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Sonntag, 8. Juni 2025

Genau wie ich

Ganz, ganz dosiert gucke ich mir gelegentlich Reality-TV an. Meine offizielle Rechtfertigung vor mir selbst lautet, daß man informiert darüber sein muss, wie sich Abermillionen Menschen in Deutschland amüsieren, welche Werte und Gedanken die Jugend umtreiben. Insbesondere die sprachlichen Moden interessieren mich, weil ich, als Mittfünfziger-Bücherwurm ohne Kinder, keinen Zugang zu dieser Sphäre habe. Es gibt aber eine weitere, heimliche Ebene, die ich mir ungern eingestehe: Im Entsetzen über die grotesken Moden, die bizarren Bodymodifications und sagenhafter Bildungsferne, liegt natürlich ein erhebendes Gefühl, selbst so viel klüger zu sein. Obgleich es unverdient ist, freue ich mich über meine eigene Lesekompetenz oder die Kenntnis von Sprichworten. Denn für meine Generation und mein Umfeld, ist das so selbstverständlich, daß es einem nie bewußt wird. Erst, wenn ich im Reality-TV sehe, wie die Mehrheit der Probanden daran scheitert, einfachste Sätze vorzulesen, fällt mir auf, was wir, im Gegensatz zu den Twens von heute, alles gelernt haben.


Auch Dank der großartigen Anja Rützel mit ihren geistreichen RealityTV-Analysen im SPIEGEL, gelange ich zu mehreren befremdlichen Erkenntnissen über (zumindest große Teile) unserer Gesellschaft.

1.   Es gibt keine Scham mehr.

2.   Je respektloser und unverschämter sich jemand benimmt, desto lauter fordert er Respekt ein, beklagt selbst respektlos behandelt worden zu sein.

3.   Längst vergangen geglaubte Geschlechterrollen kehren zurück. Junge Frauen wünschen sich maskuline Beschützer, die ihnen Entscheidungen abnehmen.

4.   Der ultimative Gütemaßstab ist das eigene Ego. Das höchste Lob lautet „Du bist genau wie ich“, respektive „die finde ich geil, weil ich bin genauso!“

Letzteres stößt mir besonders sauer auf, weil es die Entsprechung des Selfie-Wahns und Influencertums ist. Man präsentiert sich, weil man sich ganz selbstverständlich für den Nabel der Welt hält. Die eigene Relevanz wird gar nicht erst in Frage gestellt. Die Qualitäten der anderen, werden in der Ähnlichkeit zu einem selbst gemessen. Das erstaunt mich insofern, als das in meiner Jugend als extrem egoistisch angesehen worden wäre, während man heute dafür beglückwünscht wird.

Es passt aber auch rein zufällig nicht zu meiner Persönlichkeit; ich fand immer die Menschen interessanter, die anders als ich sind und mochte nie fotografiert werden. Das Internet ist frei von meinen Selfies, weil es sie nicht gibt.

Sehr gut kenne ich aber das parallele Gefühl aus der Welt der Kunst: Ich liebe natürlich Maler, Autoren, Musiker, die Stimmungen oder Ideen transportieren, durch die ich mich verstanden fühle. Romanfiguren, die etwas durchleben, in dem man sich wiedererkennt, berühren. Songs, die ein Gefühl vermitteln, welches in einem selbst rumort, ohne es exakt ausdrücken zu können, begeistern.

Dabei verschwimmen bewußte und unterbewußte Ebene, indem man sich für einen Gedanken erwärmt, der einem zwar ganz neu ist, aber sofort vertraut wirkt: „Das habe ich schon immer gesagt!“

Deswegen bin ich auch Anja Reschke-Fanboy der ersten Stunde. Seit 25 Jahren bewundere ich diese Frau, die sogar ein paar Jahre jünger als ich ist und ausgerechnet aus München stammt. Eine Bayerin.

Jede Ausgabe PANORAMA und RESCHKE FERNSEHEN lohnt sich. Ich freue mich auf jede ihrer Sendungen.

Vorgestern war sie zu Gast bei Michel Abdollahis Käpt'ns Dinner. Dort erfuhr man viel Persönliches über ihren familiären Hintergrund. Für mich durchaus faszinierend von ihrer Gymnasialzeit zu hören, weil sie nur vier Jahre nach mir Abitur machte, aber ihre Schilderungen wie aus einer anderen Welt klingen. Vielleicht ist es der Unterschied zwischen Hamburg und München, vielleicht Zufall.

[…] "Ich bin mit konservativen Werten aufgewachsen: Familie zählt, Verlässlichkeit zählt, Verbindlichkeit und all diese Sachen - und heute gilt man damit als links. Finde ich lustig. Die Frau, die an Weihnachten Klavier spielt und mit der ganzen Familie singt ist auf einmal links. Und wieso ist überhaupt seit Neustem "für Menschenrechte einstehen" links?" […]

(NDR, 07.06.2025)

Es amüsiert mich, zu hören, daß sie das Oktoberfest liebt, welches für mich das absolute Grauen darstellt. Es befremdet mich, wie sie erklärt, zwar ungläubig zu sein, aber trotzdem zahlendes Kirchenmitglied zu sein, weil sie es für wichtig hält, daß es über der Gesellschaft irgendeine höhere Instanz geben müsse, an die die Menschen glauben. Die Kirche habe zwar enorme Schuld auf sich geladen, aber ihr fiele nichts besseres ein.

Es schmeichelt mir, wenn sie Dinge benennt, die ich zufällig genauso sehe: Hamburg ist im Vergleich zu München eine Weltstadt. Oder, daß sie lange Zeit Fan der britischen Royals war, aber mit dem Tod der Queen, ihr Interesse völlig abgeklungen sei. Sie könne absolut keine Neugier für die Harry-Meghan-William-Kate-Kabale aufbringen.

Es blieb beim Käpt’ns Dinner natürlich nicht bei Oberflächlichkeiten. Es gab auch Deep Talk.

Michel Abdollahis Schlussfrage zielte auf die Zukunft; „guckst Du auf ein gutes Jahr 2030?“ (Minute 29:00)

Meine Antwort ist lange klar und wird kontinuierlich in diesem Blog wiederholt: Ich bin zutiefst pessimistisch. Aber was würde eine Profi-Journalistin sagen, die ihr Leben der tiefen Recherche widmet, erwachsene Kinder hat und auf Enkel hofft?

Reschke: „Ich bin kein Pessimist, aber ..Nein!“ [….] „Ich meine es nicht nur klimatisch, …, du siehst was sich in den USA abspielt, du siehst was sich in den europäischen Ländern abspielt, was sich in der Welt abspielt, was sich im Sudan abspielt; das ist alles grauenvoll und im Moment habe ich nicht das Gefühl, daß die Menschheit in der Lage ist, das in den Griff zu kriegen. Das ist total doof.“

Das war der „die finde ich geil, weil ich bin genauso!“-Part.

