Die Mopo titelt mit einem ganzseitigen Weselsky-Bild und dem Text „Nun dreht er vollkommen durch.“
Das
ganze Netz wimmelt von Hassattacken gegen den GDL-Chef, in der Tagesschau ist
der Bahnstreik die Hauptmeldung, die offenbar so wichtig ist, daß ein Weselsky-Brennpunkt
der 20.00-Uhr-Ausgabe folgt.
Der „Abendblatt-Tweed
des Tages“ lautet: „Hoffnung bei der FDP! Man ist beim Volk nun beliebter als
die Lokführer!“
Die BILD nennt ihn den
„Größen-Bahnsinnigen“ und fordert ihre Leser auf, dem „Gewerkschafts-Boss“
unter der auf der Titelseite gedruckten Büronummer „die Meinung zu geigen“. Der
Focus kürt ihn gar zum „meistgehassten Deutschen“ und präsentiert seinen Lesern
Fotos vom Wohnhaus der Familie Weselsky samt genauer Ortsangabe. Selten tropfte
so viel Hass aus den Zeilen.
Spitzenklasse
mal wieder die tagesaktuelle SIXT-Werbung, die ich heute GANZSEITIG (sic! Das
kostet richtig Geld) in der SZ und vielen anderen überregionalen Periodika vorfand:
Offensichtlich
ist Claus Weselsky der unbeliebteste Mensch Deutschlands.
Er sieht
ja auch schon irgendwie aus wie der Sohn von Jürgen Möllemann und Adelheit
Streidel. Er ist der Putin der Tarifpolitik.
Natürlich
schließe ich mich der Volksmeinung an; allerdings mit gewichtigen Gründen.
Ich kann
Weselsky nicht leiden, weil er
a)
Sachse
ist
b)
CDU-Mitglied
ist
c)
Eine
extrem peinliche Rotzbremse trägt
e)
Phonetisch
an den widerlichen Józef Wesołowski
erinnert.
Nein,
solche Leute müssen geächtet werden.
That
said, darf man auch beim Bahnstreik ein kleines bißchen Objektivität walten
lassen.
Dann muß
man feststellen, daß sich die Welt weiterdreht, daß Deutschland nicht
stillsteht.
Es ist
peinlich wie sich die VERöffentlichte Meinung hierzulande über eine immer noch
völlig normale Tarifauseinandersetzung empört.
Andere
Länder haben echte Probleme und gerade Streiks sind in der
Wohlfühl-großkoalitionären Konsenssoßendemokratie Deutschlands so selten, daß
man die Wenigen aushalten kann.
Beim
statistischen Bundesamt kann man die durch Streiks und Aussperrungen verlorene Arbeitstage je 1000
Arbeitnehmer von 2000 bis 2007 nachlesen:
·
Spanien
173
·
Kanada
164
·
Frankreich
103
·
Italien
93
·
Österreich
57
·
Irland
33
·
USA
32
·
Großbritannien
30
·
Niederlande
8
·
Deutschland
5
Die
Hodengröße der Gewerkschaften läßt sich aus diesen Zahlen recht gut ablesen und
es verwundert wenig, daß sich ausgerechnet Deutschland zum Niedriglohnland
entwickelte, in dem der Abstand zwischen den reichsten 10% der Gesellschaft und
den von Erwerbsarbeit Abhängigen am weitesten auseinander klafft.
Wieso nehmen wir eigentlich klaglos den eigentlichen Skandal hin, daß die Reichen dieses Landes jedes Jahr exorbitant reicher werden, während die Habenichtse mit immer weniger auskommen müssen, weil sie in prekäre, unterbezahlte, aufzustockende oder Leiharbeiterjobs gezwungen werden?
Die
Gewerkschaft der Lokführer, die GDL ist die Älteste des Landes, existiert seit
1919 und betrieb in ihrer fast 100-Jährigen Geschichte anders als ihre jüngere und
mächtigere Konkurrenzgewerkschaft Transnet nicht in den 1990er Jahren massive
Propaganda für die Bahnprivatisierung.
Transnet
fusionierte 2010 mit der Beamtengewerkschaft GDBA zur neuen DGB-Gewerkschaft
EVG (Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft).
In der
ersten Dekade der 2000er Jahre handelte die arbeitgeberaffine Transnet aus, daß
reihenweise festangestellte Lokführer gekündigt wurden und durch billigere
Leiharbeiter ersetzt wurden – alles zum Wohle der neuen
Bahnprivatisierungsideologie.
Das
weckte allerdings die Lebensgeister der gemütlichen GDL, die den
Sharholder-Value-Kurs der Transnet nicht mitmachen wollte.
Im gleichen Jahr
unterzeichnete die Konkurrenz von Transnet ihren moralischen Offenbarungseid –
der Gewerkschaftsvorsitzende Norbert Hansen wechselte ohne jegliche
Übergangszeit mit fliegenden Fahnen die Seiten und heuerte im Vorstand der
Deutschen Bahn AG als neuer Arbeitsdirektor an. Der Gewerkschafter, der zuvor
seine Kollegen an die Deutsche Bahn verraten hatte, kassierte nun auf der
Arbeitgeberseite seinen Judaslohn. Für die nicht einmal zwei Jahre, die er im
Vorstand der Deutschen Bahn AG verbrachte, überwies ihm das Staatsunternehmen
inkl. Abfindung stolze 3,3 Millionen Euro. Einen derart massiven Fall von
Korruption (nicht juristisch, aber sehr wohl moralisch) hat es in der deutschen
Gewerkschaftsgeschichte wohl noch nie gegeben.
