Daß in Deutschland 80 Millionen Fußballbundestrainer und nicht zum Beispiel Schach-Experten leben, hat mich nie sehr verwundert. Fußball ist ein primitiver Sport mit einfachen Regeln und simpler Zählweise. Meist reicht es, die Zahlen bis 3 zu kennen; in Ausnahmefällen auch mal bis 5. Da ist die Tennis-Zählung schon erheblich komplizierter, aber immer noch begreifbar im Vergleich zur Punkteverteilung im Eiskunstlauf.
Verblüffter war ich schon, als im Jahr 2020 alle Deutschen zu Hobby-Virologen wurden und trotz offensichtlicher völliger Ahnungslosigkeit, epidemiologische Weisheiten über das Immunsystem verbreiteten.
Ich habe unter anderem Biochemie und organische Chemie studiert. Dabei habe ich allerlei Einblicke in Immunreaktionen bekommen, weiß wie Immunglobuline aufgebaut sind oder wie im Körper DNA- und Protein-Stränge gebildet werden. Niemals käme ich allerdings auf die Idee, mich für einen Mediziner oder gar Virologen zu halten, weil das hochkomplexe Fachgebiete sind, in die ich nur einen ganz kurzen Blick erheischte. Wenn mir ein Klempner ohne Maske erklärt, er stärke sein Immunsystem, indem er sich nicht impfen lasse, weiß ich aber zwei Dinge: Er redet Unsinn und er verbreitet diesen Unsinn aus einer gewissen Dunning-Kruger-Selbstvergewisserung, da er offensichtlich nicht mal ansatzweise erahnt, wie die Zusammenhänge wirklich sind.
Seit einem Monat sind die 80 Millionen autodidaktischen deutschen Epidemiologen zu Militärexperten und Psychoanalytikern und auch noch Geostrategen mutiert.
Sie wissen auf einmal ganz genau mit welchen Waffen und welchen Strategien Putins Truppen besiegt werden könnten, werfen ungeniert mit Begriffen wie „Flugverbotszone“, „Lufthoheit“ oder „Nato-Fluchtkorridor“ um sich. Sie haben zudem nach 22 Jahren des Wegsehens ganz plötzlich per Telediagnose Wladimir Putins Geisteszustand analysiert und wissen welche langfristige Militärstrategie er sich ausgedacht hat.
Von Fußball verstehe ich nichts, von Immunologie ein winziges bißchen, von Geostrategie vielleicht auch ein winziges bißchen. Ich weiß aber sicher nicht, was in Putins Kopf vorgeht und habe mich noch keine Sekunde für einen Militärexperten gehalten.
Ja, ich teile Klaus von Dohnanyis‘ und Gerd Schröders Meinung, daß „der Westen“ in den letzten 20 Jahren heftige strategische Fehler im Umgang mit Russland beging. Wie Dohnanyi rechtfertige oder verteidige ich damit nicht Putin.
Ich habe den Kriegsbeginn am 24.02.2022 live auf CNN verfolgt, während alle deutschen Sender noch schliefen und trotz der vor meinen Augen stattfindenden Raketeneinschlägen, nicht glauben können, daß Russland da gerade einen großen Krieg beginnt. Ich hatte Putin das Vorgehen nicht zugetraut. A posteriori wirkt es naiv, weil im Rückblick tatsächlich einiges auf dem Krieg hinwies. Aber wer stellt sich schon wirklich eine Katastrophe vor, bevor sie eintritt? Wenn das irgendjemand geahnt hätte, wäre die deutsche Bundeswehr nicht 16 Jahre lang unter Angela Merkel zu einem einzigen Schrotthaufen verkommen.
Am 26. Februar 1993 fand ein schwerer Bombenanschlag islamistischer Terroristen auf das New Yorker World Trade Center statt. Mit 700 kg Sprengstoff in der Tiefgarage des Nordturms wurde ein 30 Meter großes Loch in vier Untergeschosse gerissen und weitere sieben Stockwerke wurden schwer beschädigt. Sechs Menschen starben. Das Szenario war also bekannt. Aber am 11.09.2001 war die ganze Welt vereint im Schockzustand über den zweiten Anschlag. Damit hatte niemand gerechnet.
Warum eigentlich nicht?