Aber es gab auch die erkenntnisreichen Sätze, in den Reschke Gedanken ausformuliert, die bisher nur eher schwammig in mir vorhanden waren.

Abdollahi fragt sie beispielsweise nach den drastischen Shitstorms, die sie 2015 von den Nazis erlebte. Minute 13:35. Sie stand aufgrund einiger klarer Worte im Tagesthemen-Kommentar in Zenit des AfD-Hasses. Damals noch etwas Besonderes, weil es nur wenige so heftig, wie Reschke traf, während zehn Jahre später, tausende öffentlich bekannte Personen, die sich mit humanen Ansichten zu Wort melden, mit Shitstorms überzogen werden.

Es war aber für Reschke 2015 dennoch leichter, weil sie noch von einem Grundoptimismus getragen wurde. Die Welt entwickelte sich schließlich  gesellschaftlich grundsätzlich in die richtige Richtung. Die Nazis, die sie angriffen, waren die Minderheit, die keinen Erfolg haben werden. Das sei jetzt aber anders. Nun fürchte sie, diejenigen, die mit Scheiße werfen, könnten Erfolg haben. Der Glaube an der stabile Land, daß der Faschismus überwunden sei, wurde ihr genommen.

Eine andere Frage Abdollahis lautete, wohin sich die Rechtspopulisten, die AfD, Trump eigentlich zurücksehnten. Die 1980er? (Minute 15:30)

 Reschke: „Die waren ja auch scheiße. [….] Am Ende ist der Mensch heute überfordert von dieser großen Anzahl der Möglichkeiten. Diese unfassbare Welt, die sich da aufgetan hat, wo du theoretisch alles werden kannst, alles haben kannst, alles sein kannst […] verspricht dir natürlich wahnsinnige Freiheit, bedeutet aber auch, daß mit jeder Entscheidung, die du in deinem Leben getroffen hast, du damit klarkommen musst, daß du irgendwas nicht geschafft hast. Es zeigt dir ja auch dauernd, ah guck mal, du hättest auch das sein können, ah guck mal, du hättest auch das kaufen können, du hättest auch dahin fahren können [….] dh du hast permanent das Gefühl es nicht richtig entschieden zu haben, was verpasst zu haben, andere zu sehen, die etwas besser gemacht haben, besser optimiert haben…“

Ich glaube, das ist ein ganz wesentlicher Punkt. In den Zeiten, zu denen sich Höcke und Trumpanzees zurücksehnen, war die Welt kleiner. Die Wege, die man ging, bereute man anschließend weniger und hatte weniger Gelegenheit, andere zu beneiden und sich ungerecht behandelt zu fühlen.

Sonntag, 24. März 2024

Frauenpower

Bei meinem politischen Medienkonsum mag ich am liebsten Kolumnen, Essays, Meinungsartikel. Die verschiedenen Perspektiven empfinde ich als extrem lehrreich.

Gebildete Kolumnisten, die gut schreiben können, müssen nicht unbedingt meine Meinung vertreten, damit ich sie mag.

Gleichwohl schwingen meine Lieblinge tendenziell natürlich auf meiner Wellenlänge.

Es gab immer auch meine Stars, zu denen ich mich wie ein echter Fan-Boy verhielt und verhalte. Von ihnen lese, beziehungsweise sehe ich alles, was sie von sich geben; egal um welches Thema es geht. Beispiele sind Helmut Schmidt, Gräfin Dönhoff, Carl-Friedrich von Weizsäcker, Egon Bahr, teilweise Wolf Biermann (1980-2000), Ingrid Matthäus-Maier, Michael Schmidt-Salomon, Klaus Bednarz, Volker Panzer, Marcel Reich-Ranicki, Marc Pitzke, Freimut Duve, Rudolf Augstein, Walter Jens, Kurt Kister, Peter Glotz.

Im aktuellen SPIEGEL wurde ein Interview mit Jan Philipp Reemtsma geführt. Er gehört auch in diese Liga der Denker, die ich aufrichtig bewundere, so daß ich ganz selbstverständlich zuerst die entsprechende Seite des Hefts aufschlage.

Und er enttäuscht auch diesmal nicht.

[…..]  SPIEGEL: Seit dem Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober sehen wir in Deutschland erneut einen offensichtlichen Antisemitismus. Wie erklären Sie sich das?

Reemtsma: Ich mag das Gerede vom »Erklären« nicht. Es suggeriert, man könne irgendetwas hinter den Kulissen finden und dann sagen: »Ach ja, deshalb«. Man muss einfach sehen, dass der Antisemitismus die erfolgreichste Ideologie oder Obsession oder meinethalben auch Geisteskrankheit ist, die es in Europa gegeben hat und in die Welt gekommen ist. Er ist Folge der Karriere des Christentums, hat alle Veränderungen überstanden und ist auch dort erfolgreich geworden, wo die alten christlichen Obsessionen keine Rolle spielen.

SPIEGEL: Bleibt dennoch die Frage: Warum ist das so?

Reemtsma: Nicht warum, sondern: Was ist der Fall? Wer ein Antisemit ist, kann sich als Teil einer weltumspannenden Gemeinschaft fühlen, die ein Ressentiment pflegt. Ein Antisemit fühlt sich nicht als ein »Ewiggestriger«, wie das dumme Wort heißt, sondern wie ein moderner Mensch, der etwas begriffen hat, was viele andere noch nicht begriffen haben. Und das genießt der Antisemit.

SPIEGEL: Ein Ressentiment ist eher ein Gefühl als eine Sache des Verstands.

Reemtsma: Ja, Sätze, die wie Argumente klingen, sind oft Ausdrucksformen von Affekten. Und man kann den Menschen Gefühle nicht ausreden. Man kann Menschen Verliebtheiten nicht ausreden und auch nicht ihren Hass. Man kann so etwas wie den Antisemitismus nur bekämpfen, ächten, verächtlich machen, Strafgesetze anwenden, wo das geht.

SPIEGEL: Bezogen auf den Nahostkonflikt gehen in der postkolonialen Bewegung zurzeit zwei Sätze um: »Free Palestine from German guilt«. Und: »From the river to the sea, Palestine will be free«. Was halten Sie davon?

Reemtsma: Gerade der zweite Satz macht auf plakative Weise klar, dass die Leute, die ihn aussprechen, Israel von der Landkarte tilgen möchte. Das ist so irrsinnig, so pathologisch und bösartig, dass ich – obwohl es hermeneutische Maxime sein sollte, in bösen Dingen alles für möglich zu halten – davon doch überrascht war. Und der erste Satz zeigt den Wunsch, der deutschen Vergangenheit dadurch ledig zu werden.

