Mittwoch, 29. April 2015

Der Minusmann – Teil VI



Immer wieder das gleiche in der Toppolitik: Amtsträger stolpern nicht über die Affäre an sich, sondern weil sie so stümperhaft damit umgehen.
Der Urnenpöbel ist doch so bereit alles zu verzeihen. Die größten Lügner sind kontinuierlich in den Top-5 der Politiker-Beliebtheitsrankings.
Als Minister kann man sich allerlei erlauben.
Mit einem frühzeitigen Schritt an die Presse, einer ehrlichen Offenlegung der Faktenlage, der klaren Benennung dessen, womit man sich schuldig gemacht hat und einem mea culpa ist alles erledigt.

Aber der „mir-kann-keiner-was“-Glauben ist doch enorm verbreitet an der Spitze.
Möglicherweise ist das eine normale psychische Konsequenz des beruflichen Erfolgs. Wer es über Dutzende Hierarchiestufen bis zum Bundesminister gebracht hat, mußte zwangsläufig so viele Konkurrenten hinter sich lassen, daß man sich womöglich daran gewöhnt mit allem durchzukommen.
Seltsam, denn andererseits ist es manchmal so offensichtlich, daß Amtsinhaber ihrer Position nicht gewachsen sind, daß noch nicht einmal die glühendsten Parteianhänger das anders sehen können.
Kristina Schröder? Dirk Niebel? Franz Josef Jung? Ilse Aigner? Alexander Dobrindt? Hans Peter Friedrich? Fipsi Rösler? Ronald Pofalla?
Es tut mir Leid, aber ich kann nicht glauben, daß IRGENDJEMAND diese Kabinettspfeifen für geeignete Minister gehalten hat.

Anyway, ich schwiff ab.
Der Minusmann Thomas de Maizière liefert das Paradebeispiel, wie man es nicht macht.
Gut möglich, daß er im nächsten „Politaffären für Dummies“ mehrfach als Negativbeispiel zitiert wird.

G36, Kundus-Drama, Mare-Nostrum-Desaster – immer wenn es richtig schief geht, taucht de Maizière ab, schweigt, redet sich raus, gibt nur das zu, was ohnehin schon öffentlich ist oder aber wälzt die Verantwortung auf Untergebene ab.
Niemals käme ihm in den Sinn zuzugeben selbst gefehlt zu haben.

Die BND-Affäre, für die er als Geheimdienstkoordinator in seiner Funktion als Kanzleramtsminister (2005-2009), sowie als Innenminister mitzuständig war, weitet sich von einer mittelgroßen Angelegenheit inzwischen aber zu einem staatsübergreifenden Großskandal aus.
Vorgestern war noch Stand der Dinge, daß der BND der amerikanischen NSA dabei geholfen hätte Wirtschaftsspionage bei deutschen Firmen zu betreiben. Dies wurde 2008 dem Kanzleramt gemeldet und de Maizière vertuschte es.

Dank der Recherchemacht des SZ-WDR-NDR-Verbundes unter der Leitung des Ex-SPIEGEL-Chefredakteurs Georg Mascolo sind inzwischen einige dramatische Umdrehungen hinzugekommen.

[…] Die Abhöreinrichtung des Bundesnachrichtendienstes (BND) im bayerischen Bad Aibling wurde nach Feststellung von Regierungsexperten jahrelang für Spionage gegen europäische Staaten missbraucht. Nach Informationen von Süddeutscher Zeitung, NDR und WDR zählen zu den Betroffenen hochrangige Beamte des französischen Außenministeriums, des Élysée-Palastes und der EU-Kommission. […] Innenminister Thomas de Maizière, der sich dem Vorwurf der Verschleierung gerade in der Frage der Wirtschaftsspionage ausgesetzt sieht, bot am Mittwoch an, wegen der Geheimhaltungspflichten vor dem Parlamentarischen Kontrollgremium und dem NSA-Untersuchungsausschuss auszusagen. […]
"Der Kern ist die politische Ausspähung unserer europäischen Nachbarn und von EU-Institutionen," sagte eine mit den Vorgängen vertraute Person. […] Alle von den USA seit Beginn der Kooperation angelieferten Suchworte werden nun noch einmal überprüft. Ihre Zahl ist riesig: Allein im Jahr 2013 waren es 690 000 Telefonnummern und 7,8 Millionen IP-Suchbegriffe. In einer sogenannten Ablehnungsdatei landeten 40 000 Suchbegriffe. […]

Abhören unter Freunden geht gar nicht” – hatte die Kanzlerin noch vor einem Jahr empört getan, als der SPIEGEL veröffentlichte, ihr Handy würde von Amerikanern abgehört.

