[…..] Er sei auch dagegen, Putin als Kriegsverbrecher zu bezeichnen. «Ich würde Präsident Bush ja auch nicht zum Kriegsverbrecher erklären und vor Gericht stellen, obwohl er ohne Zweifel einen noch folgenreicheren Krieg im Irak geführt hat, mit sehr viel mehr Toten und ohne jeden Grund, wie wir alle heute wissen», sagte er. Auch der Haftbefehl gegen Putin sei «unbedacht und unklug». «Soll denn Moskau zukünftig der einzige Ort sein, wo man mit Putin verhandeln kann?» [….]
Die Hofreiter/Strack-Zimmermann-Fraktion wirft an dieser Stelle üblicherweise ein; Dohnanyi werde im Juni 96 Jahre alt. Wer so alt ist, muss also nicht ernst genommen werden.
Natürlich, unser Rechtsempfinden verleitet uns dazu, Typen wie George W. Bush, Trump, Kronprinz Mohammed bin Salman, Netanyahu, Kim Jong Un, Putin oder Erdoğan hinter Gittern sehen zu wollen.
Wären sie keine mächtigen Regierungschefs mit diplomatischer Immunität und unterlägen nationaler Gerichtsbarkeit, bekämen sie alle lange Haftstrafen.
Aber Dohnanyi hat wirklich einen Punkt: Ob es uns gefällt, oder nicht: Putin ist der Machthaber in Russland und wenn der Ukrainekrieg jemals enden soll, dann geht es nicht ohne ihn. Es gibt nur zwei Möglichkeiten zu einer Lösung zu kommen: Waffen oder Diplomatie. Diplomatie geht nicht ohne Putin. Und genau die Tür hat sich der Westen mit dem Haftbefehl selbst zugeschlagen, weil man Putin nun nicht mehr auf internationaler Bühne treffen kann und sich daher persönliche Gespräche unmöglich sind. Die selbsternannte Völkerrechtlerin Annalena Baerbock mag also formaljuristisch richtig liegen, wenn sie Putin als „Kriegsverbrecher“ bezeichnet und den Haftbefehl gegen ihn unterstützt. Die oberste deutsche Diplomatin Annalena Baerbock hat sich damit aber in die eigenen Knie geschossen. Nun kann sie gar keine diplomatischen Schritte mehr auf oberster Ebene unternehmen. Es wurde auch nicht bedacht, wie ungeheuer hilfreich der Haftbefehl für die Kreml-Propaganda ist. Natürlich wird dort nun verbreitet, der Westen habe kein Interesse an friedlichen Lösungen. Natürlich kann Putin nun immer auf die Doppelmoral verweisen, indem er die Buchstaben „GWB“ ausspricht. Und womit? Mit Recht.
In einer idealen Welt, würden sich kriminelle Regierungschefs ihrer nationalen Justiz stellen und bei Verbrechen gegen andere Völker, auch vor internationalen Gerichtshöfen Verantwortung übernehmen.
Das geht aber in der realen Welt nur mit besiegten Ex-Regenten kleiner Länder. Bosnien zB. Die USA erkennen den internationalen Gerichtshof gar nicht erst an, verlangen aber von anderen Ländern, sich dort zu unterwerfen.
Das erinnert an die chinesische Regierung, die voller Empörung scharf reagiert, wenn EU oder USA auch nur darüber nachdenken, die chinesische Plattform TikTok einzuschränken. Während in China selbst Facebook, Instagram, Whatsapp UND TiKTok verboten sind.
Diplomatie ist ein grundsätzliches Dilemma, weil es gerade darum geht, mit den Mächten einen Modus Vivendi zu finden, die man nicht mag und die nicht den eigenen Regeln folgen.
Ich verstehe den Wunsch, Deutschland möge sich von Frau Meloni fernhalten, ihr nicht zur Wahl gratulieren. Aber in deswegen muss man noch lange nicht mit der Faschistin schmusen, wie es die CDUCSU-Toppolitiker von der Leyen und Weber tun.
Ich verstehe Exil-Iraner, die empört auf europäische Beileidbekundungen zum Tod des Iranischen Präsidenten Raisi reagieren.
[….] Wenn auch nur ein Kondolenzschreiben aus der EU oder von Deutschland an die Islamische Republik geht, wäre das ein absolutes Versagen.