SPIEGEL: Antisemitismus und die sogenannte Israelkritik gehen oft einher, aber das, was gemeinhin Israelkritik genannt wird, ist nicht automatisch antisemitisch. Wie bewerten Sie Israels Angriffe auf den Gazastreifen?

Reemtsma: Was ist eigentlich »Israelkritik«? Sagt man, wenn man die Erdoğan-Regierung kritisiert, »Türkeikritik«? Thema Gaza: Ich halte wenig von solchen Meinungsäußerungen. Wir hören zu viel davon, jeder fühlt sich berufen, irgendwas zu »meinen« und zu »bewerten«. Ich könnte sagen: Der wichtigste Schritt zu einem Frieden im Nahen Osten wäre die Verhaftung der Hamas-Führung und die Bereitschaft Ägyptens, Saudi-Arabiens und Jordaniens gewesen, Truppen zur Unterstützung von Israels Verteidigungskrieg in Gaza zu stellen. Nicht falsch, aber illusorisch. Und wenn ich das sage, ist es völlig belanglos. […..]

(JP Reemtsma, SPIEGEL 23.03.2024, s. 104ff)

Einige meiner Lieblinge, Heribert Prantl zum Beispiel, fangen im fortgeschrittenen Alter an zu spinnen. Das ist natürlich schmerzhaft, wenn man jemanden vorher über so viele Jahre bewunderte.

Nur noch übertroffen von dem Schmerz, den man fühlt, wenn die Idole final abreisen. Ich empfinde es als geradezu unerträglich, wenn derartig viel Wissen in einem Kopf, wie es bei Bahr, Schmidt, Jens oder Dönhoff der Fall war, für immer verloren gegangen ist.

Diese Menschen fehlen mir immer noch jeden Tag. Ich kenne etwas ähnliches auch aus dem privaten Umfeld. Es gab sogar in meiner Familie, in der längst abgereisten Vorgängergeneration, zwei hochintelligente Personen, deren Abwesenheit ich immer noch kam ertragen kann, weil ich den Zustand, sie nichts mehr fragen zu können, nicht aushalte.

In der publizistischen Szene gibt es, im Gegensatz zu meiner Familie, kontinuierlich Nachwuchs. Mitglieder der schreibenden Zunft, die zwar nicht über genau das enzyklopädische Wissen eines Walter Jens verfügen, nicht den Witz eines Reich-Ranicki haben oder mit globalpolitischen Analysen wie Bahr brillieren.

Die ganz anders sind, denen gegenüber ich aber auch in die Fanboy-Rolle geschlüpft bin und alles lese, das sie schreiben, jede Fernsehsendung angucke, in der sie auftreten.

Wenn ich überlege, wenn ich aus der jüngeren Generation so Reemtsmaesk genial finde, daß ich seine Artikel immer als erstes lesen würde, fällt mir etwas Überraschendes auf: Es sind alles Frauen!

·        Die Spiegel-Autorin Anja Rützel, 51, mag in dieser Aufzählung überraschen, weil ihre Themen (Hunde, Trash-TV, britisches Königshaus und TakeThat) mich alle nicht interessieren, aber sie kann so brillant schreiben, so geistreiche Neologismen erfinden, daß es mir immer ein Riesenvergnügen ist, ihre Texte zu lesen, egal worum es geht.

·        Die Schriftstellerin Karen Duve, 62, Tochter des brillanten Freimut Duve, legte 2014 mit „Warum die Sache schiefgeht“ einen Essay vor, für den ich ihr ewig dankbar sein werde.

·        Spiegel-Kolumnistin, Germanistin, Kommunikationswissenschaftlerin Samira El Ouassil, 39, brilliert mit jedem Text.

·        Sachbuchautorin, Wirtschafts- und Finanzexpertin, sowie taz-Autorin Ulrike Herrmann, 60, ist ein Gewinn in jeder Talkshow. Ich empfehle dingend, alle ihre Artikel und Bücher zu lesen. Eine Dame, die sich kontinuierlich politisch weiterentwickelt, seit sie vor 40 Jahre bei der CDU (sic!)* anfing.

·        Die wortmächtige schottische Schriftstellerin und Brexit-Gegnerin A.L. Kennedy, 58,  berichtet regelmäßig für die Süddeutsche Zeitung aus ihrer Heimat. Sie erinnert mich immer wieder, trotz der abstoßenden Figuren Johnson, Truss oder Sunak daran, wieso ich die Briten liebe.

·        Die Hamburger Philosophin Carolin Emcke, 56, Trägerin des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2016, halte ich für eine der intelligentesten Denkerinnen der Gegenwart. Es gibt keine Kolumne von ihr, die ich nicht aufheben möchte und fleißig weiterempfehle.

·        Die deutsch-amerikanische Politologin und Analystin Cathryn Clüver Ashbrook, 48, ist unter anderem Expertin für transatlantische Außen- und Handelspolitik und als solche ein großer Erkenntnisgewinn für jede politische Diskussion.

·        Die Münchnerin Anja Reschke, 51, seit 23 Jahren Panorama-Moderatorin, seit 2015 Leiterin der NDR-Abteilung Innenpolitik, brilliert mit ihrem Tagesthemen-Kommentaren und insbesondere dem Reschke-Fernsehen, das schon im Titel eine Anspielung auf ihren Status als Hassfigur bei den Nazis macht.

Während großartige Frauen in der politischen und publizistischen Szene zu Dönhoffs und Hamm-Brüchers Zeiten Exoten waren, fiel mir bis heute gar nicht auf, daß die große Mehrheit meiner Polit/Schreiber-Lieblinge heute Frauen sind.

Immerhin ein Fortschritt.

*[….] Ich glaube, ich war damals 20, als ich in die CDU

eingetreten bin. Mit 25 bin ich wieder ausgetreten. Der Hintergrund war,

dass ein Freund von mir, mit dem ich bis heute befreundet bin, bereits in

der CDU gewesen ist und eine wirklich gute Umweltpolitik gemacht hat.

Das spielte sich damals alles noch in Hamburg ab. Aber als ich die CDU

in Hamburg näher kennengelernt habe, blieb natürlich die Erkenntnis

nicht aus, dass eben ein Mensch noch keine Partei ausmacht. Also bin

ich wieder ausgetreten und viel später bei den Grünen eingetreten. Aber

es ist natürlich so, dass ich auch bei den Grünen nicht immer mit allem

einverstanden bin. Inzwischen habe ich eben gelernt, dass es die

Wunschpartei schlechthin nicht gibt.  […..]

