Montag, 26. August 2019

Die Ossis.


Pauschalurteile werden nie jedem einzelnen gerecht und sind insofern immer falsch.
Pauschal eine ganze Volksgruppe aus Millionen Individuen zu beurteilen ist verallgemeinernd und undifferenziert.
Zu behaupten die Amerikaner wählten alle Trump, ist ein unterkomplexes Stereotyp.
Aber im allgemeinen Sprachgebrauch kann man einerseits nicht auf jeden einzelnen der 330 Millionen US-Amerikaner eingehen und andererseits versteht es sich von selbst, daß so viele Menschen keine homogene Masse bilden und einzelne ganz anders sind.
Trump verkörpert als US-Präsident „die Amerikaner“ und daher ist es erlaubt sich in Unterhaltungen abwertend über die Amerikaner zu äußern. Die Amerikaner, die fanatisch an ihren Waffen hängen, sich stets zu grell schminken, zu laut reden, zu ungebildet sind und immer Fast Food fressen.
Die Verwendung solcher Stereotype bedeutet bei halbwegs gebildeten Menschen, die korrekte Rechtschreibung beherrschen keineswegs, daß sie wirklich jeden so abqualifizieren.
Tatsächlich bilden die US-Amerikaner selbst auch die stärkste Opposition gegen Trump, sind abgestoßen von dem NRA-Waffenwahn und setzen sich vehement für Klimaschutz ein.

Meines Erachtens kann man daher auch nie Opfer von Pauschalurteilen sein.
Wer stereotype, abfällige Klischees über Gruppen verbreitet, zu denen ich zufällig gehöre – Amerikaner, Hamburger, Sozi, weiße Männer, digital imigrants – kann mich nie persönlich treffen, da diese negativen Assoziationen immer auf einige Mitglieder der Gruppe zutreffen. Nur ein total Verblödeter kann aber behaupten alle, also jeder einzelne Hamburger liefe den ganzen Tag im Maßanzug rum und esse Fisch. Nur ein total Verblödeter kann behaupten jeder weiße Mann wäre ein frauenfeindlicher Sexist.
Man muss aber total Verblödete nicht ernst nehmen.

Das Spannende an negativen Stereotypen ist natürlich der wahre Kern in ihnen.
Sie sind üblicherweise nicht total aus der Luft gegriffen und es lässt sich trefflich streiten wie viel tatsächlich zutrifft.
Psychologie spielt insofern eine Rolle, weil man Erlebnisse, welche die eigenen Vorurteile bestätigen viel bewußter und deutlicher in Erinnerung behält.
Ich zum Beispiel verachte Trumpmerikaner und tummele mich in den sozialen Netzwerken mit lauter liberalen US-Amis, die das ähnlich sehen. Mich mit ihnen zu unterhalten ist für mich üblich und wird nicht als Besonderheit in meinem Hirn abgespeichert.
Begegne ich aber nach zehn solchen „netten Amerikanern“ auf Facebook einem Trump-Fan, der mir erklärt nur Waffen machten das Leben sicher und Trump wäre ein Genie, denke ich sofort „typisch Ami! Mit denen kann man ja nicht reden!“

So wird es auch einem deutschen Rassisten ergehen, der in Berlin oder Hamburg dauernd auf türkische Ärzte, Gemüsehöker, Taxifahrer und Hausmeister trifft.
100 ganz normale türkische Ärzte, Gemüsehöker, Taxifahrer und Hausmeister wird er nicht besonders wahrnehmen, aber wenn der 101. von ihnen eine Knoblauchfahne hat oder kein deutsch spricht, wird er sich diesen genau merken, weil er seinem Türkenklischee entspricht.
Es dürfte unmöglich sein die Menschen davon abzuhalten ihre Vorurteile zu pflegen, zumal sie in einer zunehmend komplexeren Welt bei immer weniger informierten Bürgern wichtiger zur Orientierung werden.

Ein gangbarer Ausweg ist Humor. Es entspannt sagenhaft, wenn ein anwesender Deutsch-Koreaner schallend über eine Pointe mit Asiaten und kleinen Penissen lacht. Sofern ich in einer Runde als US-Amerikaner identifiziert bin, versichere ich sogleich grundsätzlich nie zu lesen und mich ausschließlich bei FOX zu informieren.

