Freitag, 17. April 2020

Mal wieder so ein Aussetzer


Zugegeben, in der Online-Welt, die selbst mich gegen meinen Willen dazu brachte vor knapp zwei Jahren mein erstes Klugtelefon zu kaufen, weiß man schneller und simultaner über neueste Katastrophen Bescheid, als es seriöse Portale verbreiten und Zeitungen drucken können.
Aber es braucht später doch die richtigen Journalisten, um die Situation zu analysieren, Hintergrundinformationen zu liefern, die Falschmeldungen auszufiltern und alles in die richtigen Zusammenhänge zu ordnen.
Wenn man den Schritt gemacht hat, kommt die Kür. Das sind die Meinungsartikel, die Kommentare, das Feuilleton, die Kolumnen.
Das ist der Spitzenjournalismus, für den man zahlen muss und den ich auch gerne bezahle. Denn diese Feuilleton-Artikel und Kolumnen werden nicht nur von klugen Köpfen geschrieben, sondern sie machen auch klüger, weil dadurch die Informationen neu Vernetzt und in andere Zusammenhänge gestellt werden.
Selbstverständlich ist es angenehmer Kolumnen zu lesen, deren Schreiber auf einer ähnlichen Wellenlänge wie man selbst schwingen.
Aber man verlässt den Pfad der Intellektualität, wenn man im Journalismus nur das liest, was einem persönlich sehr gefällt.
Dafür gibt es schließlich Kunst. Lyrik, Prosa, Romane. Die kann und soll man genießen und Autoren lesen, deren Thematik und Stil erfreuen.
Möchte ich mir aber ein Bild über die aktuellen Entwicklung im Nahostkonflikt oder die britischen Corona-Maßnahmen machen, habe ich den Anspruch ein neues Unternehmenssteuermodell oder die genau Arbeitsweise der WHO in China zu verstehen, brauche ich seriöse Berichterstattung, die auch all das beinhaltet, das ich nicht gern höre.
Anschließend geht es wieder ein paar Seiten weiter zu den Kolumnisten; also Zeitung zum Genießen.
Glücklicherweise gibt es im deutschsprachigen Raum viele gute Kommentatoren und Kolumnisten.
Höflicherweise zähle ich Menschen wie Franz Josef Wagner eben nicht zu Kolumnisten. Der ist ein Clown.

Einer der vielen guten Kommentatoren ist Jakob Augstein, der uneheliche Sohn Martin Walsers, Herausgeber des FREITAG und SPIEGEL-Miteigentümer.
Ein guter, gebildeter Typ, der mir mit seinen Texten schon viel Freude bereitete.
Das bedeutet freilich nicht, daß ich ihm immer zustimme und mich nie über ihn ärgere.

[….] Natürlich habe ich mich auch manchmal über Jakob Augstein geärgert. Etwa in der Kinderbeschneidungsdebatte, als er das Thema ganz offensichtlich nicht recht zu Ende dachte und sich auf die Seite der Kinderschnibbler warf.
Augstein, 52, SPD-Mitglied seit 1992, konnte bei aller Vernunft ab und zu erstaunlich Unvernünftiges heranziehen, indem er beispielsweise den richtigen friedenspolitischen Ansatz mit Bibelzitaten untermauerte.
2016 warf er sich für den höchst zweifelhaften Volker Beck in die Bresche.
Grundsätzlich bedauere ich aber das Ende der Augstein-Kolumne „Im Zweifel links“ (1/11-10/18), weil er als einer der wenigen Meinungsjournalisten ein kenntnisreicher Querdenker war, der sich traute Unpopuläres anzusprechen.
Viele Mal zitierte ich ihn voller Überzeugung.
Insofern war es ein harter Schlag für mich als ihn das renommierte Simon-Wiesenthal-Center im November 2012 auf Platz 9 seiner jährlichen Rangliste der „Top Ten Anti-Semitic/Anti-Israel Slurs“ setzte und sich dabei ausgerechnet auf den längst nicht mehr seriösen Henryk M. Broder stützte, der Augstein mit Hitler verglich und ihn einen  „lupenreinen Antisemit, eine antisemitische Dreckschleuder“ nannte. […..]

Vorgestern war es wieder soweit, als Augstein auf Twitter treudoof fragte wieso Baumärkte öffnen dürften, aber Gottesdienste nicht.



Aua, zum Glück bekam Augstein auch sofort den Shitstorm, der er für so einen selten dämlichen Tweet verdiente.


 Die evangelische Kirche ist übrigens weniger verblödet als Augstein. Auch Muslime halten sich ganz selbstverständlich im Ramadan an alle staatlichen Auflagen des Gottesdienstverbotes. Es sind offenbar nur die Katholiken, die lieber riskieren ihre Schäfchen sterben zu lassen


[…..] Mehr als zwei Drittel der Deutschen halten öffentliche Gottesdienste in der Corona-Krise einer Umfrage zufolge für nicht notwendig. Laut einer repräsentativen Untersuchung durch das in Erfurt ansässige Meinungsforschungsinstitut Insa Consulere für die katholische Zeitung "Tagespost" (Würzburg) sind nur zwölf Prozent der Deutschen der Meinung, Vor-Ort-Gottesdienste auch während der Pandemie zu erlauben.
Unter den Katholiken sprechen sich demnach nur 15 Prozent dafür aus, dass Gläubige derzeit bei Gottesdiensten persönlich anwesend sein dürfen. 69 Prozent seien dagegen. Bei den Protestanten seien 13 Prozent dafür, 71 Prozent dagegen. […..]