Mittwoch, 27. November 2013

Was soll die Alternative sein?



 Als ich gestern Nacht ins Bett ging, hieß es ein Entwurf des Koalitionsvertrages kursiere unter den Journalisten. Der wäre aber noch 177 Seiten lang und müsse natürlich deutlich gekürzt werden, bevor er unterschrieben und den SPD-Mitgliedern vorgelegt werden könne.
Inzwischen ist der Vertrag fertig, die drei Parteivorsitzenden sind zufrieden und das Werk wurde auf übersichtliche 185 Seiten gekürzt.
So viele Worte zu benötigen, ist nur zu verständlich, wenn inhaltlich die großen Projekte fehlen, die für sich selbst sprechen würden.
Es wäre allerdings vermessen deswegen nun in Gram und Enttäuschung zu verfallen, da mit einer übermächtigen Kanzlerin Merkel, deren Hauptcharaktermerkmal die Risikoscheu ist, nichts anderes zu erwarten ist. Diese mäandernde Phlegmatikerin wurde schließlich genau deswegen gewählt: Der saturierte Urnenpöbel wollte keine Veränderungen.

„Eine große Koalition ist eine Option für die Lösung großer Aufgaben“
(Angela Merkel Brennpunkt, ARD, 27.11.13)

Deswegen ist und bleibt Gabriels Argument richtig, man könne von einer CDU-Chefin, die gerade haushoch eine Wahl GEWONNEN habe nicht erwarten, daß sie ein 100%iges SPD-Programm als Koalitionsvertrag unterschreibe.


Hätten all die Linken und Piraten und Nichtwähler, die sich jetzt in den Sozialen Netzen beklagen und/oder hämische „Wer hat und verraten….“-Kommentare abgeben, alle die SPD gewählt, hätte sie eine absolute Mehrheit und könnte tatsächlich all das umsetzen, das man von ihr erwartet, ohne sie gewählt zu haben.
Ein schizophrenes Verhalten. Wer erst die SPD schwächt, indem er Kleinstparteien oder gar nicht wählt, sollte sich anschließend nicht beklagen, wenn die CDU so stark ist, daß sie ihre gestrigen und Lobby-freundlichen Pläne durchsetzt.



Gabriel und Merkel bestätigen, es habe wegen des SPD-Mitgliederentscheids noch keine Personalentscheidungen gegeben; man wolle der Basis die Möglichkeit geben rein inhaltlich zu diskutieren.
Ein plausible Erklärung, aber sicher nur die halbe Wahrheit. Ich nehme eher an, daß die SPD-Führung die abschreckende Wirkung einiger Namen fürchtet.
Mit hoher Wahrscheinlichkeit werden auch die xenophoben Lügner Friedrich und Dobrindt zu Merkels Mannschaft gehören.
Welches SPD-Mitglied kann dazu sein „Ja“ ankreuzen? Außerdem munkelt man schon sehr lautstark, daß die beiden SPD-Topreligioten, die strenggläubigen Nahles und Steinmeiner Minister werden sollen. Nahles ist nicht nur bei mir, sondern bei vielen SPD-Mitgliedern extrem unbeliebt.
Wie lächerlich das Parteipräsidium argumentiert: Da wird die Weisheit der Mitglieder gepriesen, die allein über die neue Bundesregierung entscheiden dürfen – aber die eigentlichen Knackpunkte, nämlich die Personalien, will man ihnen nicht zumuten. Dafür wird die Basis dann doch als zu dumm erachtet. Sie würde von den sechs Namen der zukünftigen SPD-Minister so verwirrt, daß sie dann nicht mehr objektiv entscheiden könne.
Ich widerspreche nicht der These, daß Volksabstimmungen, Plebiszite und Urwahlen problematisch sind, weil man dann diejenigen entscheiden läßt, die am wenigstens von einer Materie verstehen. Wenn man sie aber doch entscheiden läßt, dann könnte man ihnen auch wenigstens reinen Wein einschenken und mitteilen über welches Kabinett eigentlich entschieden wird.



In einer vernünftig ausgehandelten großen Koalition gibt es Kompromisse und jede Partei muß auf ein paar Lieblingsprojekte verzichten.

Meine Zustimmung zu dem Vertrag hängt also davon ab, ob ich genügend SPD-Handschrift im Vertrag wiederfinde.
Das ist eine nicht sehr leicht zu beantwortende Frage, da offenbar jedes SPD-Mitglied seine ganz persönlichen Interessen als genuine SPD-Kernforderungen auffasst und nur zustimmen will, wenn diese zu seiner Zufriedenheit in der GroKo umgesetzt werden.
Man kann das sehr schön in den Sozialen Netzen verfolgen. Die Basis wettert schon gegen den Koalitionsvertrag; wobei jeder sich selbst zum Maßstab erhebt:

Christoph K.: Der Koalitionsvertrag bringt für mich persönlich keine einzige Verbesserung.