Nun scheint es so zu sein, daß der deutsche Geheimdienst, der in Merkels Kanzleramt geführt wird noch viel mehr Dreck am Stecken hat.

Aus dieser Falle – nichts davon gewußt zu haben, ist genauso ein eklatantes Regierungsversagen wie „gewußt und vertuscht“ – wird auch die Teflonkanzlerin nicht leicht entflutschen können.

Nun müssen wirklich Köpfe rollen; denn eins ist jetzt schon sicher: Die Bundesregierung hat massiv das Parlament belogen.

Hat das Kanzleramt den Bundestag erneut belogen?
"Nachdem sich entgegen allen Beteuerungen der Bundesregierung herausgestellt hat, dass der Drohnenkrieg der USA, bei den es zu zahlreichen gezielten und mindestens zum Teil wohl auch völkerrechtswidrigen Tötungen gekommen ist, maßgeblich über die deutsche Militärbasis in Ramstein gesteuert wurde und womöglich immer noch wird, gibt es binnen weniger Tagen einen weiteren Fall, in dem der dringende Verdacht der bewussten Falschinformation gegenüber dem Parlament besteht. Obwohl gestern verschiedene Medien meldeten, dass das Bundeskanzleramt anders als bisher behauptet, nicht erst im März 2015, sondern bereits im Jahr 2008 durch den BND in einem Sonderbericht über Aktivitäten der NSA im Bereich der Wirtschaftsspionage und gegen europäische Interessen unterrichtet wurde, aber nichts dagegen unternommen habe, herrschte im Koalitionsausschuss heute Nacht lautes Schweigen", moniert André Hahn, Mitglied der Linksfraktion im Parlamentarischen Kontrollgremium, und derzeit auch dessen Vorsitzender. Hahn weiter:
"Wenn die neuesten Medienberichte stimmen und es schon im Jahr 2008 einen oder gar mehrere Berichte des BND über versuchte bzw. auch real erfolgte Wirtschaftsspionage seitens der NSA an die Dienst- und Fachaufsichtsbehörde gegeben hat, dann hätte das Bundeskanzleramt das Parlamentarische Kontrollgremium erneut belogen, denn ihm gegenüber hat Kanzleramtsminister Altmaier erklärt, sein Amt habe erst vor wenigen Tagen von derartigen Bestrebungen erfahren.

Natürlich war Herr Altmaier damals noch nicht im Amt - das war er jetzige Bundesinnenminister De Maizière - aber er trägt neben der Bundeskanzlerin die Hauptverantwortung für sein Haus.

Angela Merkel soll sich erst mal gegenüber der deutschen Bevölkerung erklären. Im Wahlkampf 2013 nach den Snowden-Veröffentlichungen, die ja überhaupt erst auf dieses ganze Problem hingewiesen haben, hat sie so getan, als wüsste man von allem nichts und als wäre man ganz erstaunt, was die NSA alles Böses kann und tut, und man ist massiv empört gewesen und ist ja schon in die USA gereist und hat da über irgendwelche Dinge verhandelt, die bis heute keiner versteht. Tatsächlich wissen wir heute, auch durch die Akten und durch die Arbeit des Untersuchungsausschusses, dass man sehr gut Bescheid wusste und dass der BND sehr eng mit der NSA kooperiert hat in den letzten Jahren und dass man über die Fähigkeiten und diesen massenhaften Datenabgriff, den die NSA organisiert, voll Bescheid wusste. Insofern muss Frau Merkel einfach mal die Wahrheit erzählen.

