Samstag, 4. September 2021

In die Hose scheißt Scholz nicht.

Bei der Bundestagswahl von 2009 gab es schon einmal einen extrem selbstverliebten FDP-Chef, der statt Inhalte auf Yellow-Press setzte, vor dem kein PR-Event sicher war, der nie auch nur das geringste Regierungsamt besetzt hatte, der in der Privatwirtschaft keinerlei Erfahrungen hatte, weil er überhaupt noch nie irgendetwas außerhalb der Politik gemacht hatte und der in seinem absoluten Größenwahn meinte, er könne nahezu ohne Sachkenntnis das zweiwichtigste Amt in der Bundesregierung ausführen.

So kam Deutschland zu seinem Außenminister und Vizekanzler Westerwelle, der rein gar nichts über den diplomatischen Dienst wußte und schon vor Amtsantritt zum Mitschämen anregte, als er mit dem Spruch „es ist Deutschland hier!“ verweigerte englisch zu sprechen.

Er wurde eine wandelnde deutsche Blamage, die geradezu hysterisch darauf bestand mit allen Ehren behandelt zu werden, die er glaubte sich verdient zu haben. Als Bad Honnefer TVE flippte er schon bei seinem Antrittsbesuch in der Türkei aus, als sein türkischer Kollege Ahmet Davutoglu nach den (damals noch sehr viel realistischeren) Beitrittschancen zur EU fragte und insbesondere die Sicht der neuen Bundesregierung erfahren wollte.

[…..] Auf Nachfragen von Journalisten erklärte Westerwelle: "Ich bin hier nicht als Tourist in kurzer Hose unterwegs - ich bin der deutsche Außenminister, und was ich sage, zählt." [……]

(ntv, 07.01.2010)

Es kam wie es kommen musste mit einer FDP, die über keinerlei Programmatik verfügte, außer dem Drang den Millionären Wohltaten zuzuschieben und sich für die reichsten Lobbyisten zu prostituieren.

Alle fünf FDP-Minister waren hoffnungslos überfordert, Westerwelles Generalsekretär, ein gewisser Christian Lindner, tat das was er immer tut, wenn es schwierig wird: Er rannte weg. Die Minister beschimpften sich gegenseitig als „Gurkentruppe“ und „Wildsäue“, am Ende führte es die 15%-Partei von 2009 unter die 5%-Grenze ins parlamentarische Aus.

Olaf Scholz ist ein kluger Stratege; das zeigt wieder einmal sein Wahlkampf.  Mit viel Glück reicht es am 26.09.2021 wieder zu Rot-Grün.  Wahrscheinlicher ist aber eine Dreier-Konstellation.

Jamaika, RRG oder Ampel.

(Rot-Schwarz-Gelb wäre für CDU und FDP wünschenswert, aber eine Zustimmung der SPD gilt als ausgeschlossen)

Habeck, Özdemir und Baerbock gelten als sehr CDU-affin, daher war bis vor ein paar Wochen Jamaika eine wahrscheinliche Koalition. Grüne und FDP wären gegenüber 2017 sehr gestärkt in die Verhandlungen gegangen; Laschet gilt als kompromissbereit. Die ewige Verliererpartei SPD wäre aus der Regierung geflogen. Der Monat August brachte aber den entscheidenden Umschwung.

Laschet drückte mit seiner unterirdischen Performance die CDU gen 20%-Marke.

In allen aktuellen Umfragen liegt nur die SPD sehr deutlich vor CDU/CSU. Olaf Scholz ist mir riesigem Abstand der beliebteste Kanzlerkandidat. Die Grünen, die noch vor ein paar Monaten doppelt so stark wie die SPD waren, liegen nun zehn Prozentpinkte hinter den Sozis.

