Sonntag, 8. Januar 2023

Noch mal zu den Ossis  

Neben den Ossis, haben auch andere Volksgruppen ein katastrophales Image. Die Bayern zum Beispiel. Oder Tschetschenen. Die negativsten Konnotation löst im Moment wohl die Volksgruppe aus, zu der ich zufällig gehöre: Die (US-)Amerikaner.

Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht kopfschüttelnd sage „die sind so scheiße, die Amis!“ Es liegt in der Natur der Sache, daß es sich bei der Reduzierung von 330 Millionen Individuen auf ein „DIE…“ um eine drastische Pauschalisierung handelt.

Aber Pauschalurteile bedeuten eben gerade nicht, jeden einzelnen der Gruppe zu meinen. Sonst wäre es ein Individualurteil.

(….) Die Verwendung solcher Stereotype bedeutet bei halbwegs gebildeten Menschen, die korrekte Rechtschreibung beherrschen keineswegs, daß sie wirklich jeden so abqualifizieren.

Tatsächlich bilden die US-Amerikaner selbst auch die stärkste Opposition gegen Trump, sind abgestoßen von dem NRA-Waffenwahn und setzen sich vehement für Klimaschutz ein.  Meines Erachtens kann man daher auch nie Opfer von Pauschalurteilen sein.

Wer stereotype, abfällige Klischees über Gruppen verbreitet, zu denen ich zufällig gehöre – Amerikaner, Hamburger, Sozi, weiße Männer, digital imigrants – kann mich nie persönlich treffen, da diese negativen Assoziationen immer auf einige Mitglieder der Gruppe zutreffen. Nur ein total Verblödeter kann aber behaupten alle, also jeder einzelne Hamburger liefe den ganzen Tag im Maßanzug rum und esse Fisch. Nur ein total Verblödeter kann behaupten jeder weiße Mann wäre ein frauenfeindlicher Sexist.

Man muss aber total Verblödete nicht ernst nehmen. (….)

(Die Ossis, 26.08.2019)

Im Gegensatz zu Bayern, zu Hamburgern, oder zu Amis, können Ossis aber nicht zwischen Pauschalisierungen und individuellen Beschreibungen unterscheiden. Sie fühlen sich immer persönlich angegriffen.

Niemand ist so schnell und so radikal beleidigt wie „die Ossis“.

Was Hamburg einfach an sich abtropfen lässt, führt in Ossiland gleich zu kollektiver Depression.

(….) Es käme mir nie in den Sinn persönlich beleidigt zu sein, wenn jemand gegen „die Amerikaner“ oder auch „die Hamburger“ Position bezieht.

Die Erdoğansche Wehleidigkeit der Ossis ist erbärmlich.

Mit vollem Recht empören sich überall in der Welt jeden Tag Menschen über Amerika. Na und? Amerika ist ein riesiges heterogenes Gebilde.

Wie kann man nur so egomanisch sein, jeden antiamerikanischen Verbalangriff auf sich selbst zu beziehen? Ich habe einen US-Pass und meinetwegen kann jeder so viel an den USA kritisieren, wie er lustig ist.

Muss denn immer dieses Übermaß an political correctness herrschen, daß ich bei jeder spitzen Formulierung gegen „die Sachsen“ gleich ein devotes Sorry liebe aufrechte Sachen, die sich für Flüchtlinge engagieren; ihr seid natürlich nicht gemeint hinterher aufsagen muß?

Ein pauschalverurteilender Satz wie „ich hasse die Bayern!“ ist zwar unfein, aber andererseits ist es auch albern, so eine offensichtlich dahingerotzte Aussage auf die Goldwaage zu legen und daraus abzulesen, daß man damit jeden einzelnen der 12 Millionen Bayern persönlich hasst. (….)

(Säxit Now, 02.06.2016)

Ich kann mich nicht als Amerikaner schämen, weil ich emotional nichts mit den Trumpmerikanern gemein habe. Also Feuer frei!

Ich bin offen für alle Beleidigungen wider die Amerikaner, die Deutschen, die Heterosexuellen, die Weißen, die Männer, die Europäer, die Reichen, den Westen!

Wir haben es verdient.

DEN Ossis gemeinsam ist eine stark viktimologische  Grundhaltung.

(….) Hinzu kommt der ekelhafte jammerige Opfermythos der Sachsen, die sich immer benachteiligt fühlen, stets glauben mehr als andere zu leiden.

Das ist immer das Erste, da man nach Nazi-Aufmärschen hört: „Sachsenfeindlichkeit“ – alle sind gegen uns. Die Presse, die Wessis, die Ausländer, wir haben es so schwer.