(Ulrike Herrmann, 27.10.2016)



Sonntag, 7. Mai 2023

Die unspaßige Spaßpartei

Keine Steuern für Superreiche – so lautet das gemeinsame Motto von FDP und Springer. Bundesfinanzminister Lindner und BILD-Chef Döpfner, 2016 bis 2022 Präsident des Bundesverbands Digitalpublisher und Zeitungsverleger (BDZV), waren sich daher einig, daß Matthias Döpfner keinen Cent Steuern zahlen musste, als er eine Milliarde geschenkt bekam. Steuerzahlen ist nur etwas für Geringverdiener.

Porschefahrer und Rolex-Träger stehen hingegen unter dem besonderen  Schutz der Hepatitigelben.

Sich eine private Lobbytruppe in der Bundesregierung zu halten, zahlt sich für den Springer-Haupteigner Döpfner also vielfach aus. Und so zeigt er sich der destruktiven Liste Lindner gegenüber stets erkenntlich. Beide Lindner-Ehefrauen haben Top-Jobs im Springer-Konzern; BILD und WELT werden dafür exklusiv mit Regierungsinterna versorgt.

Im Gegenzug befiehlt Döpfner seinem Konzern massive FDP-Wahlwerbung, um deren Regierungsposten zu sichern.

[…..] "Unsere letzte Hoffnung ist die FDP. Nur wenn die sehr stark wird - und das kann sein - wird das grün rote Desaster vermieden." Diese Nachricht schickte der Chef des Springer-Konzerns Mathias Döpfner nach Recherchen der "Zeit" kurz vor der Wahl an die Chefredaktion der "Bild"-Zeitung, am 7. August 2021.

Auffällig positiv berichtet beispielsweise die "Bild" Zeitung am 22. September 2021 auf Mathias Döpfners Textnachrichten über die FDP.

Kurz darauf legt er nach: "Kann man noch mehr für die FPD machen? Die sollten 16 Prozent mindestens kriegen." […..] Auffällig ist, dass nach diesen Textnachrichten und im Vorfeld der Bundestagswahl überwiegend positive Berichte über die FDP in der "Bild" erschienen. Und Schlagzeilen wie: "Alle Parteien brauchen die FDP: Wird Lindner zum Kanzlermacher?" oder "FDP will bundesweite Steuer-Stasi stoppen". […..] Doch in den Textnachrichten Döpfners finden sich auch weitere Angaben zur politischen Richtung, die er sich offenbar von seinen leitenden Angestellten wünschte: "Free west, fuck the intolerant muslims und all das andere Gesochs" sei die Haltung, schrieb er 2017 der neu eingesetzten Chefredaktion. Zum Thema Klimawandel schrieb er: "Ich bin für den Klimawandel". In der "Bild" finden sich in den folgenden Jahren massenhaft und fast ausschließlich negativ gefärbte Berichte über Muslime. Ebenso sind die Beiträge zum Thema Klimaschutz auffallend kritisch und stellen besonders die Nachteile und Kosten von Klimaschutz in den Vordergrund. […..] Döpfner wird vermutlich auch weiterhin an der Spitze des Springer-Konzerns stehen, denn er ist der Chef, wer sollte ihn entlassen?  [….]

(Panorama, 04.05.2023)

Mit einer vom Trump-Fan gelenkten FDP ist Deutschland natürlich nicht zukunftsfähig.

Donnerstag, 9. März 2023

Die gelbe Partei soll mal ganz still sein

Öffentlich-rechtliches Fernsehen ist gut und richtig.

Einen Rundfunkbeitrag von jedem zu kassieren, der hier TV guckt, dementsprechend auch.

Natürlich sollten keinesfalls 250 Millionen für irgendwelche idiotischen Fußball-Rechte ausgegeben werden. Das ist offenkundig Kommerzfernsehen und kann ebenso gut von Privatsendern geleistet werden.

ARD, ZDF, Deutschlandfunk und Co sollten sich auch nicht an Großproduktionen wie „Der Schwarm“ versuchen. Das KnowHow gibt es nun einmal nicht in Deutschland. Sowas wird immer peinlich.

Die Gelder des Rundfunkbeitrages sollen für Nachrichten, Dokumentationen, für das große Auslandskorrespondentennetz, Recherche, Langzeitreportagen, investigative Formate ausgegeben werden. All das, was zur Volksaufklärung beiträgt und sich eben nicht für Kommerzsender lohnt.

Sowas kann Deutschland sogar ziemlich gut. Gerade gestern war ich für die ausgezeichnete neue Infotainment-Reihe „Reschke Fernsehen“. Durch Monitor, Panorama, MaiThinkX, Extra3 und bei vielen anderen Sendungen mehr, lernt man dazu.

Heute möchte ich auf die „ARD Story: Die China-Falle: wie erpressbar sind wir?“ hinweisen.

Marie-Agnes Strack-Zimmermann und Friedrich Merz kommen ausführlich zu Wort, warnen vor den Abhängigkeiten. Und, wenig überraschend, wird Olaf Scholz auf seiner letzten China-Reise neben Präsident Xi gezeigt. Er habe die Probleme zwar angesprochen, aber einige erwarten vom deutschen Kanzler wohl eher einen Boxkampf; hätten sich offenbar gewünscht, Xi wäre von ihm niedergeschlagen worden.  Der Film zeigt aber auch sehr anschaulich, daß eine ökonomische Abkopplung von China, anders als im Fall Russland, bereits jetzt unmöglich ist.  Selbst die Sanktionen gegenüber des vergleichsweise winzigen Handelsvolumens mit Russland, stürzt Deutschland in enorme Schwierigkeiten; erfordert mehr als 200 Doppelwums-Milliarden, um die Energiepreise abzufedern. Und noch immer trauen wir uns nicht Russland ganz und gar zu boykottieren. Europa bezieht weiterhin Putins Gas und die vielen neuen deutschen Atomkraftfreunde in FDP, AfD, CDU, CSU und bei den Grünen, vergessen gern zu erwähnen, daß wir russisches Uran bisher nicht sanktionieren, weil wir bei Brennstäben noch abhängiger von Putin sind, als beim Erdgas.

Russlands Wirtschaft wuchs 2022, die Deutsche schrumpft.

Unsere massivste Abhängigkeit von China besteht unter anderem bei Medikamenten, seltenen Erden, Photozellen, Wavern und tatsächlich auch Windkraftanlagen-Rotorblättern.

Eine absolut groteske Situation, da Deutschland in den Bereichen Solar- und Windstrom mal Weltmarktführer war, dann aber unter einer gewissen CDU/CSU/FDP-Regierung 2009-2013 befand, den Kram müsse man nicht mehr fördern, das Knowhow nach China verkaufte und stattdessen auf Putins Gas umsteuerte.