Sie hätten in einer Jamaika-Koalition nun viel weniger Gewicht und müssten ihrer Parteibasis erklären, wieso sie klar den Wählerwillen nach einem Kanzler Scholz missachten. Sogar die konservative fromme Merkel-Freundin Kathrin Göring-Kirchentag lässt auf einmal verlautbaren, sie wünsche sich die SPD als Regierungspartner. Lindner und Laschet müssten sagenhafte Zugeständnisse an die verhassten Ökos machen, um sie ins schwarzgrüngelbe Boot zu locken.  Es dreht sich also was bei den Grünen.

Ohne Jamaica ist Scholz der entscheidende Mann.

Ginge es nach den konservativen Medien, nach den Wünschen der Wirtschaft, nach Frau Merkel, nach der CDU, nach Herrn Laschet, nach der CSU, nach Herrn Lindner, müsste die SPD getreu des Hildebrandt-Mottos „die SPD scheißt in jede Hose, die man ihr hinhält“ auf die Knie sinken und dem Volk schwören nie-nie-niemals mit der Linken zu koalieren.

Olaf Scholz könnte dann überhaupt nur mit Lindner Bundeskanzler werden, wäre den FDP-Forderungen alternativlos ausgeliefert.

Er müsste genau wie Merkel 2009 einem FDP-Luftikus ohne jede Erfahrung ein Kernministerium überlassen.

Linder wäre in dieser Logik der Königsmacher; der Schlüssel zu jeder Regierung – als Rettung vor den Kommunisten.

[…..] Helmut Schmidt […..] reifte im Kanzleramt zum Weltökonomen. Ausgerechnet dieser Helmut Schmidt wurde damals, im Bundestagswahlkampf von 1976, von der Kohl-CDU mit dem Slogan "Freiheit oder Sozialismus" und von der Strauß-CSU mit "Freiheit statt Sozialismus" traktiert. CDU und CSU taten seinerzeit so, als paktiere die Regierung Schmidt mit dem Weltkommunismus.[…..] Das verfing durchaus, die Union hatte deutlichen Stimmenzuwachs. […..]  45 Jahre später versucht die Union, Scholz so zu attackieren, wie sie damals Schmidt attackierte: Sie schüttet einen neuen Aufguss der alten Slogans in den Wahlkampf. Sie warnt also, auch wenn es den Weltkommunismus und den Ostblock nicht mehr gibt, vor Rot-Grün-Rot, dem Linksrutsch und einer Linksfront; sie tut so, als stünde die Auferstehung Erich Honeckers bevor. Sie verlangt vom SPD-Kanzlerkandidaten, einem Bündnis mit Grünen und Linken apodiktisch […..] Taugt der Antikommunismus, der jahrzehntelang ein Kitt der westdeutschen Gesellschaft war, noch immer zu politischer Instrumentalisierung? Wirtschaftswunder, Westbindung, Integration der Funktionäre des NS-Regimes - das alles funktionierte in der alten BRD auf der Basis eines parteiübergreifenden Antikommunismus. […..]  Das Bundesverfassungsgericht beugte sich vor 65 Jahren, am 17. August 1956, nach fünfjährigem Widerstreben, dem Druck der Adenauer-Politik: Karlsruhe erklärte die damals schon unbedeutende KPD für verfassungswidrig und verordnete deren Zwangsauflösung. […..] Daraufhin begann in Westdeutschland eine Welle der Verfolgung; Kommunist zu sein galt, auch rückwirkend, als Straftat. Die alten roten Widerstandskämpfer gegen Hitler, dem KZ entronnen, fanden sich in den Gefängnissen der jungen Republik wieder, verurteilt von den alten Richtern, die das Hakenkreuz von der Robe gerissen hatten. Diese Verfahren zählen nicht zu den Ruhmesblättern der bundesdeutschen Justiz. […..]

(Heribert Prantl, 04.09.2021)

Insbesondere 1994 und 1998 startete die CDU wieder massive Rote-Socken-Kampagnen, weil der fromme SPD-Ministerpräsident Höppner in Magdeburg, der später Präsident des Evangelischen Kirchentags wurde, mit Stimmen der Linken gewählt wurde.