(….) Ich halte den psychohistorischen Ansatz des SPIEGELs für sinnig. Seit August, dem Starken halten sich die Sachsen für das auserwählte Volk, die für Hochkultur, Reichtum und Schönheit stehen. Die sächsischen Kulturschätze konterkarieren allerdings schon damals die politische und militärische Bedeutungslosigkeit. Den mächtigen Königshäusern der Hohenzollern und Habsburger hatten sie nichts entgegenzusetzen, wurden nach Belieben vom ungeliebten Preußen dominiert. Mitte des 18. Jahrhunderts mußte Sachsen hilf- und tatenlos zusehen, wie Friedrich, der Große einmarschierte. Schließlich fiel am Ende des Siebenjährigen Krieges auch noch Schlesien an Preußen, welches doch für Sachsen die langersehnte Landbrücke zu Polen bilden sollte.

Erst 1806 wurde das Kurfürstentum Sachsen durch Napoleon auch zum Königtum erhoben, verlor aber in der Leipziger Vielvölkerschlacht von 1813 an der Seite Frankreichs erneut schmachvoll gegen Preußen und konnte nur mit knapper Not verhindern wieder zum Fürstentum abzusteigen, indem es die Hälfte des Gebietes an Preußen abtrat. 1866 stand Sachsen an der Seite Österreichs im „Deutschen Krieg“ gegen Preußen und verlor erneut. Nur fünf Jahre später ging es dann endgültig als deutscher Kleinstaat im Kaiserreich der Preußen auf.

Die Sachsen entwickelten einen ausgeprägten regionalen Minderwertigkeitskomplex, der durch eine Mischung aus Opferkult und Größenwahn kompensiert wird.

Im 20. Jahrhundert setzte sich das nahtlos fort. Sie waren besonders Hitler-treu, stellten den Großteil der NSDAP-affinen Deutschen Christen und fühlten sich erneut betrogen, als Dresden am Ende des zweiten Weltkrieges zerstört wurde.

Und sie erlebten Bombenangriffe auf die Hauptstadt, die so massiv waren wie etwa in Hamburg und Köln; aber nur die Sachsen entwickelten daraus einen Trauerkult, der bis heute anhält. „In Dresden spürt man bis heute diesen Identitätsverlust im und nach dem „Dritten Reich“, sagt [Martin] Roth, [der zehn Jahre lang die Staatlichen Kunstsammlungen Dresdens leitete] „Was bleibt ist diese Selbstherrlichkeit, dieses Im-eigenen-Saft-schmoren und gleichzeitig glauben, man sei der Größte.“

(DER SPIEGEL, 20.02.2016, s.50)

Das stimmt natürlich; Hamburg wurde fast komplett zerstört. Bei der Operation Gomorrha 1943 kamen mehr Leute in 48 Stunden um als in Dresden. Aber hier wird darüber überhaupt nicht lamentiert. Völlig unvorstellbar, daß es Aufmärsche am Jahrestag gäbe. Das begreift jeder in Hamburg: Wir hatten selbst schuld, wir haben den Krieg angefangen und wir haben die Bombardierung von Zivilisten angefangen. Wir haben diesen Krieg in die Welt getragen und wollten nicht aufhören, als schon längst alles verloren war. Man kann doch nicht im Ernst 70 Jahre später immer noch schmollend durch Dresden paradieren und die Briten deswegen hassen. (…)

(Pimmelköppe, 27.08.2018)

Diese kollektive Jammerei der Ossis ist umso unerträglicher, als andere Regionen Deutschlands faktisch in schwierigeren Verhältnissen leben, ohne sich unablässig zu beklagen.

[…] Ein Dienstag im November, Wilhelmshaven in Niedersachsen. Der Himmel ist blau, Möwen schreien. Mehrere Betriebe haben hier in den vergangenen Jahren dicht gemacht. Die Arbeitslosenquote lag 2021 bei 10,9 Prozent, höher als in jeder kreisfreien Stadt im Osten. Das verfügbare Pro-Kopf-Einkommen liegt nach einer Studie der Hans-Böckler-Stiftung bei 19.050 Euro. Wilhelmshaven rangiert damit unter 401 untersuchten Landkreisen und kreisfreien Städten auf Platz 396 – deutlich hinter dem brandenburgischen Cottbus, dem sächsischen Chemnitz oder dem thüringischen Gera. Anders als dort geht in Wilhelmshaven montags niemand gegen steigende Energiepreise oder die Unterbringung von Geflüchteten demonstrieren.  Miguel Schaar wundert das nicht. Der 54-Jährige stammt von der Nordseeküste, kam als Ordensbruder viel rum in der Welt und fand irgendwann seine Heimat in Wilhelmshaven. Er sagt, wer hier unzufrieden sei, der packe lieber selbst an, anstatt zu meckern. Das sei das Ergebnis einer starken Zivilgesellschaft, gepaart mit nordischer Muss-halt-Haltung.  [….]

(DER SPIEGEL 2/2023, 06.01.2023)

Bei den Ossis hingegen wird das Heft nicht selbst in die Hand genommen. Die Schuld wird immer bei anderen gesucht. Und es werden auch Sündenböcke gefunden, auf die gnadenlos eingedroschen wird, weil Zivilität und Mitleid unterentwickelt sind.

