der Welt umgehen, und vor allem: wie lange noch?
Der Mensch, die Welt, der Untergang. Große Worte. Dabei reicht es zu fragen, wie der Mensch mit seiner Umgebung umgeht. Zum Beispiel mit dem Haushuhn, Gallus gallus domesticus.
Jedes Jahr werden in Deutschland rund 45 Millionen männliche Küken getötet. Sie werden vergast oder geschreddert, meistens kurz nachdem sie geschlüpft sind. Es sind die Brüder der Legehennen, die, Überraschung, keine Eier legen und nur wenig Fleisch ansetzen. Beides ist nicht gut fürs Geschäft. Und tote Küken kosten nichts.
45 Millionen, das sind etwa 123 288 Küken am Tag.
45 Millionen, das sind etwa 1,43 Küken in der Sekunde. […..]