Sonntag, 21. August 2022

Ukraine-Fatigue

Normalerweise kann ich die Zuverlässigkeit von Quellen ganz gut einschätzen und überlege genau, aus welchen Motiven heraus, wer, was schreibt.

Zum Front-Verlauf im russischen Angriffskrieg auf die Ukraine und die Siegeschancen halte ich mich aber sehr zurück mit eigenen Prognosen.

Ganz am Anfang, Ende Februar 2022, nahm ich an, Putins Armee werde in wenigen Wochen die gesamte Ukraine erobert haben. Offenbar ein großer Irrtum. Als dann aber mehr und mehr westeuropäische Journalisten den Spieß umdrehten und prophezeiten, die Ukraine werde Russland vollständig besiegen, insbesondere, weil Putin nicht gewinnen dürfe, wurde ich vorsichtig.

Anders als Verschwörungstheoretiker, suche ich mir keine „alternativen Quellen“ und gebe nicht vor, besser zu wissen, was wirklich vorgeht.

Aber es ist schon auffällig, daß die meisten Einschätzungen über den Kriegsverlauf von Journalisten und Experten und Militärs stammen, die sehr weit weg vom Geschehen sind. Woher wissen die was in den Köpfen der Soldaten vorgeht?

Der Tagesspiegel stützt sich auf Umfragen, nach denen 80% der Ukrainer die Kriegsanstrengungen ihres Präsidenten voll unterstützen. Wenn man bedenkt, daß ein Fünftel der Bürger Russen mit ukrainischem Pass sind, muss demnach jeder einzelne Nicht-Russe in der Ukraine den Krieg mit allen Mitteln befürworten. Ich will gar nichts anderes behaupten, aber wer kann denn überhaupt wissenschaftlich basierte repräsentative Umfragen im Krieg durchführen?

Und wer kann eigentlich seriöse Kennzahlen über die Wirtschaft in Russland erfassen? Ich lese nahezu gleichzeitig, wie die Sanktionen wirken, Putins Ökonomie kollabiert ist und andererseits, wie China und insbesondere Indien ihre Importe aus Russland drastisch erhöhen. Putin schwimme wegen der gestiegenen Getreide-, Gas- und Ölpreise im Geld.

[….] Warum Indien nicht von Putin abrückt: Indien kauft so viel russisches Öl wie nie zuvor, die Geschäfte laufen prächtig. Dass der Westen irritiert ist, findet man in Neu-Delhi scheinheilig.  […]

(Spon, 18.08.2022)

Wenn ich in diesen Wochen über die enormen ökonomischen Probleme Deutschlands, durch die zusammengebrochene Nachfrage, verängstigte Verbraucher, Energieknappheit und unterbrochene Lieferketten lese, schwingt immer die Annahme mit, ab 2023 werde sich alles normalisieren.

Wieso eigentlich?

2023 ist in weniger als vier Monaten. Ähnlich, wie so viele Bürger, inklusive FDP-Ministern und dem FDP-Vizepräsidenten des Bundestages seit drei Jahren immer denken, Corona wäre bald vorbei und es käme keine neue Welle, glauben wir nun, die Ukrainekrise werde sicherlich in absehbarer Zeit enden.

Ich finde dafür allerdings gar keine Anhaltspunkte.

Die hohen Energiepreise sind bei den meisten Verbrauchern noch gar nicht angekommen, weil die Lieferanten für Wohnungen nur einmal im Jahr den Verbrauch erfassen und für das kommende Jahr die Abschläge anpassen. Mieter bekommen also erst mit der Jahresabrechnung 2022 die fetten Nachzahlungen aufgebrummt. Und ich habe noch nicht mal die Abrechnungen 2021 bekommen, weil Kalorimeta überlastet ist.

Es ist ähnlich wie mit dem grotesken deutschen Personalmangel: Das wird erst noch richtig schlimm, weil die geburtenstarken Jahrgänge jetzt noch arbeiten, aber in den nächsten Jahren in Rente gehen.

Es ist ähnlich wie mit dem Klimawandel: Wir spüren jetzt die katastrophalen Auswirkungen der katastrophalen Energiepolitik von vor 20 Jahren. Selbst, wenn wir ab sofort gar keinen Dreck mehr in die Luft pumpten, würde es noch viele Jahre immer schlimmer.