[….] Bundeskanzlerin Angela Merkel hat eine weitere Kürzung der Solarförderung angedeutet. Während die Windenergie auf dem Weg sei, fast rentabel Strom erzeugen zu können, sei dies bei der Sonnenenergie nicht der Fall, sagte Merkel auf einer CDU-Regionalkonferenz in Magdeburg. Die Bundesregierung habe die Solarförderung bereits massiv gekürzt. "Aber ich bin mir nicht sicher, ob wir nicht weiter rangehen müssen."  [….]

(SPON, 05.10.2011)

Von 100.000 Arbeitsplätzen in der deutschen Solarbranche gingen unter schwarzgelber Regierung 70.000 verloren.

[….] Merkel verkürzt das scharfe Schwert

Längst ist Deutschland nicht mehr Vorreiter bei Klimaschutz und Erneuerbaren Energien. Der neue Referentenentwurf für das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG 2016) wird den Ausbau der Erneuerbaren Energien noch mehr verkomplizieren und behindern als seine letzten drei Vorgänger. Eigeninitiative engagierter Bürger wird in Bürokratie erstickt. Wer zum Beispiel künftig ein Windrad bauen will, soll sich in einem aufwendigen Ausschreibungsverfahren mit genehmigungsreifen Unterlagen bewerben müssen und riskiert die Ablehnung. Die Zunahme neuer Anlagen wird damit noch stärker gedeckelt, so der Plan. Wenn er umgesetzt wird, dauert der Ausstieg aus Atom und Kohle noch 200 Jahre. Damit sabotiert das Wirtschaftsministerium die Versprechen, die Deutschland auf der Klimakonferenz in Paris gemacht hat: Die rasche Dekarbonisierung der Wirtschaft.

Wie schnell der Zubau neuer Anlagen bei betreiberfreundlichen Rahmenbedingungen wachsen könnte, haben die Jahre 2008 bis 2010 bei der Solarenergie gezeigt: Damals ging die jährlich zusätzlich installierte Leistung um 1,9 GW, dann um 3,9 GW und schließlich 7,4 GW in die Höhe. Als die Bundesregierung dann aber die ursprünglich zugesagten Investitionsanreize radikal senkte, endete der Solarboom und weit über 60.000 Solar-Arbeitsplätze in Deutschland gingen verloren.

Was nötig wäre, damit Deutschland seine Klimaschutzverpflichtungen einhalten kann, wäre eine ernstgemeinte Förderung der Erneuerbaren Energien in jeglicher Hinsicht. Dazu gehört nicht nur der rasche Ausbau neuer Wind- und Photovoltaikanlagen, sondern auch die massive Förderung von Stromspeichern. Die Bundesregierung beklagt zwar deren Fehlen tut aber nichts für ihren Aufbau.

Darüber hinaus müssten neu hinzukommende Solar- und Windanlagen durch Einbau speichergestützter Zusatzeinrichtungen dazu befähigt werden, einen Beitrag zur Spannungs- und Frequenzstabilisierung zu leisten, [….]. Technisch ist das kein Problem - doch es fehlt der politische Wille.  Die Bundesregierung schürt Ängste, die Energiewende könnte zu teuer werden.   [….]

(Solarenergieförderverein)

Strack-Zimmermann und Merz sollten also beschämt ein Loch graben, in dem sie sich verstecken, statt große Töne zu spucken.

[….] In Albringhausen bei Bremen entsteht gerade ein neuer Windpark - mit Rotorblättern in fast 250 Metern Höhe. Ein Windrad kann mehr als 5.000 Einfamilienhäuser nachhaltig mit Energie versorgen. [….] "Wir haben natürlich einige Einzelteile, die wir aus China bekommen, gerade Magneten aus Seltenen Erden, die wir im Generator einsetzen", sagt Christoph Madena, Projektleiter beim Energieunternehmen Enercon aus dem ostfriesischen Aurich. Die Rotorblätter würden zwar an mehreren Produktionsstandorten hergestellt, für den Park in Albringhausen habe man sie aber aus China bezogen. [….] Auch am Unternehmenssitz in Aurich, wo die Windkraftanlagen gebaut werden, sei man auf Zulieferungen und Teile aus China angewiesen, erklärt Enercon-Chef Jürgen Zeschky: "Wir brauchen Magnete für unsere Generatoren. So können wir sie sehr viel kleiner bauen und leistungsstärker, mit besserer Effizienz." Die Importe bekomme man komplett aus China. Auf dem Weltmarkt gibt es laut Zeschky praktisch kein anderes Unternehmen, das diese Magneten mit Seltenen Erden als Basismaterial liefern kann. Schweden habe zwar gerade bekannt gegeben, dass es die dafür nötigen Rohstoffe im Land gefunden habe, aber: "Bis so was von der Lagerstätte über Abbau, Raffinerie und dann wirklich Herstellung von Magneten funktioniert - da sind wir alle 10 oder 15 Jahre älter", sagt Zeschky. [….] Das Land hat die Lieferung Seltener Erden nach Japan allerdings auch schon mal aus politischen Gründen gestoppt. Wenn China morgen entscheiden würde, keine Magneten mehr zu liefern, dann hätte zum Beispiel Enercon "ein Riesenproblem". Im Moment würde das Geschäft ohne China einfach nicht funktionieren, meint Firmen-Chef Zeschky.

Zurzeit gehe es darum, so günstig wie möglich zu produzieren - deshalb mache man Geschäfte mit dem Land, das die besten Preise aufruft. Wichtig sei es zudem, dass es auch im Krisenfall verlässliche Lieferanten für die benötigen Teile gebe. [….]

(NDR, 08.03.2023)

Mittwoch, 8. März 2023

Bayern, Bayern, über alles

Das sind natürlich schöne synergetische Effekte, wenn rechte Politiker öffentlich auch ihre eigene Satire darstellen. Dann muss man als oppositioneller Linksgrünversiffter nicht umständlich erklären, wieso man anderer Meinung ist, sondern kann einfach das Original abspielen.

Als Hanseat und Tschentscher-Untertan, erlebe ich von meiner Landesregierung die diametral Bayern entgegen gesetzten Tugenden: Understatement, bescheidenes Auftreten, leise Stimme, eher weniger reden, niemals protzen, gründlich nachdenken.

Statt immer öffentlich auf die Pauke zu hauen, denken wir an die Zukunft. Daher gibt es in Norddeutschland auch eine von Russland unabhängige nachhaltige Energieversorgung, während die CSU für Bayern mit ihrer populistischen Verweigerung des Leitungsausbaus und der Blockade von Windkraft ein absolutes Desaster angerichtet hat.

[….]  Im Norden Deutschlands erzeugen Windräder mehr als genug Energie. Im Süden könnte man die gut gebrauchen. Nur kommt sie dort gar nicht erst hin. Deshalb müssen teure Gaskraftwerke anspringen. Wie kann das angehen? [….]

