Am 25.02.2022 telefonierte ich mit einem Schulfreund von mir, der seit ein paar Jahren in Shanghai lebt. Auch wenn wir Russland von der ganz anderen Seite aus betrachteten, waren wir uns doch einig in unserer ersten Empfindungen: Ungeheuerlich, wie weit Putin gegangen war, aber bedauerlicherweise bliebe Selenskyj nun nur übrig, sich zu ergeben. Nur so ließen sich 100.000de Todesopfer vermeiden. Die russische Armee sei übermächtig, hätte gerade in Syrien und Bergkarabach ihre Beweglichkeit bewiesen, wäre seit Jahren konsequent modernisiert worden. Dagegen hätte die Ukraine nicht die geringste Chance, zumal „der Westen“ einen Teufel tun werde, sich da einzumischen und sich gegen die Atom- und UN-Veto-Macht Russland zu stellen. Im Osten der Ukraine wären sie doch ohnehin alle prorussisch, vielfach verwandtschaftlich verbunden. Schließlich gehörte man endlose Jahrzehnte zur selben Nation, spräche dieselbe Sprache. Sind Ukrainer nicht auch „so eine Art Russen“? Klar, das könne man nicht laut sagen; ich will ja auch nicht als „so eine Art Bayer“ bezeichnet werden. Aber mal unter uns: Welches sind denn da die kulturellen Unterschiede? Und würde sich die wirtschaftliche Lage des einfachen Ukrainischen Bürgers nicht auch deutlich verbessern, wenn sie ein Teil Russlands würden? Die Renten und Sozialleistungen, die nach der russischen Übernahme der Krim gezahlt werden, sind schließlich um ein Vielfaches höher, als das Ukrainische Niveau. Wäre es nicht ohnehin in einer komplizierter werdenden Welt, besser und sicherer zu so einer mächtigen Nation wie Russland zu gehören, als zur chronisch instabilen Ukraine? Und böte es nicht Chancen für zukünftige internationale Gipfel, wenn Putins NATO-Panik etwas abebbte, weil er nach der Übernahme Kiews wenigstens sicher wäre, daß das Ukrainegebiet nicht NATO-Territorium werden könne? Klar, Außengrenzen souveräner Staaten dürfen niemals verletzt werden. Aber gilt das nicht ohnehin nur in der Theorie? Whataboutism liegt nahe – wie oft hat die USA Außengrenzen verletzt, ohne je Konsequenzen zu spüren? Anders als vom NATO-Mitglied Türkei überfallene Menschen jenseits der türkischen Grenze beispielsweise in Syrien, müssten die durchschnittlichen Ukrainer vermutlich gar nichts von russischen Besatzern befürchten. Betrachtet Putin sie nicht als Teil „der ganzen Rus“; als Brudervolk?
Klar, für Selenskyj persönlich wäre es natürlich unerfreulich unter Moskauer Knute. Gut möglich, daß er in einem Arbeitslager verschwände oder einen dieser mysteriösen Unfälle erlitte.
Aber um sein eigenes Leben zu retten, könne er doch nicht den Tod hunderttausender Landsleute und die Zerstörung seiner Nation riskieren. Zumal er bloß auf Berufserfahrungen als TV-Komiker zurückblicke; wie sollte der von seinen Landleuten als Oberbefehlshaber respektiert werden?
Völlig verrückt wäre es doch, zu glauben, als David den Goliath besiegen zu können.
Obwohl der „richtige Krieg“, auf den seit Wochen so vieles hindeutete (das man aber nicht wahrhaben wollte), inzwischen vor unseren Augen begonnen hatte, wir in Tagesschau einschlagende russische Marschflugkörper gesehen hatten, konnten wir immer noch nicht daran glauben: Ein großer Krieg mitten in Europa? Das ist doch irre.
In den folgenden fast zwei Jahren haben wir alle eine Menge dazu gelernt.
Meine Top Five Fehleinschätzungen:
1. Die haushohe Überlegenheit der russischen Armee und die daraus folgende Annahme, die Ukrainer wäre in wenigen Wochen unterjocht. (Da dürfte sich Putin ähnlich geirrt haben)
2. Der Widerstandswille der normalen Ukrainischen Bevölkerung.
3. Die Mutation von linksalternativen Grünen wie Aton Hofreiter zu glühenden Bellizisten und Panzerfans.
4. Die Rolle Selenskyjs als Kriegsherr und internationaler Superstar.
5. Die ungeheuerliche Brutalität der Russen, die eben doch keinen Unterschied macht, ob es gegen den IS, afghanische Mujahedin oder das vermeidliche Brudervolk geht.
Ob es angesichts der Verheerungen an Land und Leben, nicht doch besser gewesen wäre, gleich zu kapitulieren, weiß ich nicht. Aber die Frage ist müßig. Das Kind ist im Brunnen. Jetzt kann man keine gegenseitige Milde mehr erwarten.
Es ist zu viel geschehen, um das in absehbarer Zeit zu vergessen.
[…..] Die Ukraine wirft Russland vor, seit Kriegsbeginn mehr als 19.500 Kinder verschleppt zu haben.
Der Leiter des ukrainischen Präsidialamtes, Jermak, sprach von Deportationen und gewaltsamen Entführungen. Moskau verweigere der Ukraine oder internationalen Institutionen Auskunft über das Schicksal der Kinder. Die genannte Zahl stützt sich auf UNO-Angaben. Etwa 3.900 dieser Kinder sollen Waisen oder ohne Eltern sein.