Solche Klischees sind heikel. Ein Opfer einer Vergewaltigung kann nicht unbedingt gut Witze in dieser Richtung vertragen. Noch heute schaudere ich über die gern von Henryk M. Broder erzählte Geschichte, daß er bei seinem Besuch in Auschwitz lauter Postkarten an ihm nicht wohlgesonnene Kollegen schickt mit dem Text „I wish you were here“.
Mir geht das zu weit. Er nutzt da seine Position aus, als jemand, der seine halbe Familie im Holokaust verloren hat.
Aber das ist wiederum das Wesen des Humors: Dafür gibt es keine allgemeingültigen Regeln.
In der WDR-Sendung „Das Lachen der Anderen“ erarbeiteten Oliver Polak und Micky Beisenherz Witze über Randgruppen, traten nach einer Woche vor MS-Patienten, Behinderten, Kleinwüchsigen, Alten oder HIV-Positiven mit einer Stand-Up-Nummer voller Gags auf deren Kosten auf.
Meistens hielt das Publikum die Witze am Ende der Show für eher zu harmlos.

Etwas, das im humoresken Bereich, im Privatgespräch, auf Instagram oder in einem Blogeintrag funktioniert, muss nicht unbedingt aus seriöser und politischer Ebene nachgeahmt werden.

Daher ist auch die Titelgeschichte des aktuellen SPIEGELs heikel: „So isser, der Ossi!“


Der Spiegel erreichte, was er wollte: Ein großes Bohei. Shitstormartige Twitter-Tiraden.

[….] Jetzt natürlich große Aufregung. Die wenigen Stimmen, die darauf hinweisen, dass der Titel das Klischee in ironischer Stammtischsprache nur deshalb aufnimmt, um es, worauf bereits die Unterzeile hinweist, im Inneren zu dekonstruieren und zu widerlegen, verhallen praktisch ungehört. "Einfach mal was Plattes hinauskrähen und sich dann die Schenkel klopfen, wenn eine Debatte zündet. Heute: Auf Kosten von Ostdeutschland. So isser, der #Spiegel", kritisiert der Twitter-Nutzer @fernseh_heini.
Ein anderer Twitterer hat sich sogar die Mühe gemacht, das Cover mit einer Rasta-Strickmütze nachzubauen und die Zeile mit dem N-Wort abzuwandeln, um dessen vermeintlich diskriminierenden Charakter augenfällig zu machen. Ein rechtes Blog konstatiert "die Geschichte einer Radikalisierung", und der Medienjournalist Stefan Niggemeier stellt fest: "Alle reden über das missratene Cover, nur @DerSpiegel hat auch im Jahr 2019 noch keine Möglichkeit gefunden, sich an dieser Konversation zu beteiligen." [….]

Als ich die Ausgabe vor zwei Tagen aus meinem Briefkasten fischte, dachte ich zuerst: „Oh, zum Glück nach der Titelstory der letzten Woche über Faltencremes schon wieder reiner Schwachsinn, mit dem ich nicht meine Zeit verplempern muss. Ich habe genügend andere Artikel, die ich dringender lesen muss.“
Ist das nicht viel zu offensichtlich auf Provokation ausgelegt? Springen die Menschen immer noch auf so simple Methoden an?

Die nächsten 48 Stunden belehrten mich eines Besseren. Ja, so funktioniert die leicht erregbare Medienwelt immer noch.
Der Spin drehte sich mehrfach und so bestätigten „die Ossis“, die sich über das verallgemeinernde, despektierliche Klischee-Titelbild echauffierten, unbewußt einige der stärksten Vorurteile: Erstens „Jammerossi“ und zweitens „völlig humorlos“.
Und ja, in diesen Vorurteilen steckt offenbar ein erheblicher wahrer Kern.
Der SPIEGEL provoziert dauernd mit seinen Titelbildern. Das ist schließlich der Sinn eines Heftes, das verkauft werden soll. Immer wieder gab es sehr despektierliche Schlagzeilen, die sich gegen den Vatikan, die Kirche oder zum Beispiel auch gegen Hamburg richteten.


Aber niemand ist so schnell und so radikal beleidigt wie „die Ossis“.
Was Hamburg einfach an sich abtropfen lässt, führt in Ossiland gleich zu kollektiver Depression.
Dieser Befund rechtfertigt womöglich auch eine neuerliche elfseitige Titelgeschichte zur Befindlichkeit „der Ossis“; geschrieben von, natürlich, einem Ossi.
Steffen Winter, Dresdener Korrespondent des SPIEGEL, geboren 1969 in Thüringen ist der Autor und wird nun besonders angefeindet.
Ähnlich wie Frau Merkel wird er nicht nur als „Ossi-Kritiker“ wahrgenommen, sondern darüber hinaus auch noch als „Verräter“. Als einer der Ihren, der sie im Stich ließ.
Da ist es nicht weit zum „Volksverräter“.