Stattdessen pusten wir aber MEHR Kohlendioxid und Stickoxide in die Atmosphäre, weil wir wieder auf Kohle und Frackinggas setzen und zudem einen Krieg führen.

Brennende Städte und der Betrieb von Panzern und Flugzeugen helfen nicht, den Klimawandel zu verlangsamen.

Ich sehe schwarz und zwar dunkelschwarz.

Selbstverständlich besitze ich keine Glaskugel, die mir verrät, wie die Lage in der Ukraine in einem Jahr sein wird.

Aber es wäre fahrlässig, die Augen davor zu verschließen, daß Putin einige Trümpfe in der Hand hat.

1.)
Die Mehrheit der Erdenbürger unterstützt eben nicht die Sanktionen gegen Russland. China und Indien, zusammen also 2,8 Milliarden Menschen, scheren aus und die Hunger-Staaten der Südhalbkugel können sich gar nicht leisten, den Mann mit dem Weizen zu blockieren.

2.)

Putin ist sicherlich skrupelloser. Das zeigt er beim Beschuss des AKW Saporischschjas, des größten Kernkraftwerks Europas. Johnson, Scholz, Macron und Biden machen sich gleichzeitig in die Hosen. Und zwar zu Recht. Das ist ein gewaltiges russisches Drohpotential. Wer zweifelt denn daran, daß der Kremls ruchlos genug wäre, Saporischschja explodieren zu lassen, bevor es militärisch vernichtend geschlagen würde?

3.)

Man kann Russland ohnehin nicht mit konventionellen Waffen besiegen, weil es eine Atomsupermacht ist.

4.)

Die deutsche Verhandlungsposition ist absolut erbärmlich: Als Strafe für den Angriff auf die Ukraine, drehen wir Nordstream 2 ab und sind fürchterlich empört, wenn Putin als Gegenmaßnahme beginnt, Nordstream 1 zu schließen. Noch sind es nur die ostdeutsche Querfront, Schröder und Kubicki, die Nordstream 2 wieder öffnen wollen, um Deutschland mit billigem Gas locker über den Winter zu bringen. Aber noch wird in Deutschland geschwitzt, noch merken die Verbraucher den Gaspreis in den Privathaushalten kaum. Und schon sammeln sich Aluhüte von Links bis AfD, um gegen die Gasumlage zu protestieren.

[….] Langsam, ganz langsam, scheint Wladimir Putin die Deutschen dorthin zu bekommen, wo er sie haben will. Der Winter steht vor der Tür, das Gas wird knapp (wegen Putin), und schon kommt in Person von Wolfgang Kubicki von der FDP der erste namhafte Politiker ums Eck, der eine Öffnung der zweiten Ostsee-Pipeline verlangt: Nord Stream 2, diese nagelneue Röhre, die nicht in Betrieb gehen durfte, weil Bauherr Russland die Ukraine überfallen hatte. Es wäre ein Triumph für Putin, würde Berlin hier umfallen. Es wäre ein Sieg der Despotie über die Demokratie und ihre Werte.  Putins teuflischer Plan läuft bisher präzise ab.  […]

(SZ, 22.08.2022)

5.)

Deutschland war in den letzten Jahrzehnten in vielen Weltkrisen eine Insel der Glückseligen. Das hatte viel mit der geographischen Lage zu tun. Wir sind von Freunden umzingelt, haben gemäßigtes Klima, keine Vulkane oder Erdbeben, lagen weit abseits der Flüchtlingsströme und Kriege. Krise und Kriege kommen nun aber viel näher. Die Pandemie kennt keine Grenzen, die Digitalisierung wurde komplett verschlafen, die Bevölkerung ist total veraltet – genau wie das anachronistische Einwanderungsrecht. Zudem schraubte CDU-Bundeskanzlerin Merkel die Abhängigkeit von russischem Erdgas von 30% (Ende Regierungszeit Schröder) auf 55%. Die „Leidensfähigkeit“ ist zwischen Flensburg und Bodensee nicht ausgeprägt. Wir flippen schon bei First-World-Problems aus, wenn zB die Chartermaschine in den Thailand-Urlaub verspätet abhebt. Frieren, Hungern und abgeschalteter Strom werden in den Reihenhäusern von Castrop-Rauxel und Buxtehude eine ganz neue Erfahrung sein.