Jermak betonte, bisher sei es nur in Einzelfällen gelungen, ukrainische Kinder zurück in ihr Heimatland zu holen. Um systematischer arbeiten zu können, wurde heute auf Anweisung der Regierung in Kiew eine Arbeitsgruppe eingerichtet, die sich mit dem Thema befasst. [….]
Es erstaunt mich, wie bereitwillig die Konservativen von CDU bis GOP von der Fahne gehen, Sympathien für Russland entwickeln und die Unterstützung der Ukraine sabotieren. Fritze Merz ist dafür ein besonders perfides und abstoßendes Beispiel.
Die Putinisten Wagenknecht und Kretschmer, die nach fast zwei Jahren Krieg immer noch meinen, man könnte doch mit Putin verhandeln, den „Konflikt“ einfrieren, haben im Gegensatz zu solchen Gedanken vor zwei Jahren, erhebliche moralische Probleme: Sie würden Putin für seine extrem Grausamkeit mit Gebietsgewinnen belohnen und sie müssten den Eltern von 20.000 verschleppten Kindern den Mittelfinger zeigen.
Inzwischen stecken wir alle tief im Kriegssumpf.
Generalleutnant Andreas Marlow, Kommandeur der EU-Ausbildungs- und -Trainingsmission ukrainischer Soldaten in Deutschland, macht sich wenig Illusionen über ein baldiges Kriegsende. Die Russen hatten den erbitterten Widerstand anfangs sicher unterschätzt und wurden unprofessionell in die Schlacht geführt. So doof bleiben sie aber nicht.
[….] Wir wissen von unseren ukrainischen Freunden, dass die Russen im Bereich des elektronischen Kampfes und des Kampfes mit Artillerie, des Einsatzes von Drohnen und «loitering munition» (einer Waffe, die in der Luft «herumlungert», bis ihr ein Ziel zugewiesen wird; Anm. d. Red.) stark geworden sind. Sie haben viel gelernt im Kampf mit Sperren, wie der riesige Minengürtel zeigt, den sie tief und quer durch die Ukraine gelegt haben und der den Ukrainern bei ihrer Gegenoffensive wahnsinnig zu schaffen machte. […..] Man sollte die Russen auf keinen Fall unterschätzen. Das ist in der Geschichte schon häufiger passiert. Wir müssen jetzt zum Beispiel genau beobachten, welche Schlussfolgerungen sie in der Kampfpanzer-Entwicklung ziehen, nachdem sie so wahnsinnig hohe Verluste gehabt haben.
[…..] Wir beobachten, dass die Russen lernen und ihre Schutztechnologien und ihre Taktik anpassen. Die Masse der Panzer jedenfalls fällt nicht durch direkten Beschuss aus, sondern durch Drohnen, «loitering munition» und Minen. [….] Ich fürchte allerdings, dass der Krieg nicht in absehbarer Zeit enden wird und für die Ukraine alles davon abhängt, dass wir, der Westen, sie weiterhin kräftig unterstützen, damit sie durchhalten kann. […..]
Zu den Fehleinschätzungen Putins gehört sicher auch die massive Waffenhilfe für die Ukraine aus Washington und Berlin. Damit bezogen einige wichtige NATO-Staaten unerwartet klar Position zugunsten Kiews.
Nachdem wir nun aber wissen, wie gefährlich und skrupellos Putin vorgeht, nachdem wir auch verstrickt sind und viele Milliarden Euro in den Krieg investiert haben, bleibt es für mich völlig rätselhaft, wie „der Westen“ es aus fahrlässiger Schlamperei dazu kommen lassen kann, daß der Ukraine schlicht die Munition ausgeht und somit ein kriegsentscheidender Vorteil für Russland generiert wird.
[….] Die ukrainischen Streitkräfte benötigen dringend Munition und Waffen, viele Kommandeure fürchten, ihre Positionen nicht mehr lange halten zu können. Doch aus dem Westen kam zuletzt immer weniger Militärhilfe, und Kritiker glauben, dass manchen Regierungschefs ein Wiederaufleben der Beziehungen mit Russland wichtiger als der Sieg der Ukraine ist. [….] „Das Albtraumszenario der Ukraine wird gerade Realität“, sagt Ben Hodges, ehemaliger Oberbefehlshaber der US-Armee in Europa. „Die Ukraine hat fast keine Munition mehr, und Europa und die USA sind nicht gewillt, ihre Munitionsproduktion auf ein neues Level zu heben“, so der US-General a. D. im Gespräch mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND).
Während Russland seine Angriffe aus der Luft und zu Lande massiv ausweitet, geht den ukrainischen Soldaten an der Front gerade die Munition aus. Raketen für die Luftabwehr sind knapp und Artilleriegeschosse werden rationiert, sodass die ukrainischen Truppen geplante Angriffe absagen und Verteidigungsstellungen kaum noch halten können. Nach Angaben des ukrainischen Militärs mussten einige Einheiten ihre Feuerrate im Vergleich zum Sommer bereits um 90 Prozent reduzieren. Es fehlt an allem – und an vielen Stellen der Front wissen die Kommandeure nicht, wie lange sie ihre Stellungen noch halten können. [….] In EU- und Nato-Kreisen wächst angesichts dieser brisanten Entwicklung die Nervosität. [….]
Sollte uns das nicht viel mehr beunruhigen, als aggressive Bauern, die ihre Gülle in Berlin verspritzen, weil sie mehr Diesel-Subventionen wollen?