Inzwischen
vertritt die GDL mit knapp 20.000 Mitgliedern die Majorität der Berufsgruppen Lokführer,
Zugbegleiter, Bordgastronomen, Disponenten, Rangierführer und Ausbilder.
Das
Transnet-Rudiment EVG hat nur rund 8.000 Mitglieder.
Herr
Weselsky möchte nun den Staatskonzern Bahn, der gerne ausgediente Loser-Politiker
des Schlages Ronald Pofalla oder Otto Wiesheu mit millionenschweren Jobs
auf Steuerzahlerkosten versorgt, dazu bewegen auch mal an die Arbeitnehmer zu
denken.
Dafür
sind Gewerkschaften da und als Ultima Ratio gibt es dafür das Verfassungsrecht
Streik, das nie beliebt ist, weil es naturgemäß auch Dritte trifft.
Der
Deutsche Michel könnte sich dafür bedanken, daß er verglichen zu anderen
Ländern kaum jemals von Streiks betroffen ist.
Ob das
wirklich so ein ökonomischer Segen ist, wenn eine große Volkswirtschaft zur
Niedriglohnlandschaft terraformiert wird und dadurch die Nachfrage
kontinuierlich schrumpft, so daß der gesamte Einzelhandel chronisch schwächelt
und man in der Folge durch eine dramatische Importschwäche vom Export abhängig
wird wie fast kein anderes Land, sei dahingestellt.
Wenn Manager
"Personal abbauen", nehmen wir es hin. Wenn die Abhängigen für ihre
Interessen kämpfen, herrscht Empörung. Der Bahnstreik ist kein Skandal -
sondern ein Geschenk. Er erinnert uns an die Macht der Arbeitnehmer.
Claus Weselsky ist
zurzeit wahrscheinlich der unbeliebteste Deutsche. […] Auf Twitter wird schon gefragt, ob der Mann eigentlich Personenschutz
hat.
Weselskys Vergehen: Er
macht von einem Grundrecht Gebrauch - dem Recht auf Streik. Kleine Erinnerung
für die Empörten: Solange Weselskys Leute ihm folgen und kein Arbeitsgericht
Einwände hat, kann er zum Ausstand aufrufen. Wem das nicht passt, sollte den
Umzug nach China erwägen.
[…]
Selbst Weselskys Gegner halten dem
Gewerkschaftschef absolute Unkorrumpierbarkeit zugute - die Bahn hatte
vergeblich versucht, ihn mit einem gut bezahlten Job zu kaufen.
Was wird dem Mann
vorgeworfen? Dass es bei dem neuerlichen Streik nicht allein ums Gehalt geht,
sondern um Einfluss. Die Gewerkschaft der Lokführer will auch für die bei ihr
organisierten Rangierführer, Disponenten und anderes Zugpersonal Tarifverträge
abschließen. Die Deutsche Bahn will das nicht. Sie arbeitet da lieber mit der
deutlich handzahmeren Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft zusammen, ihrer
"angepassten Hausgewerkschaft", wie Weselsky spottet. Der Konflikt
ist real. Der Streit ist legitim. Es geht um die Interessen der Beschäftigten.
Was sonst ist die Aufgabe einer Gewerkschaft? […]
Ehrlich
gesagt interessiert mich dieser Streik nicht so besonders.
Er wird
auch wieder vorbei gehen und schlimmstenfalls mit einem Desaster à la Jürgen Peters enden. Der
hochumstrittene IG-Metall-Vize hatte 2003 extrem überzogen und den Ruf seiner Gewerkschaft total
ruiniert.
Das kann
passieren. Auch Gewerkschaftler machen Fehler und Jürgen Peters ist sicher einer der unangenehmsten und
dubiosesten Gewerkschafter der deutschen Nachkriegsgeschichte.
Sehr
viel bedenklicher finde ich allerdings wie die Journaille insgesamt FOX-newsig
Meinung macht und offenbar das Volk im Schäfchen-Modus mit abgeschaltetem Hirn
einstimmt.
Soll man sich wirklich
aufregen, dass Franz Josef Wagner in der BILD „Töchter, die ins Hospiz zu ihren
alten Vätern wollen“ ins Spiel bringt, um gegen Claus Weselky zu hetzen? Ja,
man muss sich darüber aufregen, auch wenn man von Wagner nichts anderes
erwartet. Man muss sich auch über den Focus aufregen, der mit Überschriften wie
„Seit 1992 sitzt Weselsky im warmen Büro“ aufmacht und es offenbar für
ungerechtfertigt hält, dass der „Streikführer“ ein Grundgehalt von „5389 bis
6836 Euro“ bezieht und in mit seiner Familie in einer ehemalige Altstadt-Remise
auf 61 Quadratmeter lebt. Soll ein Gewerkschafter etwa in einer unbeheizten
Wellblechbaracke arbeiten und im Plattenbau leben? Für das Jahresgehalt des
„Gewerkschafts-Boss“ muss Bahn-Chef Rüdiger Grube ganze 11 Tage arbeiten und –
verzeihen Sie mir bitte die Polemik – 61 Quadratmeter reichen bei
Dax-Vorständen oft noch nicht einmal für die Eingangshalle ihrer Villa. Kritik,
dass Herr Grube, der immerhin ein Angestellter eines Unternehmens ist, dass zu
100% dem Bund gehört, ein Jahressalär von 2,7 Millionen Euro bezieht, habe
zumindest ich in BILD und Focus noch nie vernommen.
Klar, es
nervt, wenn die Bahn nicht fährt. Und Weselsky mag ich auch nicht.
Dennoch
wünsche ich ihm, daß er sich gegen Multimillionär Grube durchsetzt und daß die
Journaille es nicht schafft den Streik zu beenden.