Samstag, 10. April 2021

Politische Moden

Zeitungen zu lesen ist schon seit meiner frühesten Teenagerzeit mein großes Hobby. Je nach Weltlage ist es mal mehr erfreulich, mal inspirierend, mal deprimierend, mal frustrierend. Im Moment macht es sehr großen Spaß.

Leider gibt es immer wieder journalistische Trends, die Kolumnisten und Kommentatoren dazu verleiten das zu schreiben, was eigentlich alle schreiben.

Der unbedingte Wille zum totalen Neoliberalismus, zum Abbruch alles Restriktionen, zur Freiheit von allen Regulierungen und grundsätzlichen Verstaatlichung war Ende der 1990er und um die Jahrtausendwende allgemeiner Konsens. Sogar in den zuvor als Linksliberal positionierten damals noch extrem relevanten "Sturmgeschütze" STERN und SPIEGEL trommelten Hans-Ulrich Jörges und Gabor Steingart massiv für eine Westerwelle-Ökonomie.

Lediglich in der Süddeutschen Zeitung (Heribert Prantl) und ZEIT konnte man von den Urgesteinen Dönhoff und Schmidt noch Kapitalismus-kritische Töne vernehmen.

Das verlockende an dem Ultraliberalismus war der Zugang zu dieser Gedankenwelt, denn jeder, der schon mal gereist war, kannte Beispiele für in der Tat vollkommen absurde deutsche Regelwerke.

Jedes Geschäft musste um 18.00 Uhr schließen, es war verboten sich privat eine Telefon zu kaufen und es selbst anzuschrauben, weil der Staatskonzern Deutsche Post allein zuständig war. Das Sozialsystem war zu einem bizarren Ämterhopping degeneriert, so daß Bedürftige von Wohnungsamt, zum Arbeitsamt und weiter zum Sozialamt ziehen mussten, um überall andere Informationen zu bekommen. Jedes Handtuch, Bettwäsche oder eine neue Winterjacke mussten einzeln beim Sozialamt beantragt werden.

Ein totaler Wahnsinn. Von den heutigen HartzIV-Kritikern wird gern vergessen wie sinnvoll es war endlich auf Geldleistungen umzustellen und alles in eine Hand zu geben.

Natürlich wurde der Privatisierungswahn total übertrieben. Niemals hätten städtische Versorger, Wohnungsbau-Gesellschaften oder Krankenhäuser verkauft werden dürfen. Niemals hätten die kleinen deutschen Landesbanken anfangen dürfen in das internationale Investmentbanking einsteigen dürfen.

Dennoch war nach sieben Jahren rotgrüner Schröder-Regierung immer noch der Neoliberalismus Konsens. Selbst der Bundespräsident Köhler erklärte öffentlich, nach der Wahl wäre „hoffentlich Angela Merkel Kanzlerin“, so sicher war man sich in den Redaktionsstuben, daß RotGrün viel zu lasch privatisiert und reformiert hätte. Nun müssten Westerwelle und Merkel die Zügel anziehen den Deutschen den letzten Rest von Sozialstaat austreiben.  Die CDU verabschiedete auf ihrem Leipziger Parteitag das wirtschaftsfreundlichste Programm ihrer Geschichte.

Merkel wollte die gesamte Last der Sozial- und Gesundheitsabgaben auf die Arbeitnehmer abwälzen, um die Unternehmer völlig zu entfesseln. Weg mit Kündigungsschutz, weg mit allen Kontrollen. Sozialer Wohnungsbau sollte eingestellt werden (so geschah es auch unter Schwarzer und schwarz-GRÜNER Herrschaft in Hamburg 2001-2011) und jede Altersvorsorge hatte privat zu erfolgen. Sollten sich die Geringverdiener doch Aktien kaufen.

Der Urnenpöbel stimmte zu, verschaffte tatsächlich der CDU eine Mehrheit und schrumpfte SPD und Grüne aus der Regierung.

Lange hatte es sogar nach einer absoluten CDUCSU-Mehrheit ausgesehen, die nur deswegen nicht kam, weil Gerd Schröder ein hochintelligenter und begnadeter Wahlkämpfer ist, der trotz miserabler Ausgangslage und einer Presselandschaft, die zu 99% für Merkel trommelte, die SPD noch so stark machte, daß er die FDP aus der Regierung drängen konnte.