Nur kurz erwähnt er die Kennzahlen, die „uns Wessis“ so ärgern und zu dem Klischee der „Jammerossis“ beitragen.

 [….]  2015 wur­den 70 000 Asyl­su­chen­de in Sach­sen re­gis­triert, ver­gan­ge­nes Jahr wa­ren es le­dig­lich noch 8800.
[….] Ei­ner­seits ist die deut­sche Ein­heit eine bei­spiel­lo­se Er­folgs­ge­schich­te. Mehr als zwei Bil­lio­nen Euro flos­sen in das ge­schicht­lich ein­ma­li­ge Pro­jekt. 65 Pro­zent der Sum­me wa­ren So­zi­al­leis­tun­gen, 300 Mil­li­ar­den in­ves­tier­te die Bun­des­re­pu­blik in die ost­deut­sche In­fra­struk­tur. In wei­ten Tei­len sind die ver­fal­le­nen Städ­te tat­säch­lich auf­ge­blüht, die holp­ri­gen Au­to­bah­nen ge­glät­tet, ha­ben sich die all­ge­gen­wär­ti­gen Braun­koh­le­schwa­den ver­zo­gen.
Die Ar­beits­lo­sig­keit, über Jahr­zehn­te die größ­te Sor­ge der Ost­deut­schen, ist seit Jah­ren stark rück­läu­fig. Auf ih­rem Ze­nit, 2005, lag sie in den neu­en Län­dern bei 20,6 Pro­zent. Im Mo­ment sind es noch 7. [….] Die Ge­häl­ter sind im Os­ten nied­ri­ger, ja, aber auch die Mie­ten und die Im­mo­bi­li­en­prei­se. Fa­mi­li­en fin­den leich­ter eine Kita. Die durch­schnitt­li­chen Ren­ten von Män­nern und Frau­en sind im Os­ten so­gar leicht hö­her. Die Agen­tur Pro­gnos hat die Le­bens­qua­li­tät in den 16 deut­schen Bun­des­län­dern un­ter­sucht: Bis auf Sach­sen-An­halt lie­gen alle ost­deut­schen Län­der im Bun­des­schnitt oder dar­über.

Meck­len­burg-Vor­pom­mern hat Bay­ern als be­lieb­tes­tes Som­mer­ur­laubs­land der Deut­schen ab­ge­löst. [….]
(DER SPIEGEL Nr. 35, 24.08.2019)

Wieso beklagen sich die Sachsen, Thüringer, Meckpommer und Brandenburger also 30 Jahre nach dem Beitritt der DDR zu BRD immer noch so massiv, fragt sich nun unwillkürlich jeder Hamburger, Kölner, Bayer oder Hesse.

Winter wird nun sehr psychologisch und soziologisch, erklärt wieder einmal, die großen Brüche in den DDR-Biographien und fordert ein, die spezifisch ostischen Ängste, Unsicherheiten und Bedenken ernster zu nehmen.

[…..] Im Sep­tem­ber und Ok­to­ber wer­den ver­mut­lich vie­le frü­he­re Nicht­wäh­ler zur Wahl ge­hen. Et­li­che von ih­nen wer­den AfD wäh­len, aber die Par­tei muss nicht der Ge­win­ner blei­ben. Der Wunsch nach An­er­ken­nung könn­te die an­de­ren Par­tei­en mo­ti­vie­ren, ihre po­ten­zi­el­len Wäh­ler zwi­schen Prenz­lau und Leip­zig, Sprem­berg und Bit­ter­feld trotz all ih­rer Ängs­te und Neu­ro­sen ernst zu neh­men. Oder ge­ra­de des­we­gen. […..]
(DER SPIEGEL Nr. 35, 24.08.2019)

An dieser Stelle oute ich mich als Klischee-Wessi, der auch gerne despektierliche Witze über „die Ossis“ macht.
Und ja, auch in diesem Blog tauchte schon das fiese Akronym „DDR = Der Doofe Rest“ auf.
Niemand stört sich schließlich an den 3,7 Millionen ehemaligen DDR-Bürgern, die seit 1989 nach Westdeutschland übergesiedelt sind.
Es ist eher kurios und lehrreich. Ein mittlerweile angeheiratetes Familienmitglied aus MeckPomm fragte beispielsweise einst ganz verwirrt ihre zukünftige Schwiegermutter was denn „Hausfrau“ wäre, nachdem die sich als solche vorstellte.
Offenbar gab es den Begriff gar nicht in der ehemaligen DDR mit ihrer Vollbeschäftigung.
Es war ein willkommener Anlass für mich anachronistische Denkweisen zu hinterfragen. Ist es nicht in der Tat sehr befremdlich immer noch mit großer Selbstverständlichkeit im 21. Jahrhundert der Ehefrau einer westdeutschen Familie schon begrifflich ihre dienende Rolle am Herd und als Putzfrau zuzuweisen?