[…] Der Westen wird kriegsmüde[…] Fast auf den Tag genau sechs Monate ist das nun her, und nicht nur für die Ukrainer hat sich eine "Zeitenwende" ereignet. Der Krieg hat die labile Statik der westlichen Sicherheitsarchitektur verändert, hat Schwachstellen und Abhängigkeiten im globalen Handel und in der Energiepolitik bloßgelegt, hat den Hunger auf der Welt verstärkt und Russland in Teilen der Welt politisch isoliert. […] Die politische Entschlossenheit, sich gemeinsam gegen die imperialen Ambitionen des Kreml zu stellen, bröckelt, parallel zur Solidarität in der Gesellschaft, mit jedem Tag mehr, mit dem die Angst vor hohen Heizkosten und wachsender Inflation weiter steigt. Rechtsextreme Gruppen mobilisieren bereits für den "Wutwinter". Laut Verfassungsschutz dürfte der Kreml versuchen, mit der "gezielten Verbreitung von Falschinformationen" die Angst vor einer existenzbedrohenden Krise in Deutschland zu schüren. Seit Juli sind zudem laut dem Ukraine Support Tracker des Kiel Institut für Weltwirtschaft (IfW) kaum noch neue Waffenlieferungen und andere Hilfsleistungen in der Ukraine eingetroffen.   Zugleich erweist sich die politische Isolation Russlands als Wunschdenken der EU; gerade mal 40 Staaten weltweit haben sich den Sanktionen angeschlossen, das Handelsvolumen zwischen Indien und Russland etwa hat sich seit Kriegsbeginn verfünffacht. Wladimir Putin hat, den indonesischen Gastgebern zufolge, jetzt auch angekündigt, persönlich zum G-20-Gipfel nach Bali zu reisen. […]

(Cathrin Kahlweit, 20.08.2022)

Ich bin kein Bellizist und finde es sehr sympathisch „kriegsmüde“ zu sein.

Aber Putin wird seinem Volk nicht erlauben „kriegsmüde“ zu werden und das perfide Spiel daher länger durchhalten.

6.)
Die Deutschen und „der Westen“ werden zunehmend irrational. Wir bekämpfen und gegenseitig und bezichtigen andere, zu nachgiebig oder zu aggressiv gegenüber Putin aufzutreten. Unsinnige Vorschläge machen es dem Kreml leicht, sich wahlweise als Hort der Vernunft oder armes Opfer darzustellen.

[…] Die ganze Welt hat plötzlich Gefallen daran gefunden, Rache zu nehmen. Politiker in Europa haben begonnen, ernsthaft über ein Visaverbot für russische Bürger zu diskutieren. Im Gegensatz zu den meisten anderen Sanktionen ist diese Maßnahme keineswegs ein Mittel zur Bekämpfung des russischen Regimes. Es handelt sich lediglich um eine Vergeltungsmaßnahme – eine Gelegenheit, die Russen dafür zu bestrafen, dass sie Krieg führen. Das wird einen Sieg der Ukraine natürlich nicht wahrscheinlicher machen. Im Gegenteil, es wird Putin helfen, seine Macht zu festigen. […] Viele Russen erinnern sich noch gut daran, dass Sowjetbürger das Land nicht ohne Ausreisevisa verlassen durften. Es war fast unmöglich, solche zu bekommen – vor allem, wenn der Bewerber »unzuverlässig« schien. Reisen ins Ausland waren ein Privileg, eine Belohnung für Loyalität zum Regime. […] Die Errichtung einer neuen Mauer zwischen Russland und dem Westen ist seit vielen Jahren eines der wichtigsten Propagandaziele Putins. Das Fernsehen hat den russischen Bürgern erklärt, dass der Westen ihnen gegenüber feindlich gesinnt sei, dass Europa voller »Russophobiker« sei, und diejenigen, die nach Europa gingen, Verräter seien. Seit Monaten kursieren in Russland Gerüchte über ein Reiseverbot, über eine Wiedereinführung der sowjetischen Ausreisevisa. Aber jetzt braucht Putin sie nicht mehr einzuführen. Der Westen hat das für ihn übernommen. […]

(Mikhail Zygar, 21.08.2022)