Der Wahl-o-mat ist eine ganz nette Spielerei, aber sicher kein seriöses Tool, weil der Geist einer Partei, die Persönlichkeiten der Kandidaten, gar nicht erfasst werden.
Die einzelnen Wahlprogrammpunkte werden außerdem nicht gleichermaßen mit Leben erfüllt. Wenn CDU und SPD beispielsweise beide in ihre Papiere schreiben, den Klimaschutzzielen von Paris verpflichtet zu sein, wertet der Wahlomat das als „gleich“, aber natürlich vertreten die beiden Partien das Klimaschutzziel NICHT mit der gleichen Verve.
Außerdem sind die verwendeten 38 Themen keinesfalls gleichwertig. Die militärische Unterstützung der Ukraine ist relevanter als Cannabis-Regeln. Der Gottesbezug in der Präambel des Grundgesetzes ist nicht so wichtig, wie das Ziel der Klimaneutralität. Die Frauenquote in DAX-Aufsichtsräten kann man im Vergleich zu den Spitzensteuersätzen vernachlässigen.
[….] Nicht selten erleben die Nutzenden eine Überraschung, wenn sie gerade mit kleineren Parteien viele Übereinstimmungen finden. Das liegt vor allem daran, dass sich diese Parteien häufig bei den Fragen enthalten, wie Prof. Dr. Norbert Kersting von der Universität Münster erklärt. „Dabei stellen die Parteien sich häufig neutraler dar, als sie sind“, sagte Kersting der Berliner Morgenpost. Politikwissenschaftler Christian Stecker von der Technischen Universität Darmstadt erklärte tagesschau.de, dass Nutzende lieber eine Aussage überspringen sollten, als „neutral“ zu wählen. Das ist nicht der einzige Kritikpunkt, den der Politikwissenschaftler Kersting zum Wahl-O-Mat hat. Der Professor hat zusammen mit einem Team den „Wahl-Kompass“ entwickelt. Ähnlich wie beim Wahl-O-Mat können die Nutzenden ihre Zustimmung oder Ablehnung zu insgesamt 31 Thesen abgeben. Die angegebenen Antworten werden dann mit den unterschiedlichen Positionen der Parteien verglichen. Allerdings werden nicht nur die Befragungen der Parteien bewertet – das Ergebnis des „Wahl-Kompass“ beinhaltet auch eine wissenschaftliche Einordnung durch deutsche Parteienforscherinnen und -forscher. [….]
Zudem sind koalitionstaktische Überlegungen wesentlich für die Wahlentscheidung. Die Partei, die ich wählen werde, liegt in meinem persönlichen Wahl-o-mat-Ergebnis erst auf Platz 10. Aber die neun davor Liegenden haben entweder keine Chance, die 5%-Hürde zu überspringen, oder treten für etwas ein, das für mich ein Ausschlusskriterium ist. So matche ich beispielsweise, laut der BPB-App, hervorragend mit VOLT, die ich aber wegen ihrer zutiefst irrationalen, wissenschaftsantagonistischen Atomkraft-Vorliebe niemals wählen würde.
Amüsant bleibt der Wahl-o-mat aber dennoch, weil er beispielsweise zur großen Schande der CDU zeigt, wie deckungsgleich die Merz-Union mit den AfD-Nazis mittlerweile ist.
Weiterhin lache ich über die empörten Rechtsschwurbler, die schon wieder Weltverschwörungen wittern, weil ihre Wahlomat-Ergebnisse nicht wie erhofft, überragende AfD-Prozente ergeben. Dabei sind sie lediglich von der Xenophobie der AfD geblendet und haben, wie fast alle AfD-Fans, nicht in das (spärliche) AfD-Programm gesehen, welches extrem schädlich für fast die gesamte Bevölkerung wäre und einseitig Politik zu Gunsten der Superreichen macht.
Warum aber bleiben die AfD-Umfrageergebnisse stabil bei
über 20%, obwohl die Partei gesichert faschistisch ist und eine Politik propagiert,
die Deutschland garantiert in eine dramatische ökonomische Katastrophe führen
wird?
Die Antwort der AfD-Co-Rechten von CDU/CSU/BDW lautet entweder „die Ampel ist schuld“
oder „die Grünen sind schuld“. Nach diesem Narrativ haben Scholz, Habeck und Co
„alles falsch gemacht“. Insbesondere auf Humanität, Menschenrechte, Klimaschutz
und Ukraine-Hilfe gesetzt. Das alles wären Irrwege, so wie Gendern, Kiffen oder
Trans-Akzeptanz. Das empöre die Wähler so sehr, daß sie quasi aus Notwehr AfD
wählten, obwohl die mit Nazi-Sprüchen leicht widerlich daher kämen und man
besser Merz und Söder wählen sollte.