Die Verlogenheit der Schwarzen und Gelben bleibt bis heute sagenhaft. Denn nur die SPD war eine neue Ost-Partei. Die Grünen fusionierten mit den frommen Bündnis90-Regimegegnern, während CDU und FDP gleich mit vier DDR-Blockparteien fusionierten, die vorher Mauer und Schießbefehl abgesegnet hatten.

FDP und CDU verleibten sich alle Blockparteimitglieder, Immobilien und das Vermögen ein und sprachen nie wieder über die Vergangenheit, während sich die damalige PDS sehr sorgfältig mit ihrem Erbe beschäftigte.

Reinhard Höppner war der erste Ministerpräsident, der mit Hilfe Linker Stimmen ins Amt des Sachsen-Anhaltinischen MP kam.

Später regierten die Linken aber auch durchaus erfolgreich in Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Thüringen, Berlin und Bremen.

Anders als von CDU, CSU und FDP prognostiziert, ging nicht die Welt unter, es kam zu keinen stalinistischen Säuberungen, die Wirtschaft brach nicht zusammen, die Unternehmer flohen nicht, es kam zu keinen Verstaatlichungen, Investoren wurden nicht abgeschreckt, Freiheiten wurden nicht eingeschränkt und auch die Kinder wurden keiner Zwangsgeschlechtsumwandlung unterzogen.

Im Gegenteil, heute stehen Schwarz und Gelb für das Abschaffen von Freiheitsrechten (Videoüberwachung, Staatstrojaner), können nicht vernünftig mit Geld umgehen und die wahnhafte Privatisierung von staatlichen Versorgungsunternehmen, Krankenhäusern und Landesbanken, hat sich als gewaltiger Fehler erwiesen, den Ministerpräsidenten mühsam wieder rückgängig machen; sofern das überhaupt noch möglich ist.

Die über 100 Filet-Immobilien der Stadt Hamburg, die die CDU-Regierung vor rund 15 Jahren an Investoren vertickte, sind heute ein Vielfaches wert und zwingen der Stadt aberwitzige Mietzahlungen auf. Es ist ein Desaster.

Olaf Scholz weiß das besser als jeder andere, weil er sich als Nachfolger der CDU-Chaotenregierung in Hamburg ab 2011 damit beschäftigen musste, das Chaos aufzuräumen und die finanziellen Löcher wieder zu füllen.

Er wird also wenig Lust haben, sich als möglicher Kanzler einem Finanzminister-Greenhorn Guidean Lindnerwelle auszuliefern.

Wenn er auch möglicherweise ein RRG-Bündnis sehr skeptisch sieht, weil die Linke tatsächlich rechtspopulistische Covidioten wie Sahra Wagenknecht in ihren Reihen hat und hanebüchene außenpolitische Sprüche von sich gibt, so sind das in einem Koalitionsvertrag lösbare Probleme – insbesondere wenn die SPD sehr stark und die Linke sehr schwach wird.

Noch wichtiger ist RGG aber als Drohkulisse gegenüber Lindner.

Er wäre nicht mehr alleiniger Königsmacher, der nach Gutdünken Maximalforderungen stellen kann, sondern könnte froh sein, überhaupt mitregieren zu dürfen. Dann käme es aber sicher nicht zu Steuergeschenken für die Superreichen in zweistelliger Milliardenhöhe. Scholz wird also den Konservativen nicht den Gefallen tun, vor Angst schlotternd sofort in die hingehaltene rote Hose zu scheißen und RRG kategorisch ausschließen….

[…..] was Scholz schon deswegen nicht tun will, weil er das rot-grün-rote Bündnis als Option und Drohung braucht, um die FDP für eine rot-grün-gelbe Koalition zu gewinnen. Wenn Rot-Grün-Rot zumindest rechnerisch möglich ist, müsste Christian Lindner fürchten, seine FDP wieder nicht in die Regierung führen zu können. Das macht ihn, so rechnet Scholz, in Koalitionsverhandlungen kompromissbereiter. [….]

(Heribert Prantl, 04.09.2021)