Dennis S.: "Zukunft gestalten" und dabei auf Kosten der jüngeren Generation die Rentenkasse für die Älteren plündern, das ist doch echt das genaue Gegenteil von "Zukunft gestalten", wenn man nur von der noch gut gefüllten Rentenkasse, d. h. von der Substanz lebt, völlig entgegengesetzt zu dem, was man angesichts der demographischen Entwicklung tun müsste. [….] So sieht die SPD die Zukunft? Ich sage: Für die Zukunft stimmen bedeutet gegen diese Mogelpackung Koalitionsvertrag zu stimmen.

Kai G.:  Wenn die SPD im Koalitionsvertrag die völlige Gleichstellung von Homosexuellen in Sachen Ehe und Adoptionsrecht nicht durch bekommt, bin ich gegen den Koalitionsvertrag! Dann lieber "Rot Rot Grün" oder Neuwahlen !!!
Es kann einfach nicht sein das "neue Nationen" wie Schottland schon weiter sind mit der Gleichstellung als wir in Deutschland und dies alles nur um ein paar Bauern in Bayern und der Christlich Konservativen in Deutschland vorzugaukeln das es sich bei der CDU um den "Fackelträger" der guten alten Werte handelt. Und dabei macht die SPD mit ... das war's für mich dann

Yasar E.: Bin hier geboren 41 j. alt. Und immer noch Ausländer. Danke.
(Facebook 27.11.13)

Würde ich auch so persönlich argumentieren, wäre meine Entscheidung ganz leicht.
Denn Gabriel und Nahles haben alle Punkte, die mir persönlich die wichtigsten sind, und die daher auch oft in diesem Blog ausgebreitet wurden ignoriert. Ich bin auf ganzer Linie der Benachteiligte.

1.)  Ich werde eben nicht für würdig befunden die deutsche Staatsbürgerschaft zu bekommen, weil ich vor 1990 geboren werde. (Gabriel versucht damit zu beschwichtigen, daß die CDU immerhin überhaupt mal von ihrer Doppelpasspanik abgerückt wäre und nach 2017 vermutlich doppelte Staatsbürgerschaft auch für ältere Ausländer wie mich erlaubt werden könnte.)
2.)  Der totale moralische Bankrott Deutschlands, nämlich die massive Unterstützung von Mord, Totschlag und Krieg durch Waffenexporte in alle Krisenregionen wird nicht unterbunden.

Schwarz-rot macht nicht einmal mehr den Versuch, sich einen friedlichen Anstrich zu geben: Die Bundeswehr für Auslandseinsätze fit machen, drohende Aufweichung des Parlamentsvorbehaltes für Bundeswehreinsätze, europäische (Kampf-)drohnen, Militarisierung der EU, Stillstand bei der Abrüstung und weiter so bei den Waffenexporten. Schon auf dem Papier ist dieser Vertrag noch kriegerischer als der schwarz-gelbe Vertrag von 2009 – und das will schon was heißen.
Der Parlamentsvorbehalt für Auslandseinsätze soll von einer Kommission überprüft werden, da deutsche Soldaten zunehmend in NATO- und EU-Stäben integriert seien. Es droht die Aufweichung des Parlamentsvorbehaltes, wie sie von der Union schon länger gefordert wird.
Die Koalition möchte eine „europäische Entwicklung“ von Drohnen und sie schließt auch die Anschaffung von Kampfdrohnen nicht aus, sondern verspricht nur eine vorherige sorgfältige Prüfung.
Rüstungsexporte: Ein ganz kleines bisschen mehr Transparenz, aber keine Einschränkungen und keine neuen Regeln oder gar Verbote. Weiter so wie bisher.
Abrüstung: Es ist gut, dass deutsche Kleinwaffen künftig fälschungssicher markiert werden sollen. Aber das war es auch schon. Selbst der Abzug der US-Atomwaffen aus Deutschland steht nicht mehr drin. Als einzige Lehre aus den Chemikalien-Lieferungen nach Syrien beschließt die Koalition, künftig solche Exporte „besonders strikt“ zu kontrollieren – das wurde es auf dem Papier allerdings auch früher schon.
Die syrischen Flüchtlinge werden ganz allein gelassen, es wird ausdrücklich keine weitere Aufnahme von Flüchtlingen aus Syrien geplant sondern maximal eine „gemeinsame europäische Initiative zur Aufnahme syrischer Flüchtlinge“.

