Samstag, 24. April 2021

Die irreale Welt

Als ich vor einigen Jahren im Wartebereich des UKE-Herzzentrums (UHZ) ausharrte, kam ich mit einer Patientin ins Gespräch, die weit über 90 war, auf mich einen sehr gefassten Eindruck machte, aber sie erklärte mir, das Alter mache wirklich keinen Spaß. Alle ihre Freunde wären tot, dement oder schwer krank. Wo sie hingucke, nichts als Elend, Leiden, ständig müsse man zu Ärzten, 20 Pillen am Tag nehmen und rede auch nur über Krankheiten.

Nun ist Alter nicht gleich Alter.   Es gibt Menschen, die schon mit Mitte 40 Alzheimer bekommen, manche sind mit 70 pflegebedürftig und nicht mehr mobil, andere, wie die Queen, sind mit 95 noch voll einsatzfähig und arbeiten.

Die Dame im UHZ war auch noch völlig klar, aber sie war deprimiert von all den Krankheiten. Früher wäre das nicht so gewesen. Sie könne sich nicht dran erinnern, daß in ihrer Jugend Freunde oder Bekannte so lange und so schwere Krankheiten gehabt hätten. Aber jetzt kenne doch jeder Krebspatienten und habe Angehörige mit Infarkten und Herzklappen-OPs.

Das wirkt in der Tat so. Eine Erklärung ist, daß viele Jugendlichen die Leiden des Alters weniger wahrnehmen.

Der Hauptgrund für die wenigen schweren Alterserkrankungen vor 100 Jahren ist aber, daß die Menschen schon längst gestorben waren, bevor sie krank wurden.    Ohne moderne Medizin, Antibiotika und minimal invasive Operationstechniken starb man eben an einer Lungenentzündung oder einem kleinen Herzinfarkt. Krebsarten wurden gar nicht erst richtig bemerkt bevor es zu spät war.

In der Rückschau wirkten die zum Tode führenden Erkrankungen kurz und wenig dramatisch.

All diese Erkrankungen überlebt man aber heute in Deutschland, erholt sich und kann sich die nächste schwere Malaise einfangen, wird wieder operiert, zur Reha geschickt, medikamentös eingestellt, lebt noch mal drei Jahre und bekommt dann die nächste Krebsart.

Wir feiern uns für die gestiegene Lebenserwartung, betrachten es als Segen und werden von den Kirchen angetrieben unter allen Umständen auch noch die letzte Stunde des Lebens angeschlossen an zwei Dutzend Schläuche, trachetomiert, intubiert an der ECMO rauszuholen. Hier gehen Kirchen, Pharmaindustrie und Krankenhausbetreiber Hand in Hand – denn Intensivmedizin ist unfassbar teuer.

Da klingeln bei den Multimilliardären wie Bernd Broermann, dem Betreiber der Asklepiosklinken richtig die Kassen. Die 86 Helios-Kliniken, 120 Medizinischen Versorgungszentren (MVZ) und zehn Präventionszentren gehören dem Fresenius-Konzern, der über 36 Milliarden Euro umsetzt.

Die christliche Krankenhausverbände DEKV und kkvd betreiben 550 Krankenhäuser mit 138.000 Betten in Deutschland. Da rollt der Rubel richtig durch die Apparatemedizin. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt, daß die Kirchen so vehement Patientenverfügungen, Sterbehilfe und assistierten Suizid bekämpfen.

In dem Wahn immer länger zu leben, gerät die prozentual am meisten zunehmende Bevölkerungsgruppe der über 100-Jährigen immer mehr in den Fokus. Wieso leben einige Menschen so lange? Haben sie bestimmte Gene? Bestimmte Verhaltensweisen? Spezielle Ernährung?

Natürlich kann ein Einfluss der Ernährung festgestellt werden, aber es gibt nicht den einen Altersfaktor wie den französischen Rotwein oder die Meeresfrüchte in Okinawa oder das Olivenöl auf Sardinien. Viele Menschen in diesen speziellen Hotspots mit sehr vielen Hochbetagten passen aber in keine Schablone der Altersforscher.

Der große Irrtum ist es, anzunehmen diese Hochbetagten wären sagenhaft gesund aufgrund einer besonderen Konstitution.     Nein, sie weisen auch alle alterstypischen Erkrankungen auf, sitzen im Rollstuhl, sind blind, haben Schmerzen und fürchterliche persönliche Verluste erlebt.

Das Besondere ist eher, ihre Leidensfähigkeit. Sie können die Krankheiten besser ertragen ohne zu verzweifeln.

Eine Konsequenz der Hightech-Medizin und der ständig steigenden Lebenserwartung, ist die Vervielfachung der Pflegeheime und Demenzeinrichtungen.

So gern Konservative auch auf den Verfall der Familien schimpfen, so klar muss man auch feststellen, daß es Stadien von Demenz gibt, die entweder 24 stündige Überwachung am Tag oder aber freiheitsberaubende Mittel (Gurte, festgebundene Hände, sedierende Medikamente) – also beides Methoden, die man in einem Privathaushalt nicht allein leisten kann.