Kondolenz sollte an die Tausenden und Abertausenden Menschen und Familien, die unter Ebrahim Raisi Leben, Freiheit und Zukunft verloren haben. […..] Weil es überall steht: Ebrahim Raisi war kein „Hardliner“. Er WAR das System der Islamischen Republik. Seine Linie, seine Morde, seine Ansichten sind exakt das, wofür dieses System steht. Ich wünschte, Medien würden das nicht ohne Einordnung schreiben und behaupten. [….]
Es hilft aber alles nicht: Der Iran ist ein zentraler Machtfaktor des Nahen Ostens; völlig unabhängig davon, wie verbrecherisch das Teheraner Regime ist und wie sehr wie es verachten. Da dürfen nicht alle diplomatischen Türen zugeworfen werden.
Es liegt in der Natur der Sache: Diplomatie ist ein Drahtseilakt, bei dem man einerseits Rote Linien ziehen muss, sich nicht alles gefallen lassen darf, aber man andererseits stets schwer erträgliche Zugeständnisse machen muss, um handlungsfähig zu bleiben.
Nach den beantragten Haftbefehlen des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) gegen Israels Ministerpräsident Benjamin Netanyahu und seinen Verteidigungsminister Yoav Gallant, ist das internationale Geschrei sehr groß.
Selbstverständlich gibt es eine Menge nicht weiterführenden Whataboutism und falsche Antisemitismus-Vorwürfe.
[….] US-Präsident Joe Biden nannte das Vorgehen des Chefanklägers des IStGH gegen Israel "empörend". Israel und die militant-islamistische Hamas dürften nicht gleichgestellt werden, teilte Biden mit. Man werde Israel immer bei Bedrohungen gegen die Sicherheit des Landes zur Seite stehen, so Biden weiter.
Netanyahu bezeichnete die Anträge des Chefanklägers Karim Khan als absurd und warf der Anklage Antisemitismus vor. "Als Ministerpräsident Israels weise ich den Vergleich des Haager Staatsanwalts zwischen dem demokratischen Israel und den Massenmorden der Hamas mit Abscheu zurück", so Netanyahu. "Kein Druck und keine Entscheidung in irgendeinem internationalen Forum wird uns davon abhalten, diejenigen zu treffen, die uns zerstören wollen." Auch Israels Außenminister Israel Katz sprach von einer "skandalösen Entscheidung". Diese stelle "einen frontalen, zügellosen Angriff auf die Opfer des 7. Oktober und unsere 128 Geiseln in Gaza" dar. Er sprach nach Angaben seines Büros von einer "historischen Schande", die für immer in Erinnerung bleiben werde.
Israels Präsident Itzchak Herzog bezeichnete den Antrag auf Haftbefehl gegen Regierungschef Netanyahu und Verteidigungsminister Gallant ebenfalls als "mehr als empörend". Der israelische Oppositionsführer Jair Lapid sprach von einem "völligen moralischen Versagen". [….]
Möglicherweise tat der IStGH Bibi heute einen großen Gefallen. Schließlich ist der Premier im eigenen Land extrem unbeliebt, muss fürchten, bei Neuwahlen in hohem Bogen aus dem Regierungspalast direkt in den Knast zu fliegen; seine eigenen Minister stellen ihm bereits Ultimaten.
Aber daß nun zwei Israelische Regierungsmitglieder in einem Abwasch mit den drei Hamas-Führern - Jahia Sinwar, Mohammed Diab Ibrahim Al-Masri, Deif genannt, und Ismail Haniyeh, verhaftet werden sollen, empört viele Bibi-Kritiker in Israel so sehr, daß sie sich wieder auf seine Seite schlagen.
Den Haag unternimmt den Schritt nicht aus einer Laune heraus, sondern wohlbegründet.
[….] Netanyahu und Gallant wird unter anderem vorgeworfen, für das Aushungern von Zivilisten als Methode der Kriegsführung sowie für willkürliche Tötungen und zielgerichtete Angriffe auf Zivilisten verantwortlich zu sein. Zum israelischen Vorgehen hieß es in einer Erklärung Khans, dass "die Auswirkungen des Einsatzes von Hunger als Methode der Kriegsführung zusammen mit anderen Angriffen und kollektiven Bestrafungen gegen die Zivilbevölkerung in Gaza akut, sichtbar und weithin bekannt" seien. Dazu gehörten "Unterernährung, Dehydrierung, tiefes Leid und eine wachsende Zahl von Todesfällen unter der palästinensischen Bevölkerung, darunter Babys, andere Kinder und Frauen". [….]