Die gewaltige Megafinanzkrise von 2008 bewies eindrücklich, daß der ganze neoliberale Wahn ein einziger Irrtum war.

Die entfesselten Finanzmärkte vernichteten Trillionen Dollar Werte und der bis eben noch so schwer geprügelte Staat musste das Desaster der Neoliberalen ausbaden.

Der Urnenpöbel zog aus dem Totalzusammenbruch der FDP-Finanztraumblase von 2008den Schluss, lieber die soziale Kraft SPD ganz aus der Regierung zu werfen und dafür der Konzernlobby-Hure FDP mit 15% ein absolutes Rekordergebnis bei den Bundestagswahlen im Herbst 2009 zu verpassen, so daß die Hotel- und Automaten- und Pharma- und DKV-Bücklinge zu Gesundheitsminister, Vizekanzler und Wirtschaftsminister aufstiegen.

So kam es zu dem bis heute gültigen Gysi-Dogma „Gewinne privatisieren, Verluste verstaatlichen“.

Ganz selbstverständlich schreiben die großen Konzerne ihre Verluste auf Kosten der Steuerzahler ab und verteilen auch im Coronajahr 2 Milliarden-Dividenden an ihre Aktionäre.


Aktionäre, die sich mit auf dem Arsch sitzen und chillen beschäftigten, während Krankenschwestern und Paketboten bis zur totalen Erschöpfung arbeiten, um mit ihren automatisch vom Lohn abgezogenen Steuern die Milliardenzuschüsse für Lufthansa und die Kaufprämien für die Tonnen-schweren CO2-Schleudern der Multimilliardärin Susanne Klatten zu finanzieren.

Das Versagen Westerwelles und Röslers in der praktischen Regierungspolitik war allerdings so episch, daß ein Umdenken in der veröffentlichten Meinung begann.

Die sich gegenseitig als „Wildsäue“ und „Gurkentruppe“ bepöbelnden Koalitionsparteien stellten 2009-2013 einfach des regieren vollständig ein, nachdem sie Pharma-Lobbyisten direkt im Gesundheitsministerium einsetzten, damit sie sich dort selbst die passenden Gesetzen schreiben konnten, die finanzkräftige Atomlobby mit dem Ausstieg aus dem Atomausstieg belohnten und  ihre Millionen-Spender wie Baron von Finck mit den erkauften Steuersenkungen für seine Mövenpickhotels versorgten.

(….)Was hatte der einstige SPIEGEL-Star Gabor Steingart (Chef des Berliner Büros) nicht alles im Einklang mit STERN-Vizechefredakteur Jörges nicht alles unternommen, um seine heißgeliebte Angela Merkel und den bewunderten Guido Westerwelle an die Macht zu schreiben.
In der Welt der Hauptstadtschreiberlinge war alles so einfach:
Die linken Typen wie Schröder und Fischer und Ulla Schmidt mit ihrem sozialen Gedöns müßten in die Opposition, Schwarzgelb könnte dann die Weichen auf strikt „neoliberal“ stellen und schon würde Deutschlands Wirtschaft wieder erblühen.    Heute sind die Schwarzgelb-Propagandisten entweder in der Versenkung verschwunden oder aber sie sind auf einmal RotGrün-Fans.

Es gibt dabei die ehrliche Variante à la Frank Schirrmacher oder Michael Spreng, die öffentlich erklären „ja, ich habe mich furchtbar geirrt und bin jetzt gegen FDP und CDU“ und die unehrliche Variante Jörges, der so tut als ob er immer Recht hätte, auch wenn er vor Jahren genau das Gegenteil vertrat.

Die Kanzlerin der Hoffnung ist inzwischen zur Konsenskanzlerin mutiert.
Konsens besteht nämlich in der Beurteilung ihrer Regierungsperformance: So schlecht ist die Bundesrepublik nach 1949 noch nie regiert worden.
Insbesondere das ministerliche Niveau und die Richtlinienvorgabe der Chefin ist ein derartiges Debakel, daß sich selbst in den konservativsten Redaktionsstuben die Daumen gesenkt haben.