3.)  Eine Gesundheitsreform wird noch nicht einmal angedacht, Es kommt keine Bürgerversicherung und die niedrig verdienenden Privatversicherten werden weiterhin völlig der Willkür der Versicherungskonzerne überlassen, ohne daß ihnen gesetzlich die Möglichkeit zugestanden wird wenigstens die Kasse zu wechseln, weil ihre Rückstellungen dann an die Kasse fließen und nicht etwa an denjenigen, der sie bezahlt hat, nämlich den einzelnen Patienten.

Andere haben sich da wesentlich effektiver für ihre Wunschliste eingesetzt. Seehofer bekommt beispielsweise 100% seiner Pläne durch: Keine Steuererhöhungen für Multimillionäre, weiterhin die grotesk fehlsteuernde Bildungsfernhalteprämie, Hotelsteuer, die letztlich auch eine Subvention ist, bleibt und gegen das ausdrückliche Wahlversprechen Merkels soll sogar noch die Antiausländer-Maut kommen.

Als verantwortlicher Bürger, der zwar unwürdig ist bei den Bundestagswahlen zu wählen, darf und soll ich aber dennoch beim SPD-Mitgliederentscheid mitmachen und habe daher sogar eine relativ viel gewichtigere Stimme bei der Bildung der deutschen Regierung mitzusprechen.
Ein echter Witz. Ich bin es also nicht wert eine von 82 Millionen Wählerstimmen abzugeben, darf aber das 160fache Stimmengewicht von einem unter 500.000 innerhalb der SPD abgeben.
Ich will mich also bemühen festzustellen, ob es unter dem Strich so viele „Verbesserungen für den kleinen Mann“ gibt, wie Gabriel und Co behaupten.
Bei den Mandatsträgern sind die Mehrheiten wie zu Erich Honeckers Zeiten.
2 Enthaltungen, keine Nein-Stimme bei Probeabstimmung in der SPD-Fraktion.
Warum sind die alle so begeistert?

„Das ist eine Menge Geld, das wir da mobilisieren konnten!“
(Sigmar Gabriel, Brennpunkt, ARD, 27.11.13)

Offenbar sieht Gabriel wirklich das Allheilmittel im Geld ausgeben – ohne daß gefragt wird woher die Moneten kommen.

Von den Strompreiserhöhungen entfallen 87% Industrieausnahmen, die weiter bestehen bleiben und einen falsch designten Strommarkt, beklagt sich Grünenfraktionschef Hofreiter. Außerdem komme „keine staatliche Stromaufsicht“, assistiert Gregor Gysi.

Bundestagsabgeordnete, Minister, Unternehmer und bezahlen NICHTS für die Rentenwohltaten, weil sie nicht in der gesetzlichen Rentenversicherung sind. Dafür wird aber die Lidl-Kassiererin als Melkkuh heran gezogen. Das soll Gerechtigkeit à la SPD sein?

Ja, ich glaube auch, daß der Mindestlohn eine gute Sache ist und kann sogar damit leben, daß die CDU der SPD offenbar Übergangsfristen bis ins Jahr 2017 abgehandelt hat.
Aber ich kann nirgends den Willen erkennen die grundsätzlich ungesunden, umweltzerstörenden und ökonomisch zutiefst ungerechten Strukturen zu ändern.

Zudem fehlen mir die Impulse, die unter der Überschrift „moralischer Regieren“ zu subsummieren sind: Flüchtlinge, Obdachlose, Analphabeten werden ignoriert, die Waffenexporteure geschont.