(Michael Bauchmüller, 08.03.2023)

Wie der verantwortliche Markus Söder mit dem peinlichen Befund umgeht ist klar: Rumbrüllen, sich wie ein Großgorilla auf die Brust trommeln und lügen.

Auch viele Bayern schämen sich für ihre CSU-Regierung und man bemitleidet sie ehrlich dafür. Andererseits finden genügend bayerische Wahlberechtigte dieses kraftprotzende Auftreten doch so attraktiv, daß sie seit 2.000 Jahren ununterbrochen einen CSU-Mann zum Regierungschef wählen.

Die großartige Anja Reschke, 1972 in München geboren, Studium an der Ludwig-Maximilians-Universität München, fünf Jahre Reporterin beim Radiosender Antenne Bayern, kennt sich aus mit ihrem Bundesland und ihrer CSU-Regierung.

Die ersten fünf Folgen ihres neues Formates „Reschke-Fernsehen“, sind allesamt Meisterwerke, die ich dringend empfehle.

Sie startete mit Bayern.

Da dieses Jahr, am 08.Oktober in Bayern gewählt wird, drehen Söder und seine CSU im vollen George-Santos-Modus ihre Lautstärke derartig auf, daß die fürsorgliche Süddeutsche Zeitung in ihrem Feuilleton eine Gebrauchsanweisung für alle Nicht-Bayern und Nicht-CSU-Wähler druckt. Anderenfalls könnte man von den frei drehenden Bajuwaren in den Wahnsinn getrieben werden.

[….] Im Wahljahr laufen Markus Söder und seine CSU schon wieder heiß. Gebrauchsanweisung zur Wahrung der geistigen Gesundheit. [….]

(Roman Deininger, 05.03.2023)

Söders liebster Wahlkampfschlager ist natürlich der Länderfinanzausgleich, in den seine Bayern kräftig einzahlen.

[….] So langsam hatte man sich schon gefragt, wann Markus Söder den alten Gassenhauer endlich in den Kassettenrekorder schieben würde. Am Wochenende lieferte er die Antwort: Genau sieben Monate vor der bayerischen Landtagswahl spielt Radio Söder wieder den Hit "Bayern klagt gegen den Länderfinanzausgleich", den die CSU in den vergangenen 25 Jahren vor wichtigen Urnengängen schon häufiger aus dem Archiv geholt hatte.  […]

(Claus Hulverscheidt, 06.03.2023)

Daß das arme Bayern von 1950 bis 1987 ununterbrochen Nehmer-Land des Finanzausgleichs war, wird von der CSU natürlich ebenso wenig erwähnt, wie die Tatsache, daß das System nicht etwa irgendeine Marotte der gegenwärtigen Bundesregierung ist, sondern grundgesetzlich vorgeschrieben ist. Allerdings kann man die Modalitäten der Berechnung verhandeln und möglicherweise moderate Änderungen erreichen.

Das Problem: Die anderen Geberländer ziehen nicht mit.

[….] Noch deutlicher wurde Hamburgs Finanzsenator Andreas Dressel (SPD). "Wir bleiben bei der Solidarität unter den Ländern und stehen - trotz des mit über 800 Millionen Euro höchsten jemals geleisteten Beitrags - weiter zum Länderfinanzausgleich", betonte er. "Die Solidarität untereinander ist zu wichtig, um sie im Wahlkampf im bayerischen Bierzelt zu opfern.  […]

(Claus Hulverscheidt, 06.03.2023)

Söder steht also allein da, pöbelt aber ungerührt weiter. Hit ist Hit. Es fragt sich nur, wer eigentlich der Idiot war, der die gegenwärtige Berechnungsgrundlage ausgehandelt hat, die Söder so sehr verdammt:  "Es ist einfach nur noch unfair und ungerecht." Das war damals ein gewisser bayerischer Finanzminister namens Markus Söder!

[….]  Zuletzt hatten Bayern und Hessen 2013 geklagt, die Beschwerde nach einer Neuordnung der föderalen Finanzbeziehungen 2017 aber zurückgezogen. Der damalige bayerische Finanzminister Söder feierte sich seinerzeit als Gewinner der Reform, mit seiner neuen Klage zieht er also jetzt gewissermaßen auch gegen sich selbst vor Gericht.  […]

(Claus Hulverscheidt, 06.03.2023)

An einer weiteren Front droht ebenfalls Ärger; nämlich dem grotesk aufgeblähten Bundestag, der mit 736 Parlamentariern mehr Abgeordnete zählt, als das gesamte EU-Parlament (705). Hauptgrund ist die enorme wahlrechtliche Bevorzugung der CSU, die im Bund und in den bisherigen Bundesregierungen drastisch überrepräsentiert war. Wir alle leiden bis heute unter Seehofer, Dobrindt, Scheuer und Co. Eine Wahlrechtsreform ist lange überfällig, wurde aber in den 16 Jahren der Merkel-Regierung stets verschleppt. Der Grund war wenig überraschend: Die CSU!

In der Ampel sitzen aber keine CSU-Minister. Daher wird es womöglich endlich eine Verkleinerung des Bundestages geben. Die CSU fürchtet um ihre Pfründe und schreit derartig schrill auf, daß es sogar Merz peinlich ist.

[….] Dass Söder ausgerechnet vor der für die CDU wichtigen Berliner Abgeordnetenhauswahl einen Frontalangriff auf den Länderfinanzausgleich gestartet hat, von dem Berlin enorm profitiert, hat in der CDU für erheblichen Unmut gesorgt. "Vor bayerischen Landtagswahlen kennt die CSU keine Freunde mehr", schimpft einer aus der CDU-Spitze. Der Vorstoß beim Länderfinanzausgleich dürfte deshalb "nur der erste von vielen Querschlägern aus München" gewesen sein.  Es gibt aber noch ein anderes wichtiges Thema, das die Schwesterparteien gerade entzweit - das Wahlrecht. Seit mehr als zehn Jahren wird über eine wirksame Verkleinerung des Bundestags diskutiert, in der kommenden Woche soll es nun so weit sein: Dann will die Ampelkoalition ihren Gesetzentwurf im Bundestag beschließen. Statt derzeit 736 Abgeordneten soll es künftig nur noch 598 geben. Doch die CSU behauptet, dass die Ampel mit ihrem Gesetzentwurf "die Axt an die Grundlagen der Demokratie legen" würde. CSU-Generalsekretär Martin Huber warf der Ampel sogar eine "organisierte Wahlfälschung" vor, die ihn an "Schurkenstaaten" erinnere. In der CDU ist man über diese Tonlage entsetzt.