Das erstaunliche dabei ist, daß es die Protagonisten der bürgerlichen Parteien ganz von allein geschafft haben sich vollständig zu demontieren.
Sie mußten nicht von einer Opposition getrieben werden.
Denn die SPD ist im Bundestag nur mit erbärmlich mageren 22% vertreten und kann auch nicht mit beeindruckenden Köpfen punkten.

Vom Traumstart der „Wunschkoalition“ im Jahr 2009, als sie fette Mehrheiten im Bundesrat und Bundestag holten, der politische Gegner zerstört seine Wunden leckte, so daß mehrere Kommentatoren schon von der Parteiauflösung der SPD orakelten, ist nun DAS HIER übrig geblieben:


Angela Merkel erlebt derzeit einen Sturm, der in ihrer Kanzlerschaft wohl ohne Beispiel ist: Die Kritik an ihrem Kurs ist so laut geworden, wie es selbst die kracherprobten Merkelianer noch nicht erlebt haben. Der Bundespräsident spricht vom "Sommer der Ernüchterung" - mit Blick auf Merkel dürfte das noch untertrieben sein: Inzwischen geht es um das politische Überleben der Kanzlerin.
[…] Merkel gerät von allen Seiten unter Druck: Nicht nur die Alten in der CDU sind unzufrieden mit ihr, zuletzt maulten auch aktive, führende Christdemokraten öffentlich über die Kanzlerin, wie die Chefs des Innen- und Außenausschusses des Bundestags, Wolfgang Bosbach und Ruprecht Polenz. In der Unionsfraktion brodelt es ohnehin wegen der anstehenden Entscheidung zur Aufstockung des Euro-Rettungsschirms. Noch hält die Koalition, weil sie für die Vier-Prozent-Partei FDP alternativlos ist und weil die Union keine Alternative zu Merkel sieht.
(Spiegel Online 26.08.11) (….)

(Zerrüttung, 26.08.2011)

‚Wo ist Merkel?‘ fragten sich alle; wie konnte sie so lange vollkommen tatenlos dem Chaos zusehen? Die FDP vollzog einen Rückstoß auf 3% Zustimmung, weit unter die 5%-Hürde.

Der SPIEGEL titelte mit „AUFHÖREN“; das schwarz-gelbe Chaos wäre nicht mehr zu ertragen.

  [….] Die Trümmerfrau

Angela Merkel steht vor den Scherben ihrer Kanzlerschaft. Ihr Sparpaket stößt auf Widerstand, der Konflikt unter den Koalitionspartnern eskaliert, das Vertrauen ist aufgebraucht. Der Tag der Bundespräsidentenwahl könnte das Ende der Regierung bedeuten. (….)

(DER SPIEGEL, 14.06.2010)

Hatte jemand schon mal derart schlechte Presse bekommen?

Ja, RotGrün in den Jahren 2002 bis 2005.

Aber die Wähler lieben eben ihre CDU. Aus dem baldigen Ende Merkels wurde nichts.

Ihre generelle Untätigkeit, die Verweigerung jeder Reformtätigkeit, das Präsidieren und immer wieder monatelange Abtauchen, wurde sogar zu ihrem Markenzeichen.

In einem so strukturkonservativen Land wie Deutschland verfängt das.

Vor zwei Wochen kündigte Merkel angesichts des 13. Monats der Pandemie an, so könne es nicht mehr weitergehen.

Seither ist sie wieder untergetaucht, seit zwei Wochen herrscht Ratlosigkeit und Stille.

Die Presse für die CDU ist wieder einmal katastrophal schlecht.

Aber was macht das schon? Offensichtlich nichts.


Deutsche lieben Stillstand und die CDU/CSU.

 

Sahra Sarrazin ist völlig indiskutabel und daß die Linken mit 61% für eine so klar völkisch und xenophob argumentierende Hetzerin votieren, ist wohl das Aus für RRG. Herr Meuthen ist heute der größte Fan Wagenknechts. Lobt sie öffentlich.

Eine LINKE, die nicht die Kraft findet sich von einer braunen Querfrontlerin zu distanzieren, sie sogar demonstrativ auf ihren Schild als Spitzenkandidatin des größten Landesverbandes hebt, ist unwählbar.
Eine so geschrumpfte LINKE, daß sie an den Rockzipfeln der AfD ins Parlament schlüpfen will und eine extrem CDUCSU-affine Grünen-Führung lassen nur noch eine Wahl im Herbst:

SPD!