Ich hatte schon mit vielen solchen Fällen zu tun und sehe nur zwei praktikable Lösungen.   Entweder man bemerkt die Diagnose rechtzeitig und handelt dann so entschlossen wie Gunther Sachs, um die Krankheit gar nicht voll ausbrechen zu lassen.  Oder aber, man ist sehr reich. In dem Fall braucht man keine moldawischen oder ukrainischen Pflegerinnen ausbeuten, sondern kann ein Team von qualifizierten Pflegefachkräften gut bezahlen und in seiner heimischen Villa unterbringen.    Es gibt auch sehr schöne Einrichtungen mit genügend Personal, so daß kein Dementer angebunden werden muss oder in vollen Windeln liegt. Für 10.000 bis 12.000 Euro im Monat bekommt man dort ein Anderthalb-Zimmer Apartment. Für alle weniger Betuchten bleibt nur die Hoffnung rechtzeitig abzureisen.

Trotz meiner Erfahrung mit Dementen, kann ich nicht sagen, wie man sich fühlt, wenn es einen voll erwischt hat.

 Es gibt offensichtlich Unglückliche, es gibt Aggressive und es gibt diejenigen mit ständig wechselnden Stimmungen.

In einer freikirchlichen Einrichtung in Hamburgs Nordwesten erlebte ich einmal einen Herren, der vermutlich Mitte 70 war, sich gern aus seinem Zimmer stahl, wenn er mal musste, sein Geschäft im Fahrstuhl verrichtete und anschließend die verspiegelten Wände mit seinen Exkrementen einrieb.    Abgesehen von dem bedauernswerten Reinigungspersonal, die sich darum kümmern mussten, traf es seine Söhne am härtesten. Es handelte sich um eine Zahnarztdynastie. Ihr Vater hatte die Praxis gegründet und war Zeit seines Lebens ein besonders eleganter Mann, der Nadelstreifenanzüge trug und so viel Würde ausstrahlte. Und nun das! Sie konnten es nicht ertragen ihn so gedemütigt, halbnackt mit seinen Ausscheidungen spielen zu sehen und kamen nur sehr selten zu Besuch.

Ich konnte dem Senior-Dentisten natürlich nicht in den Kopf gucken, aber er wirkte außerordentlich zufrieden, war geradezu begeistert, wenn er wieder einen Fahrstuhl eingerichtet hatte. Er machte einen glücklichen Eindruck hielt sich vielleicht für einen bedeutenden Künstler.   Wer weiß, vielleicht erlebte er die beste Zeit seines Lebens.

Demenz kann auch ein Segen sein – so hört man in Pflegeheimen immer wieder.   Gemeint ist damit, daß Patienten ein plötzliches Gefühl von Unglück, Einsamkeit, Trauer über verstorbene Familienmitglieder im nächsten Moment vergessen haben können und sich wie ein kleines Kind über eine Biene freuen, die am Fenster sitzt.

Wir verstehen die heute Krankheit gut genug, daß wir Demente nicht mehr korrigieren, sondern ihre Welt akzeptieren.   Das macht das Zusammenleben für alle beteiligten leichter.

Ich kann mir gut vorstellen, ebenfalls aggressiv zu werden, wenn mein Umfeld mir ständig erzählt, daß ich gar nicht Napoleon bin, obwohl ich das doch sicher weiß. Es muss doch auch nerven, wenn ich ausgeschimpft werde, weil jemand meine große Vernissage im Louvre nicht schätzt und hartnäckig behauptet, das wäre nur Kacke im Fahrstuhl.

[…..] Es gibt eine Sache, die in der Kommunikation mit Demenz-Erkrankten sehr hilfreich ist: Validation. Das bedeutet, dass man diese Menschen nicht ständig korrigiert und darauf hinweist, dass sie schon wieder etwas verwechseln oder falsch erinnern, sondern dass man einfach mitgeht. Dass man das, was sie eben anbieten, für gültig, valide erklärt. Ich komme aus einer Theaterszene, wo man viel über Improvisation entdeckt hat. Dabei gab es eine Regel: Wenn jemand etwas anbietet, muss man das Angebot annehmen. Also wenn dir jemand ein Aufnahmegerät hinhält und sagt, das ist eine Banane, dann ist das eben eine Banane. Ich akzeptiere, dass das, was du vorgibst, Realität ist. So ähnlich hab ich das mit meiner Mutter empfunden. [….]

(Clemens Schick über seine demente Mutter, 23.04.2021)

Validation ist in der Tat der Schlüssel.   Das ist auch das Prinzip von Demenz-Dörfern, in denen niemand eingesperrt ist, in denen es eine Bushaltestelle (als Attrappe) gibt und einen Laden, in dem man auch mal mit einem Knopf bezahlen kann.  Die irreale geistige Welt, in der Demente leben ist endgültig abgetrennt von der Unsrigen. Man kann sie nicht zurückholen und soll daher auch keinesfalls an ihnen herumzerren. Damit täte man ihnen nur weh und macht sich selbst das Leben schwer.

Anders verhält es sich mit Covidioten und Aluhüten.

Man gerät immer wieder in Versuchungen auch in diesen Fällen um des lieben Friedens willen auf Validation zu setzen, ihnen nicht zu widersprechen.

Es erspart viel Lebensenergie, wenn man sich nicht mit den Spinnern aus der Reichsbürger und Impfgegner- oder Homöopathie-Szene anlegt.

Leider ist das dennoch keine Option, da wir in derselben Welt leben. Anders als Demente entscheiden diese Menschen über unser Leben mit, indem sie wählen, demonstrieren, Leserbriefe schreiben, politische Parteien bilden und die sozialen Medien vergiften.

Hier muss gegengehalten werden. Sie müssen immer wieder mit der Nase auf die Realität gestoßen werden.