Zugegeben, in der Online-Welt, die selbst mich gegen meinen
Willen dazu brachte vor knapp zwei Jahren mein erstes Klugtelefon zu kaufen,
weiß man schneller und simultaner über neueste Katastrophen Bescheid, als es
seriöse Portale verbreiten und Zeitungen drucken können.
Aber es braucht später doch die richtigen Journalisten, um
die Situation zu analysieren, Hintergrundinformationen zu liefern, die
Falschmeldungen auszufiltern und alles in die richtigen Zusammenhänge zu
ordnen.
Wenn man den Schritt gemacht hat, kommt die Kür. Das sind
die Meinungsartikel, die Kommentare, das Feuilleton, die Kolumnen.
Das ist der Spitzenjournalismus, für den man zahlen muss und
den ich auch gerne bezahle. Denn diese Feuilleton-Artikel und Kolumnen werden
nicht nur von klugen Köpfen geschrieben, sondern sie machen auch klüger, weil
dadurch die Informationen neu Vernetzt und in andere Zusammenhänge gestellt
werden.
Selbstverständlich ist es angenehmer Kolumnen zu lesen,
deren Schreiber auf einer ähnlichen Wellenlänge wie man selbst schwingen.
Aber man verlässt den Pfad der Intellektualität, wenn man im
Journalismus nur das liest, was einem persönlich sehr gefällt.
Dafür gibt es schließlich Kunst. Lyrik, Prosa, Romane. Die
kann und soll man genießen und Autoren lesen, deren Thematik und Stil erfreuen.
Möchte ich mir aber ein Bild über die aktuellen Entwicklung
im Nahostkonflikt oder die britischen Corona-Maßnahmen machen, habe ich den
Anspruch ein neues Unternehmenssteuermodell oder die genau Arbeitsweise der WHO
in China zu verstehen, brauche ich seriöse Berichterstattung, die auch all das
beinhaltet, das ich nicht gern höre.
Anschließend geht es wieder ein paar Seiten weiter zu den
Kolumnisten; also Zeitung zum Genießen.
Glücklicherweise gibt es im deutschsprachigen Raum viele
gute Kommentatoren und Kolumnisten.
Höflicherweise zähle ich Menschen wie Franz Josef Wagner
eben nicht zu Kolumnisten. Der ist ein Clown.
Einer der vielen guten Kommentatoren ist Jakob Augstein, der
uneheliche Sohn Martin Walsers, Herausgeber des FREITAG und
SPIEGEL-Miteigentümer.
Ein guter, gebildeter Typ, der mir mit seinen Texten schon
viel Freude bereitete.
Das bedeutet freilich nicht, daß ich ihm immer zustimme und
mich nie über ihn ärgere.
[….] Natürlich habe ich mich auch manchmal über Jakob Augstein geärgert. Etwa in
der Kinderbeschneidungsdebatte, als er das Thema ganz offensichtlich nicht
recht zu Ende dachte und sich auf die Seite der Kinderschnibbler warf.
Augstein, 52, SPD-Mitglied seit 1992, konnte bei aller Vernunft ab und zu
erstaunlich Unvernünftiges heranziehen, indem er beispielsweise den richtigen
friedenspolitischen Ansatz mit Bibelzitaten untermauerte.
2016 warf er sich für den höchst zweifelhaften Volker Beck in die Bresche.
Grundsätzlich bedauere ich aber das Ende der Augstein-Kolumne „Im Zweifel
links“ (1/11-10/18), weil er als einer der wenigen Meinungsjournalisten ein
kenntnisreicher Querdenker war, der sich traute Unpopuläres anzusprechen.
Viele Mal zitierte ich ihn voller Überzeugung.
Insofern war es ein harter Schlag für mich als ihn das renommierte
Simon-Wiesenthal-Center im November 2012 auf Platz 9 seiner jährlichen
Rangliste der „Top Ten Anti-Semitic/Anti-Israel Slurs“ setzte und sich dabei
ausgerechnet auf den längst nicht mehr seriösen Henryk M. Broder stützte, der
Augstein mit Hitler verglich und ihn einen
„lupenreinen Antisemit, eine antisemitische Dreckschleuder“ nannte. […..]
Vorgestern war es wieder soweit, als Augstein auf Twitter treudoof
fragte wieso Baumärkte öffnen dürften, aber Gottesdienste
nicht.
Aua, zum Glück bekam Augstein auch sofort den Shitstorm, der
er für so einen selten dämlichen Tweet verdiente.
Die evangelische Kirche ist übrigens weniger verblödet als
Augstein. Auch Muslime halten sich ganz selbstverständlich im Ramadan an alle
staatlichen Auflagen des Gottesdienstverbotes. Es sind offenbar nur die Katholiken, die lieber riskieren ihre Schäfchen sterben zu
lassen.
[…..] Mehr als zwei Drittel der Deutschen halten öffentliche Gottesdienste in
der Corona-Krise einer Umfrage zufolge für nicht notwendig. Laut einer
repräsentativen Untersuchung durch das in Erfurt ansässige
Meinungsforschungsinstitut Insa Consulere für die katholische Zeitung "Tagespost"
(Würzburg) sind nur zwölf Prozent der Deutschen der Meinung,
Vor-Ort-Gottesdienste auch während der Pandemie zu erlauben.
Unter den Katholiken sprechen sich demnach nur 15 Prozent dafür aus,
dass Gläubige derzeit bei Gottesdiensten persönlich anwesend sein dürfen. 69
Prozent seien dagegen. Bei den Protestanten seien 13 Prozent dafür, 71 Prozent
dagegen. […..]