Samstag, 15. Juni 2013

In der Prädemokratie.



Als ich damals in der Oberstufe Gemeinschaftskunde (GMK) bekam, war ich begeistert und wußte sofort, das würde mein Abifach werden.
Ich erlebte das Fach als allgemeine Politiklehrveranstaltung. Die theoretischen Grundlagen und sehr viele Diskussionen über aktuelle Bezüge.
In Erinnerung ist mir insbesondere die Entwicklung der Demokratie-Idee und die großen Unterschiede zur demokratischen Praxis.
Was so nett in der „Polis Athen“ begann, war nach unseren Maßstäben natürlich nicht richtig ideal.
 Sklaverei, entrechtete Frauen und Mitspracherechte nur für die wenigen vermögenden Patrizier, die es sich gut gehen ließen. Es waren idealisierte Bedingungen, unter denen die Demokratie stattfand. Unter Vollzeit-Demokraten, die sich mit nichts anderen beschäftigen mußten.
Auch die Franzosen Baron de Montesquieu (1689 – 1755), Maximilien Robespierre (1758 - 1794) und Jean-Jacques Rousseau (1712 – 1778) oder der Brite John Locke (1632 – 1704), auf deren Theorien unsere heutigen westlichen Staatsformen aufbauen, hatten keine desinteressierte Masse von Deppen im Sinn, wenn sie über den Staat philosophierten.

In der Theorie sind in einer Demokratie alle Wähler informiert, interessiert und engagiert.
Sie durchschauen ihre Volksvertreter und stimmen rational nach ihren legitimen Interessen ab.
Die Verhältnisse sind übersichtlich, jeder weiß, was in den Parlamenten diskutiert wird, wer welche Positionen vertritt.

Von der Theorie ist die Praxis in Deutschland des Jahres 2013 so weit entfernt, daß es mir schwer fällt überhaupt noch von „Demokratie“ zu sprechen.
Die demokratische Praxis wird von Apathie geprägt. Apathie, die geradezu dafür prädestiniert ist, von einer Präsidialkanzlerin, die asymmetrisch demobilisiert ausgenutzt zu werden. Auf welches Volk ließe sich besser der Merkel'sche Mehltau des Nichtstun legen?
Sicher, die Verfassung ist demokratisch, aber wie ist der Zustand des Staates, in dem bei vielen Wahlen die Majorität der Wähler a priori alle demokratischen Rechte wegwirft und sich bereitwillig der Entscheidung von anderen unterwirft?
Ist es Demokratie, wenn in vielen Orten das passive Wahlrecht gar nicht mehr ausgefüllt wird, weil schlicht und ergreifend keiner Lust hat sich zur Wahl zu stellen?
 Ist es demokratisch, wenn den allermeisten Wählern die Wege der Entscheidungsfindung nicht nur unbekannt sind, sondern auch gar kein Interesse besteht die Einflüsse von mächtigen Lobbygruppen offenzulegen?
Kaum einer weiß wer eigentlich was entscheidet. Die meisten glauben, sie wählten bei Bundestagswahlen den Kanzler. Dabei tun sie dies eben gerade NICHT, sondern sie wählen Parteien. Parteien und mit ihnen eine Vielzahl von potentiell korrupten Lobbyisten.

In Deutschland ist noch nicht mal Abgeordnetenbestechung strafbar, weil sich Union und FDP hartnäckig weigern die entsprechenden Forderungen der EU umzusetzen.
Schwarz-Gelb blockiert schärfere Korruptionsbekämpfung.

Nachdem heute im Wirtschaftsausschuss des Bundestages die schwarz-gelbe Mehrheit zum vierten Mal die Beratung eines bündnisgrünen Gesetzentwurfs für ein zentrales Register über korruptive und unzuverlässige Unternehmen verweigerte, erklären Beate Walter-Rosenheimer, Obfrau im Wirtschaftsausschuss, und Hans-Christian Ströbele, Mitglied im Rechtsausschuss:

Mit dieser undemokratischen Verzögerungstaktik wollen Union und FDP das rettende Ende der Wahlperiode erreichen und eine Schlussberatung des Gesetzentwurfs vereiteln. So hoffen sie der Peinlichkeit zu entgehen, im Plenum des Bundestages offen gegen schärfere Korruptionsbekämpfung stimmen zu müssen. Denn dafür wäre laut einhelliger Expertenmeinung das zentrale Unternehmensregister unverzichtbar, das der grüne Gesetzentwurf vorsieht.