Bezüglich der Verantwortung der Parteien gegenüber der speziellen Befindlichkeiten in Prenz­lau und Leip­zig, Sprem­berg und Bit­ter­feld gibt es aber offenbar diametral unterschiedliche Wahrnehmungen.
Ich kann es nicht mehr hören. Nach meinem Empfinden höre ich seit 30 Jahren nichts anderes, als genau das: Man müsse endlich die DDR-Biographien ernst nehmen. Schon 1990 mahnte die großartige Hildegard Hamm-Brücher prophetisch die „Besserwessis“ sensibler zu sein.
Wie ist es nur möglich, daß umgekehrt immer noch so viele Ossis denken, dieses werde viel zu wenig getan?

Insofern waren die psychologischen Exkurse der Winter-Titelgeschichte durchaus lehrreich: Das was mir alles einleuchtet, mich aber zutiefst anödet, weil ich es schon gefühlte 37.000 Mal gelesen habe, ist scheinbar das, was einige Ossis endlich auch mal lesen möchten?

Zwei weitere Aspekte des ausführlichen Artikels empfinde ich als ausgesprochen ärgerlich:

1.)

Keine Angst, kein Minderwertigkeitsgefühl, keine Verunsicherung rechtfertigt es den völkischen AfD-Schreihälsen nachzurennen.

[….] Neid hätten viele erst im vereinten Deutschland kennengelernt, sagt sie. Plötzlich hätten die einen mehr gehabt als die anderen. Berndt verbindet ihre Unzufriedenheit umstandslos mit dem Thema "Einwanderer". "Sogar die Ausländer" hätten "mehr in der Tasche als wir". Mit "wir" meint sie "die Ossis". Sie müsse bei Kik Kleidung kaufen, doch Ausländer kauften angeblich in den teuersten Läden ein. […..]
(DER SPIEGEL Nr. 35, 24.08.2019)

Die schockierende Unmenschlichkeit, mit der Ossis auf Menschen in viel größerer Not als sie selbst reagieren, die barbarische Freunde großer Mobs bei abbrennenden Asylunterkünften, die schulterzuckende Indolenz der Dresdener bei den rechtsradikalen Pegida-Märschen, ist unentschuldbar und widerlich.
Die atemberaubende Vulgarität, mit der große Pulks von Merkel-Hassern aus heiserer Kehle „FOTZE“ und „HAU AB“ grölen, ist nicht durch den großen sozialen Umbruch vor drei Dekaden zu rechtfertigen.
Hamburg hat einen zehnmal höheren Migrantenanteil als Sachsen und gleichzeitig die niedrigsten AfD-Ergebnisse aller Bundesländer.
Ich bestreite also vehement, daß Flüchtlinge geradezu automatisch zur Wahl von rechtsradikalen Parteien nötigen.
Auch in den fünf neuen Bundesländern wäre es möglich sich seriös zu informieren, bevor man den AfD-Parolen nachrennt.

Das aber führt zu einem noch größeren Kritikpunkt an der SPIEGEL-Titelgeschichte:

2.)

Ja, schockierenderweise werden in Sachsen, Thüringen und Brandenburg die Braunen – und Herr Kalbitz ist sehr sehr braun – mutmaßlich über 20% der Stimmen bekommen.
Das heißt aber umgekehrt natürlich auch, daß 70, 75 oder 80% der Ostdeutschen eben nicht automatisch rechtsradikal wählen.
Wäre es nicht angebrachter für die Parteien sich um diese Menschen zu kümmern, statt dem Viertel oder Fünftel der Widerlinge nachzurennen?

Es liegt mir eigentlich fern „die Ossis“ zu verteidigen, aber die große Mehrheit wählt nicht AfD und daher sehe ich keinen Anlass, daß Talkshows und Politmagazine immer nur auf das Thema Flüchtlinge/Ossis/AfD starren und so tun, als ob es ganz natürlich wäre, wenn sich dort aus Gram über Merkels Asylpolitik alles den Nazis zuwendet.