Der Koalitionsvertrag ist dick, aber nicht stark. Union und SPD wagen keine Reformen. Die Partner wollen eine üppige Vorratsdatenspeicherung einführen - der Grundrechtssensibilität gebührt die Note mangelhaft, genau wie dem Umgang mit Flüchtlingen.
"Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne", schrieb einst der Schriftsteller Hermann Hesse. [….] Als Motto für den Koalitionsvertrag von Merkel, Seehofer und Gabriel passt er nicht.
Von einem Zauber ist nichts zu spüren, von großen, gar großartigen Projekten, die man mit einer großen Koalition verbinden möchte, ist nichts zu lesen; ein visionäres Kribbeln stellt sich an keinem einzigen Absatz der 185 Seiten ein: keine Pflegereform, keine Steuerreform, keine demokratische Offensive, keine migrationspolitische Gesamtstrategie, keine Konsequenzen aus dem NSU- und dem NSA-Skandal. Das Papier ist dick, aber nicht stark. [….] Der Satz, der zur sich formierenden Koalition passt, lautet daher: Diesem Auftakt wohnt ein Zittern inne. Aber ohne dieses Zittern wird die SPD nicht wieder regierungsfähig. [….]
Wer nach einem noch verborgenen Zauber des Koalitionsvertrags sucht, wird schon auf der ersten Seite enttäuscht. Dort steht der nichtssagende Satz: "Deutschlands Zukunft gestalten". Also liest man sich, gelangweilt eingestimmt, durch viele Allgemeinheiten, Plattheiten, Absichtserklärungen. Im Kapitel "Bürgerbeteiligung" heißt es, dass die Koalition die "Akteure der Zivilgesellschaft konsequent in die Diskussion um Zukunftsprojekte einbinden" will. Solcher Lall mündet in der Ankündigung, dass Deutschland im Rahmen der "Digitalen Agenda" einen "Digital Champion" benennen wird. [….] Bisher war nicht bekannt, dass Ex-Innenminister Otto Schily auf Seiten der SPD an den Koalitionsverhandlungen beteiligt war. Wer den innen- und rechtspolitischen Teil des Koalitionspapiers liest, wird den Eindruck nicht los, dass das so gewesen sein muss: Dieser Teil ist partiell von einer so konservativen Rigidität, dass einem beim Lesen die Sehnsucht nach einer FDP anfällt - die es verhindert hätte, dass nun in den Zeiten von NSA allen Ernstes wieder eine üppige Vorratsdatenspeicherung eingeführt werden soll, die sich um die Vorgaben des Verfassungsgerichts wenig schert.
Der Grundrechtssensibilität des Koalitionsvertrags gebührt die Note: mangelhaft. [….] (Heribert Prantl, 27.11.13)

Für das Herz findet sich fast nichts im Vertrag.

Im Koalitionsvertrag 2009 wollte man explizit Jungen fördern, jetzt heißt es: "Die Jungenarbeit soll nicht zu Lasten der Mädchenarbeit ausgebaut werden." Rollenstereotypen soll "entgegengewirkt", Mädchen und junge Frauen mehr für technische Berufsfelder begeistert werden.
Die gesetzliche Frauenquote für Vorstände und Aufsichtsräte kommt, allerdings sind viele Details offen. Butterweich bleibt man bei Lohndifferenzen zwischen Männern und Frauen. Firmen werden aufgefordert, aber nicht verpflichtet, Gehälterunterschiede zu beseitigen.
Die Sukzessivadoption für gleichgeschlechtliche Lebenspartner soll "zügig" umgesetzt werden, aber bei der Öffnung der Ehe oder einem vollen Adoptionsrecht für gleichgeschlechtliche Paare lässt man sich weiter vom Bundesverfassungsgericht treiben. Altersdiskriminierung soll abgebaut, die europäische Jugendarbeitslosigkeit bekämpft werden.
Fazit: Anliegen, die in einer modernen Gesellschaft selbstverständlich sein sollten. Hier hätte man viel mutiger sein können.  [….]
Verbraucherschutz und Landwirtschaft

Keiner der Koalitionspartner hat umstrittene eigene Anliegen durchgesetzt - vielleicht auch deshalb, weil die Themen für die Parteien keine Herzensangelegenheit sind.
Es dominieren Ausweichwörter wie "prüfen", "evaluieren", "entwickeln". Neu ist: Die Koalition erkennt die "Vorbehalte des Großteils der Bevölkerung gegen grüne Gentechnik" an - eine striktere Regulierung fordert sie aber nicht. Der Debatte über Massentierhaltung soll mit einem "wissenschaftlichen Diskurs" begegnet und EU-einheitliche Tierschutzstandards durchgesetzt werden. Zum Öko-Landbau findet sich nur die dürre Information, das entsprechende Bundesprogramm werde "verstetigt".
Beim Verbraucherschutz ist Transparenz das Stichwort, allerlei neue Gremien sollen den Konsumenten mit Rat und Tat zur Seite stehen. Nachdem die SPD mit dem Vorstoß zur Begrenzung der Dispo-Zinsen gescheitert ist, sollen Banken ihre Kunden jetzt warnen, wenn sie ihr Konto überziehen. Wirklich neu ist eine Prüfpflicht, die Schwarz-Rot den Behörden bei wiederholten Verstößen gegen Verbraucherrechte auferlegen will.
Fazit: Die Vereinbarungen sind Kompromisse auf niedrigem Niveau.

Sowas muß man eigentlich ablehnen.
Ich will nicht zur Freude der Rechtsaußens beitragen.



Aber was passiert dann?

Es wird früher oder später zu Neuwahlen kommen, bei denen die SPD als nicht regierungsfähig auf unter 20% abstürzen wird und Merkel wird entweder allein und absolut oder mit AfD/FDP regieren.

Dann gibt es noch viel weniger für mich zu gewinnen.