Chefankläger Karim Khan handelt für mein moralpolitisches Empfinden völlig richtig. Ich mutmaße auch; er handelt juristisch fundiert.
Aber gleichzeitig könnte das realpolitisch die Fronten verhärten und Jerusalem noch tauber für diplomatische Initiativen machen.
Bis vor wenigen Jahren hätte man angenommen, ein republikanischer Präsidentschaftskandidat, also von jener Partei, die angeblich für LAW and ORDER steht, wäre erledigt, wenn er mit 91 Anklagepunkten vor Gericht sitzt und seine sexuellen Übergriffe diskutiert werden. Aber die Hälfte der US-Bevölkerung ist moralisch so völlig degeneriert, daß es Trump sogar eher zu nutzen scheint, tagtäglich schlafen und furzend auf der Anklagebank zu hocken.
Die Verfahren gegen IQ45 sind selbstverständlich juristisch und moralisch richtig, könnten sich aber politisch als falsch herausstellen. Ob Bibi der Beef mit Den Haag ebenfalls nützt?
Sicher bin ich allerdings nicht. Möglich ist auch, daß Israels Demokratie und das Verbundenheitsgefühl mit der internationalen Gemeinschaft so gefestigt ist, daß es Netanyahus Karriere eher schadet, mit Haftbefehl gesucht zu werden.
[….] Israel muss sich verteidigen. Aber nicht auf diese Art und Weise, ohne Rücksicht auf Verluste. Der Vorwurf des Internationalen Strafgerichtshofs ist präzise. Nimmt man den gesamten Globus in den Blick, wie dies ein Internationaler Strafgerichtshof tun sollte, dann gibt es gewiss viel grausamere Kriegsherren als den seit zusammengerechnet 16 Jahren regierenden Premierminister Israels, Benjamin Netanjahu. Man braucht nur direkt nebenan zu schauen, im Nachbarland Syrien sitzt - vom Internationalen Strafgerichtshof unbehelligt - ein Diktator in zweiter Generation, Baschar al-Assad, der Zehntausende Menschen in Folterkellern verschwinden lässt, Fassbomben auf Wohngebiete abwerfen lässt und dabei nicht einmal so tut, als würde er, wie Netanjahu, einen grundsätzlich legitimen Verteidigungskrieg führen müssen.
Blickt man in die Galerie der jüngeren Zeitgeschichte, dann sind es sogar überhaupt nur wenige Regierungschefs, die jemals offiziell durch die internationale Justiz zu Straftatverdächtigen erklärt worden sind. Was nun mit Netanjahu geschieht, ist selten: Am Montag hat der Chefankläger des Weltstrafgerichts verkündet, er wolle einen Haftbefehl gegen den Israeli erwirken, ungeachtet aller amtlichen Würden - so wie zuvor etwa gegen den Russen Wladimir Putin, der sein Nachbarland ohne jede glaubwürdige Rechtfertigung überfiel. Oder einst auch gegen Slobodan Milošević, den politischen Einpeitscher der serbischen Völkermörder-Truppen in Srebrenica und an vielen weiteren Orten des Balkans.
Mit der Totalität jener Angriffskriege kann man die schwierige Kriegsführung Israels gegen eine Terrorarmee, die Kibbuzim und Dörfer angegriffen hat und sich seither in Tunnels und hinter Zivilisten verschanzt, nicht vergleichen. [….] Und trotzdem: Nichts von diesen Vergleichen entlastet Netanjahu, weder moralisch noch juristisch. [….] Das humanitäre Völkerrecht mit seinem zentralen Appell, Zivilisten zu schonen, bindet alle Seiten in einem Krieg, oder es ist wertlos. Es geht dem Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs erkennbar nicht um die Tatsache, dass Israel sich verteidigen muss. Sondern allein um die Art und Weise, wie es dies tut. [….] Eine Zäsur ist sie gleich in doppelter Hinsicht. Erstens zeigt die internationale Strafjustiz ein Selbstbewusstsein, das neu ist. [….] Zweitens: Wenn sich der Riss zwischen Israel und dem westlichen Staatenbündnis ohnehin schon länger abgezeichnet hat, so ist dies nun die notarielle Beglaubigung. [….]