[….] Hier sollen zehn junge Geflüchtete unterkommen – aber die Mehrheit ist dagegen. [….]

SPIEGEL: Frau Euchler, Sie haben eine Petition mit fast 260 Unterschriften erhalten, die eine Unterbringung von jungen unbegleiteten Flüchtlingen in Kriebethal ablehnt. Mehr als die Hälfte aller Erwachsenen im Ort gegen zehn alleinstehende Minderjährige – wie haben Sie reagiert?

Euchler: Mit Verständnis. Das sind Bedenken, die ich sehr ernst nehme und auch teile. [….] Ich will diesen jungen Leuten keine Unterstützung verwehren. Die Frage ist doch, wo und wie sie die am besten erhalten können. Kriebethal ist nicht der richtige Ort dafür.  [….]

(Spon-Interview, 06.01.2023)

Ja, sicher, in Hamburg gibt es auch eine (sehr kleine) AfD-Fraktion und rechtsradikale Arschlöcher, die gegen Minderheiten und Menschen in Not agitieren.

Der Unterschied ist aber, daß unser Bürgermeister dafür kein Verständnis erklärt und daß die unbeteiligten Bürger genügend zivilen Anstand aufbringen, um sich gegen rechtsradikale Demonstrationen zu wehren. Bei jedem Pegida-Aufmarschversuch in Hamburg, gab es so große Gegendemonstrationen, daß die xenophoben Rechtspopulisten, Schwurbler und Covidioten irgendwann aufgeben mussten.

In Ossiland sind aber eben nicht nur die rechtsextremen Ossis das Problem, sondern die indolenten Normal-Ossis, die Pegida achselzuckend hinnehmen und immer wieder einen CDU-MP wählen, der die Menschenhasser hofiert.

Können die sächsischen AfD-Fans etwas dafür, daß sie so denken, wie sie denken?

Können evangelikal indoktrinierte Menschen in Alabama, die nur FOX-News glotzen, etwas dafür, Schwule oder Latinos zu hassen und Trump zu wählen?

Würde ich mich, in Kansas-City oder Bautzen aufgewachsen, genauso verhalten?

Ich weiß es nicht. Ich hoffe nicht. Immerhin sind nicht alle Menschen in Sachsen oder Missouri rechtsradikale Widerlinge. Es gibt auch einzelne mit sehr viel mehr Anstand und Bildung und Mitgefühl.

Allerdings prozentual weniger, als in San Francisco oder Bremen.

Bei der Ursachenforschung, bei der Suche nach Erklärungen, kann man aber nicht jeden einzelnen der vier Millionen Sachen einzeln gründlich psychologisch analysieren.

Damit wären wir wieder bei Pauschal-Analysen.

[…] Es ist kein Zufall, dass der Protest im Osten größer und lauter ist. Der Kulturwissenschaftler Mathias Berek arbeitet am Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin und befasst sich mit dem gesellschaftlichen Zusammenhalt der Wendezeit.

»Im Osten gibt es eine weniger gefestigte demokratische Kultur, kaum Raum für Diskussionen und Aushandlungsprozesse«, sagt Berek. Soll heißen: Viele Menschen im Osten haben es nach dem Ende der Diktatur nicht gelernt, politisch zu streiten, Meinungen auszufechten. [….] »Viele haben nach der Wende eine krasse Selbstwirksamkeitserfahrung erlebt«, sagt der Forscher, »mit den Montagsdemos hat man gemeinsam ein Regime zu Fall gebracht«. Dann sei dieses Gefühl rasch verpufft, das institutionelle Misstrauen gegenüber Stasi und SED wurde übertragen auf die Nachwendeparteien und die Westler, die »rüber« kamen und wichtige Posten übernahmen. »Den Spruch, schon immer ›verarscht‹ worden zu sein, hört man im Osten überall.« [….] Berek attestiert jenen, die auf die Straße gehen, noch eine weitere Motivation: die Angst vor dem »Verlust von Dominanz«, wie er es nennt. »Es gibt in Teilen der Gesellschaft einen ausgeprägten Hass auf alles, was von der eigenen Norm abweicht«, sagt Berek. Auf Geflüchtete, die Hilfe brauchen, auf Frauen, die hohe politische Ämter einnehmen, auf Queere, die sichtbar sein wollen.

»Auf den Straßen berauscht sich dann ein Mob am Gefühl, allein das Volk zu vertreten und eine Homogenisierung wiederherzustellen, die es so eigentlich nie gab.« Diese Gruppe werde immer weiter in die bürgerliche Mitte vordringen, wenn es der Politik nicht bald gelinge, den großen Teil der Unentschlossenen und Schweigenden im Osten anzusprechen, warnt Berek. Zudem sei die Zivilgesellschaft in den östlichen Bundesländern viel schwächer aufgestellt.  [….]

(DER SPIEGEL 2/2023, 06.01.2023)