"Das Bundeskanzleramt muss dem NSA-Untersuchungsausschuss bis zum morgigen Mittwoch zum einen die Liste der 2000 Selektoren vorlegen, die der BND für den NSA eingesetzt hat und die erst nach 2013 durch eine Prüfung des BND zu einem bislang unbekannten Zeitpunkt als gegen deutsche Gesetze verstoßend identifiziert wurden", fordert Martina Renner, Obfrau der LINKEN im NSA-Untersuchungsausschuss. Renner weiter:
"[…] Der Ausschuss hat sich schon im Winter 2014 mit der Frage nach den von der NSA an den BND übergebenen Selektoren beschäftigt. Im November 2014 beispielsweise wurde ein BND-Zeuge namens T.B. gehört, der sowohl Dienststellenleiter der Abhörstation in Bad Aibling als auch später als BND-Sachgruppenleiter explizit für die Datenauswahl zuständig gewesen war. Dieser BND-Sachgruppenleiter hatte dem Untersuchungsausschuss ganz klar erklärt‚ dass Selektoren herausgefiltert würden, die gegen deutsche Interessen verstoßen‘. Der Zeuge war sich sicher, dass die Fehlerquote im Promillebereich liege und hat sogar den Bereich Industriespionage explizit erwähnt. Mit dem Wissen von heute müssen wir den Zeugen nun noch einmal hören.
Das Kanzleramt kann sich im Übrigen jetzt nicht darauf zurückziehen, die Schuld im BND zu suchen. Wenn Geheimdienstkoordinator und Kanzlerin von den Vorgängen nichts gewusst haben, ist das ein Skandal. Wenn sie davon gewusst haben, genauso."

De Maizière ist als Minister nicht mehr haltbar
"Thomas de Maizière hat das Parlament belogen und über Jahre hinweg tatenlos zugesehen, wie deutsche sowie französische Politiker und Unternehmen von US-amerikanischen Geheimdiensten ausspioniert wurden. Damit ist er als Innenminister völlig untragbar. Organisationen wie der BND, die als Handlanger der NSA agieren und die Interessen des eigenen Landes verraten, sind überflüssig und gefährlich. Auch das verfassungswidrige Projekt der Vorratsdatenspeicherung muss umgehend gestoppt werden, wenn wir nicht wollen, dass sämtliche Kommunikationsdaten von ausländischen Geheimdiensten ungehindert abgegriffen werden können", kommentiert Sahra Wagenknecht Medienberichte, nach denen de Maizière den Bundestag mehrfach über seine Kenntnisse der illegalen Spionagepraxis von NSA und BND belogen hat. […]

Nun sind wir als Regierte es lange gewöhnt belogen zu werden und stören und nicht so sehr daran, weil der Urnenpöbel seine Wahlentscheidungen ohnehin unqualifiziert und irrational trifft.
Diesmal wurden aber auch Parlamentsfraktionen und Regierungspartner massiv belogen. Ob die das auch so locker achselzuckend hinnehmen?

[…]  Nun steht der Vorwurf der Lüge im Raum.
Am 14. April teilte das Innenressort von Thomas de Maizière (CDU) auf eine Anfrage der Fraktion der Linken mit: "Es liegen weiterhin keine Erkenntnisse zu angeblicher Wirtschaftsspionage durch die NSA oder anderen US-Diensten in anderen Staaten vor". […].
Spätestens im Jahr 2010 liefen im Kanzleramt BND-Meldungen ein, wonach die USA versucht hatten, die Rüstungskonzerne EADS und Eurocopter auszuspähen. Diese Versuche, so ein geheimes Papier, wurden vom BND im Jahr 2005 entdeckt und "im Anschluss unterbunden". Die Regierung hat die Existenz dieses Papiers bestätigt.
Die Linken werfen der Bundesregierung eine bewusste Falschaussage vor. "Die Antwort vom 14. April ist ganz offenbar gelogen", sagte der Linken-Politiker Jan Korte SPIEGEL ONLINE. Er glaube der Bundesregierung in der Affäre "kein Wort mehr".
[…] Die neue Wendung setzt Thomas de Maizière unter Druck, der ohnehin seit Tagen in der Kritik steht. Dass ausgerechnet der Innenminister, von 2005 bis 2009 als Chef des Bundeskanzleramts für die Kontrolle des BND zuständig, trotz der internen Aufregung um die Affäre eine falsche Antwort ans Parlament schickte, rückt ihn weiter in den Fokus.
[…] Merkels Kanzleramtschef Peter Altmaier ist in Sachen Offenlegung derzeit in Konsultationen mit den Amerikanern. Dass sich Washington kooperativ zeigt, ist sehr unwahrscheinlich, würde doch so alle Welt sehen, für welche westeuropäische Unternehmen oder gar Politiker sich die NSA in Westeuropa interessiert.
Weigert sich Washington, müssen Merkel und Altmaier entscheiden, ob sie die Liste gegen den Widerstand des engsten Verbündeten veröffentlichen. Es wäre ein Affront. […]

Thomas de Maizière ist als Innenminister auch Verfassungsminister, kontrolliert den Verfassungsschutz und garantiert die innere Sicherheit.
Auf so einem sensiblen Posten einen ausgemachten Lügner sitzen zu lassen, ist schon ein starkes Stück.