Der Aufwuchs des Bundestags liegt an den Überhang- und Ausgleichsmandaten. SPD, Grüne und FDP wollen sie deshalb abschaffen. Dadurch ändern sich die Mehrheitsverhältnisse im Bundestag nicht. Es kann aber passieren, dass in Einzelfällen jemand, der im Wahlkreis die meisten Stimmen erhält, kein Mandat im Bundestag bekommt. Das verurteilt man nicht nur in der CSU, sondern auch in der CDU. Doch in der CDU weiß man auch, wer schuld daran ist, dass die Ampel das Wahlrecht jetzt in dieser Weise ändern kann.

Norbert Lammert und Wolfgang Schäuble (beide CDU) hatten in ihrer Zeit als Bundestagspräsidenten die Union gewarnt: Wenn ihr nicht selbst eine Wahlrechtsreform beschließt, werden das irgendwann andere tun. In der vergangenen Legislaturperiode war auch der damalige Unionsfraktionschef Ralph Brinkhaus zu einer fraktionsübergreifenden Verständigung bereit. Doch die CSU beharrte immer eisenhart auf ihren Interessen und blockierte damit eine wirksame Reform. [….]

(Robert Roßmann, 06.03.2023)

Mittwoch, 28. Dezember 2022

Abschied von einer Hamburger Institution  

Jeder, der als Kind in Hamburg lebte, verbindet viele Erinnerungen mit Hagenbecks Tierpark. Über 1.850 Tiere leben in den Gehegen und der Parkanlage. Dazu kommt das 8.000 Quadratmeter große Tropen-Aquarium mit weiteren 14.300 Tieren. Hagenbeck ist der einzige in Familienhand befindliche Tierpark Deutschlands.

Erst liebte ich die Tiere, wollte da immer hingehen. Als Teenager begriff ich aber, wie grausam das Delphinarium ist, was Hospitalismus ist, daß man Schimpansen und Gorillas nicht in winzige Glaskästen stecken darf, was artgerechnete Haltung und „Enrichment“ sind, daß es kein Vergnügen für Elefanten und Kamele ist, von lärmenden Besuchern „geritten“ zu werden.

Ein Vierteljahrhundert boykottierte ich den berühmtesten Zoo Deutschlands.

Immerhin lernten die Hagenbecker aber auch dazu. Die Schandflecken, wie das Affenhaus und Delphinarium, wurden ganz aufgeben. Leoparden wurden aus ihren kleinen Käfigen geholt. Es gab weniger Tierarten, dafür mehr Individuen, die in viel größeren Gehegen lebten. Elefantenreiten wurde abgeschafft und zum Unmut der Besucher wurde das Füttern bis auf wenige Ausnahmen verboten. Den Tieren ist nicht geholfen, wenn sie Zentnerweise Süßigkeiten fressen.

In dem neuen Tropenhaus und dem Eismeer, leben die Tiere sicherlich nicht, wie in freier Wildbahn, aber sie haben viel mehr Platz, die Gegebenheiten sind viel besser ihrem natürlichen Lebensraum angepasst. Sie werden nicht mehr bloß verwahrt und gefüttert, sondern auch einigermaßen artgerecht unterhalten.

Grundsätzlich sind Zoos moralisch sehr problematisch. Ob Publikumsmagneten wie Eisbären, Löwen und Elefanten überhaupt artgerecht gehalten werden können, bezweifele ich. Besser geeignet sind sicherlich die gerade bei Kindern beliebten kleineren Tiere – Meerschweinchen, Karnickel, Capybaras (Wasserschweine), Maras (Pampashasen), Ziegen, Pfauen, Schwäne – die auf dem riesigen Gelände weitgehend frei herumlaufen können und machen, wozu sie Lust haben. Dabei ist besonders wichtig, daß sich die Viecher zwar unter die Besucher mischen können, es aber auch geschützte, abgetrennte menschenfreie Bereiche gibt, in die sie sich zurückziehen können.

Das Gegenargument, daß dennoch für Tiger- oder Nashornhaltung spricht, sind die Arterhaltungsprogramme. Es gibt in freier Wildbahn ausgestorbene Tiere, die (fast) nur noch in Zoos vorkommen. Die Zoos sind international vernetzt, erfassen die Genome der einzelnen Individuen. Jeder Großzoo ist auf ein paar Tierarten spezialisiert, die sich bei ihm mit möglichst wenig Inzucht fortpflanzen sollen, indem ihnen andere Tierparks genetisch möglichst nicht verwandte Exemplare schicken.

Aber auch das ist ein etwas schales Argument. Nutzen die aufwändigen Transporte und die Kosten überhaupt etwas, wenn dann ein paar Dutzend Tiere einer Art überleben, die ohnehin keinen Lebensraum mehr haben und nie wieder frei und wild leben können werden?

Sollten wir nicht lieber alle Ressourcen dafür verwenden, Lebensraum zu erhalten, indem zum Beispiel Schutzgebiete aufgekauft werden?

Aber auch das funktioniert nicht bei jeder Art. Vielen Tieren macht der Klimawandel zu schaffen. Eisbären verhungern, wenn es zu warm ist, so daß das Meer nicht zufriert. Das wird man schlecht mit Geld beeinflussen.

Meine Verbindung zu Hagenbeck wuchs wieder mit der NDR-Zoo-Serie Leopard, Seebär und Co, von der zwischen 2007 und 2018 volle 200 Episoden produziert wurden.

Die Serie spielte eine große Rolle bei der Bespaßung von Alten und Dementen, die sich tagsüber langweilen, sich aber nicht mehr auf ein Buch oder TV-Geschichten mit Handlungssträngen konzentrieren können. Für sie sind Zoo-Serien ideal. Mit der Zeit bildet man sich ein, die Pfleger zu kennen, begreift die Abläufe hinter den Kulissen.

Umso trauriger also, daß die bis aufs Blut zerstrittenen zwei Hauptzweige der Eigner-Familie Hagenbeck, als letzte Gemeinsamkeit den „Diktator“ Dirk Albrecht, 73, also Zoo-Chef einsetzten.

Der Mann ist ein derartiger Tyrann, daß er einen Gerichtsprozess nach dem nächsten gegen die Angestellten führt, sie mit Schikanen überhäuft, willkürlich entlässt. Selbst die Hamburger Landesregierung mischte sich ein, nennt Albrecht „starrsinnig.“

[….] Hamburg. Die Schlammschlacht im Tierpark Hagenbeck wird erneut zum Fall für die Justiz: Wie die Hamburger Staatsanwaltschaft am Mittwoch bestätigte, hat der Betriebsrat eine weitere Strafanzeige gegen den Tierpark-Geschäftsführer Dirk Albrecht erstattet.

Der Vorwurf lautet auf Behinderung der Arbeitnehmervertreter, was nach Paragraf 119 des sogenannten Betriebsverfassungsgesetzes mit einer Geldstrafe oder einer Freiheitsstrafe von bis zu einem Jahr bestraft werden kann.   [….]