Doch Union und FDP haben bereits in den zwei mitberatenden Ausschüssen mit ihrer Mehrheit den Gesetzentwurf klar abgelehnt, also zugunsten der Korruption votiert. Im Wirtschaftsausschuss und im Plenum scheut die Koalition aber diese Positionierung. Ähnlich wie sie sich einer Debatte um die Strafbarkeit von Abgeordnetenbestechung entzogen haben, setzen die Koalitionsfraktionen auch bei Korruption in der Wirtschaft lieber auf Täterschutz.
(PM Nr. 0453, Bündnis90/die Grünen 12.Juni 13)
Weit entfernt von einer praktisch funktionierenden Demokratie ist insbesondere das Bundesland Bayern. Dies zeigte eine ausführliche Wählerbefragung, welche die Süddeutsche Zeitung heute veröffentlichte.
Landesbank-Debakel, Turbo-Abitur, Gehälter-Affäre: Manche Wähler sehen die CSU als Inbegriff für Skandale und Pannen. Und doch: Eine Mehrheit will das Kreuz bei der Partei machen, die Bayern seit Jahrzehnten regiert.
(SZ 15.06.13)
Fragt man die Bayern mit welcher Partei sie Skandale und Korruption verbinden, ist das Ergebnis extrem eindeutig: 
57% CSU, 9% SPD, 4% FDP, 2% Piraten und 1% Grüne.
Das stört die Bayern aber gar nicht. 
Regiert von einem Haufen korrupter Lügner und einem psychopathischen Regierungschef, der seine Meinungen mindestens drei Mal pro Tag diametral ändert?
Macht nichts. Genau die Partei soll sie weiterhin regieren.
Betreuungsgeld, Gehälteraffäre, das Festhalten am G8 und ein äußerst sprunghafter Vorsitzender: Die CSU kann anstellen, was sie will, die Bürger wählen sie trotzdem. […]  Die Bayern neigen offensichtlich dazu, selbst jene Mächtigen mit Zuneigung zu belohnen, die dem Wohle des Landes eher schaden als nützen.

[Die CSU] darf gegen den Willen ihrer Klientel am achtjährigen Gymnasium festhalten, das umstrittene Betreuungsgeld einführen, sich in Affären verstricken - die Bayern wählen sie trotzdem. Laut Umfrage dieser Zeitung kann die CSU derzeit mit 46 Prozent der Stimmen rechnen. […] Dass die CSU Scherereien erstaunlich gut wegstecken kann, zeigt die jüngste Gehälteraffäre im Landtag. Obwohl diese in den Medien einen Sturm entfacht hat, reagiert die bayerische Bevölkerung mit einer Gemütsruhe, die sich höchstens zum Grant auswächst, aber weit entfernt ist vom Erregungspegel des Wutbürgers. Diese Gelassenheit ist zutiefst landestypisch. Seit jeher neigen die Bayern dazu, selbst jene Mächtigen mit Zuneigung zu belohnen, die dem Wohle des Landes eher schaden als nützen.

Von dieser Gunst zehrte schon Kurfürst Max Emanuel, der im 18. Jahrhundert Bayern gegen die Niederlande eintauschen wollte. Das Volk liebt auch König Ludwig II., der die Souveränität Bayerns geopfert hat, und es pflegt das Andenken an Ministerpräsident Franz Josef Strauß, der nationale Interessen jederzeit über bayerische Belange stellte. Der Historiker Reinhard Falter hat nicht Unrecht, wenn er daraus den Schluss zieht, das bayerische Volk verzeihe seiner Obrigkeit vieles, wenn nur die Ausstattung stimmt, und das gelte heute noch. […] Kein bayerischer Politiker verkörpert diese Widersprüchlichkeit prägnanter als der CSU-Chef und Ministerpräsident Horst Seehofer, der die Tugend der Sprunghaftigkeit und der schnellen Meinungsänderung gleichsam zum Regierungsprinzip erhoben hat. Trotzdem schafft er es, mit fast schon präsidialer Attitüde den Bürgern den Eindruck zu vermitteln, ihre Probleme seien bei ihm gut aufgehoben. Auf die eigene Partei nimmt er dabei wenig Rücksicht.
So hatten sich das die Vordenker der demokratischen Theorien vermutlich nicht gedacht.