Leider gibt es ein Problem bei dieser Argumentation: Sie ist schlicht falsch.
Denn die AfD feierte schon zwischen 2017 und 2021 immer
neue Rekordergebnisse, als es noch keine Ampel gab und die CDU im Kanzleramt
saß. Außerdem zeigen die Erfolge rechtsradikaler Parteien in anderen
Industriestaaten, daß es natürlich keinen Habeck braucht, damit die Faschisten
erfolgreich sind. In den USA geschieht just vor unseren Augen ein Coup d’État,
ohne daß Grüne jemals auch nur in die Nähe von Regierungsverantwortung gekommen
wären.
Die tatsächlichen Gründe für den rechtsradikalen Durchmarsch liegen im medialen
Versagen, allgemeiner Verblödung und der manipulativen
Social-Media-Meinungsmacht.
Eine gute Hälfte der Bevölkerung wurde durch jahrelange Entfaktisierung auf Social Media und Fascho-Hofierung in den Talkshows, unrettbar xenophobisiert. Die bejubelt alles, das gegen Ausländer gerichtet ist und schreit stets nach mehr Härte der fremdenfeindlichen Politik.
Einen Schuh, den sich hauptsächlich Angela Merkel und ihre CDU-Minister, aber eben auch die Ampel-Regierung anziehen muss, ist die allgemeine Trägheit.
Deutschland leidet an einer Fülle von Problemen, die seit Jahren, oft seit Jahrzehnten, bekannt sind, für die es sogar Lösungskonzepte gibt. Aber in ihrer (berechtigten) Angst vor dem Wähler, der allergisch auf jede Veränderung reagiert und Politiker sofort abstraft, wenn die irgendetwas versuchen, das nicht sofort, wie am Schnürchen klappt, wird das meiste nur aufgeschoben und nie richtig angefasst.
Daher funktioniert so vieles in Krankenhäusern, in der Pflege, in der Schule, bei der Bahn, bei Behörden, vor Gericht, auf Ämtern, im Verkehr, nicht. Man findet keine günstigen Wohnungen, steht ewig im Stau, muss auf Termine warten.
Das wiederum erlebt der deutsche Michel in seinem täglichen Leben, ärgert sich, ärgert sich immer wieder. Das führt zu großem Frust, den sich die rechten und rechtsfaschistischen Populisten zu Nutze machen, indem sie Sündenböcke präsentieren, auf die all der Hass projiziert wird, der sich selbst verstärkt und schließlich zur Wahl von AfD, ÖVP, Farage, Le Pen führt.
[…..] In diesem Land haben etwa 25 Millionen Menschen das, was das Statistische Bundesamt einen Migrationshintergrund nennt: Entweder, weil sie selbst, oder ihre Eltern von anderswo eingewandert sind. Etwa die Hälfte von ihnen sind Deutsche. Unter den Kindern in diesem Land sind sie besonders gut vertreten: 43 Prozent der unter Fünfjährigen haben Wurzeln im Ausland.
Wenn derzeit öffentlich über „Migration“ und „Migranten“ gesprochen wird, geht es den Parteien vielleicht um Prozentpunkte. In der Sache aber geht es, auf die Gesamtbevölkerung gerechnet, um jeden dritten Menschen, der hier lebt, arbeitet, eine Schule oder Kita besucht, einkauft, Sport macht, krank wird, andere pflegt. Es geht um Menschen, von denen viele mit Vorurteilen, einem erhöhten Armutsrisiko und schlechteren Chancen im Bildungssystem leben müssen. […..] Die allermeisten aber führen ein normales Leben.
Wenn derzeit über Migration geredet und gestritten wird, dann fallen aber Begriffe wie „Zustrombegrenzung“, „Staatsversagen“, „Ausreisepflichtige“ und immer wieder „Sicherheit“. […..] Diese Deutung schwang schon in Horst Seehofers berüchtigter Metapher von der Migration als „Mutter aller politischen Probleme“ […..] erte Einwanderungsbürokratie, in der Anträge nicht monatelang vor sich hin modern, das hätte man in den vergangenen zehn Jahren schaffen können. Ein effizientes Gefährder-Management auch. Beides sind auch jetzt die Antworten, die ein handlungsfähiges Land liefern sollte. Klingt vielleicht nicht markig, würde aber den Menschen wirklich dienen, die in diesem Land leben, egal mit welchem Hintergrund. [….]
(Meredith Haaf, SZ, 03.02.2025)
CDU und CSU und AfD haben keine Konzepte, um die dem Bürger auf den Nägeln brennenden Probleme zu lösen. Aber sie suggerieren bedauerlicherweise relativ erfolgreich, das alles löse sich von allein, wenn bloß erst die ganzen Migranten rausgeworfen wären, keine Ukrainer mehr Grundsicherung bekämen, kiffen verboten wäre und niemand mehr gendere.