(Abendblatt, 18.05.2022)

Ein Drittel der Tierpfleger hat bereits aus Verzweiflung gekündigt. Das ist äußert ungewöhnlich. Tierpfleger verdienen zwar eher schlecht, bleiben aber üblicherweise lebenslang bei Hagenbeck, weil sie sich den Tieren verpflichtet fühlen.

Es ist wie in einem Pflegeheim. Man muss sich immer um sie kümmern, egal ob Silvester oder Sonntag ist. Tierpfleger streiken deswegen nicht. Der Sadist Albrecht ließ ihnen aber keine Wahl, da eine Zusammenarbeit mit ihm unmöglich ist und so kam es im August 2022 erstmal zu Warnstreiks.

[….] "Die Geschäftsführung führt einen regelrechten Kampf gegen die eigenen Beschäftigten und wendet dabei Strategien des "Union Busting" an, um den Betriebsrat einzuschüchtern", sagte der gewerkschaftspolitische Sprecher der Linksfraktion, David Stoop, am Mittwoch. Unter "Union Busting" verstehen Gewerkschaften die systematische Bekämpfung ihrer Arbeit. Der Tierpark Hagenbeck wollte sich zu den Vorwürfen nicht äußern. Der Streit bei Hagenbeck beschäftigt auch die Justiz. Auf eine Anfrage der Linken teilte der Senat mit, dass in den vergangenen zwei Jahren 33 Verfahren gegen die Geschäftsführung eingeleitet wurden. In drei Fällen ermittele die Staatsanwaltschaft wegen der Vorwürfe der Behinderung des Betriebsrats und wegen Betrugs im Zusammenhang mit Kurzarbeitergeld. "Die Vielzahl an Gerichtsverfahren zeigt, dass etwas gehörig schiefzulaufen scheint bei Hagenbeck", sagte Stoop. Im August dieses Jahres hatten Beschäftigte für bessere Arbeitsbedingungen bei Hagenbeck gestreikt. Bislang weigere sich der Geschäftsführer Dirk Albrecht jedoch, sich mit der Gewerkschaft an einen Tisch zu setzen, kritisierte IG-Bau-Regionalleiter André Grundmann.  […]

(dpa, 09.11.2022)

Nur die Hagenbeck-Familie könnte Dirk Albrecht rauswerfen.

Aber sie lassen lieber den ganzen Tierpark zu Grunde gehen und verzichten auf die halbe Belegschaft.

Damit wären wir beim zweiten großen Hagenbeck-Problem: Die Hagenbecks sind Arschlöcher. Sie behandeln ihre Mitarbeiter wie Dreck und wollen sich auch 2022 noch nicht von ihrem Gründer-Großvater Carl-Hagenbeck distanzieren, der mit seinen europaweiten Menschenzoos berühmt und sagenhaft reich wurde.

Die Zeiten des alten Carl Hagenbeck, der kontinuierlich neue Wildtiere und Menschen in Afrika einfangen ließ, um sie in seinem Hamburger Zoo vorzuführen, sind vorbei.

Es ist keine Hundert Jahre her, daß man hier bei mir vor der Tür in Hamburg entrechtete Menschen in Käfige sperrte und anglotze.

Gerne wurden „Schau-Neger“ auf Jahrmärkten gezeigt. Carl Hagenbeck ließ für seinen Zoo in Hamburg allerlei „wilde Afrikaner“ einfangen und zeigte sie den höchst interessierten Hanseaten in seiner „Völkerschau“.
Den christlichen Besuchern kam es gar nicht in den Sinn, daß es irgendwie unmoralisch sein könnte, neben Löwen und Antilopen auch Hottentotten und Zulus in Käfigen zu zeigen.
Die Körperlichkeit der vielen afrikanischen Völkerschauen in Deutschland faszinierte insbesondere die Frauen in Deutschland - hatten sie doch in der Regel noch nie nackte Männer gesehen.


Blütezeit der Völkerschauen in Europa war zwischen 1870 und 1940. Allein in Deutschland wurden in dieser Zeit über 300 außereuropäische Menschengruppen vorgeführt. Teilweise lebten in diesen „anthropologisch-zoologischen Ausstellungen“ gleichzeitig über 100 Menschen.

(Wiki)


Tatsächlich konnten die in Hamburg gefangenen Afrikaner noch von Glück reden. Es war nämlich durchaus auch üblich „Neger“ aus praktischen Erwägungen auszustopfen oder des einfacheren Transports halber nur ihre Köpfe auszustellen.
Noch heute lagern in den Kellern der Berliner Charité kistenweise getrocknete Köpfe von Menschen aus allen Gegenden Afrikas.

(Tammox 15.02.2011)

Auch heute weigert sich Claus Hagenbeck das Unrecht anzuerkennen.

[….] Doch Hagenbeck schweigt sich dazu konsequent aus, dabei hatte man vor zwei Jahren nach Protesten selbst eine kritische Aufarbeitung angekündigt. Wiederholt hat Panorama bei Hagenbeck angefragt. Es gibt kein Interview zum Thema, keine Antworten auf viele Fragen. Der Tierpark verweist immer wieder auf das gleiche schriftliche Statement. Darin heißt es: Die Menschen "arbeiteten als Darsteller mit Verträgen und Gage für Hagenbeck". Carl Hagenbeck habe die Teilnehmer der Völkerschauen "als Gäste" gesehen und nie misshandelt. Dessen Urenkel und heutiges Familienoberhaupt Claus Hagenbeck lehnt ein Interview ebenfalls ab. Dabei hat er sich in der Vergangenheit durchaus zu dem Thema geäußert, sieht sie offenbar aber nicht kritisch. In einer Dokumentation aus dem Jahr 2020 sagt Hagenbeck: "Völkerschauen waren ja eine Kunstform. Es wurden ja nicht Sklaven hier nach Europa geholt, sondern es waren Gaukler, die in ihrem Heimatland gegaukelt haben."  In einem früheren TV-Statement aus dem Jahr 2003 räumte er indirekt eine Inszenierung der ausgestellten Menschen als Wilde ein. Offenbar amüsiert berichtete er: "Was die Veranstalter nicht gerne sahen, war, dass die Eingeborenen in Anführungsstrichen, die sich ja hier präsentierten als wilde Menschen, dass die sich abends Schlips und Kragen umbanden und nach St. Pauli zum Tanzen gingen. Das war nicht gerne gesehen, weil dann ja der Nimbus der Wilden, Fremden etwas aufgelöst wurde." [….]

(Panorama 24.11.2022)

Es hilft alles nichts. Ich muss Hagenbeck wieder boykottieren.