Als Militär-Laie hatte ich die Kräfteverhältnisse zwischen Russland und der Ukraine falsch eingeschätzt, erwartete nach dem ersten Schock vom 24.02.2022 einen schnellen vollständigen Sieg Putins. Was sollten die Ukrainer dieser Übermacht schon entgegenhalten? Auch dabei handelte es sich offensichtlich um einen Irrtum. Eine Fehleinschätzung, der ich wie fast alle anderen Europäer anheimfiel. A posteriori erscheint auch dieser große Fehler umso erstaunlicher, weil man nun die früheren Hinweise anders gewichtet.
Militärische Operationen sind offenbar hochkomplex. Die US-amerikanischen Generäle, die totale Eroberungen von Vietnam 1965, Irak 1991, Afghanistan 2001 und dem Irak 2003 planten, waren im Gegensatz zu mir Experten und haben sich doch allesamt total geirrt.
Nichts davon klappte, in allen vier Fällen gab es Millionen Tote und irgendwann musste sich die USA geschmäht und geschlagen zurückziehen.
Die veröffentlichte Meinung und ich auch, haben also vor dem 24.02.2022 Putins Rationalität, seine Skrupel und die Schlagkraft der russischen Armee völlig falsch eingeschätzt.
In den letzten beiden Wochen schlägt aber das Pendel in die andere Richtung aus. Nun halten wir alle Wladimir Putin für völlig verrückt. Ein Irrer, mit dem man nicht verhandeln kann, der laut Joe Biden von heute, einfach verschwinden muss. Die russische Armee hingegen wird nun als marode und von völlig unfähigen Generälen kommandiert, angesehen. Wir können diese angebliche Schwäche zwar genauso wenig beurteilen wie die angebliche Stärke vor einem Monat, sind uns aber wieder verdammt sicher.
Die bellizistische Fraktion, die so gerne mit voller NATO-Power in der Ukraine eingreifen will, weil Putin nur Stärke verstünde, mit unserer Angst spiele und nach der Ukraine ganz Europa unterjochen wolle, stören sich nicht an ihren paradoxen Prämissen.
Wenn Putin völlig verrückt ist, kann man nicht auf vernünftige Reaktionen angesichts einer NATO-Intervention setzen.
Und wenn seine Armee ohnehin nur ein rollendes Potemkinsches Dorf mit verblödeter Generalität ist, die schon in der Ukraine in Lyse verfällt, muss man offensichtlich nicht befürchten, sie könnte bis Frankreich durchmarschieren.
Ich wünschte, wir könnten alle unserer Pseudo-Expertentum abrüsten.
Wir sollten bei der Corona-Bekämpfung nicht auf die Gefühlslage der totalen Medizin-Laien Kubicki und Lindner setzen, sondern auf Lauterbach und Drosten hören.
Wir sollten bei der Beurteilung der militärischen Lage in der Ukraine nicht glauben, den Ausgang prophezeien zu können, weil wir als Kinder das Brettspiel „Risiko“ (von 1957!) gespielt haben.
Militärexperte Phillips Payson O'Brien weiß, daß Putins Armee schon kurz vor der totalen Kapitulation steht.
[….] SPIEGEL: Wie lange wird es dauern, bis die russischen Truppen kampfunfähig sind, wenn die Verlustrate so hoch bleibt?
O'Brien: Das könnte ziemlich bald der Fall sein. Die Faustregel ist, dass eine Armee kampfunfähig wird, sobald sie mehr als 30 Prozent Verluste erlitten hat. Dann sinkt die Kampfeffizienz normalerweise ziemlich stark. Bei der russischen Armee könnte das aber auch schon früher passieren. Denn sie scheint nicht besonders motiviert und überzeugt vom eigenen Einsatz zu sein. Nach allem, was wir wissen, könnte es bereits jetzt Anzeichen für Kampfunfähigkeit geben. [….]
(SPON, 25.03.2022)
Militärhistoriker Sönke Neitzel erscheint mir sympathisch, weil er beispielsweise sagt, er könne die Bewegungsfähigkeit der russischen Truppen nicht beurteilen und daß es ihn auch überrascht habe, wie schlecht der russische Großangriff geplant war. Einen baldigen Sieg der Ukraine hält er aber für nicht denkbar.
[…..] Neitzel: Allerdings ist keine Streitmacht der Welt wirklich auf einen Krieg vorbereitet. Es laufen immer Dinge schief. Wenn ich der Angreifer bin, muss ich koordinieren, das ist hochkomplex. Man sieht, dass die Russen damit Probleme haben.
SZ: Ein anderes Szenario, über das viel gesprochen wird, ist der Einsatz von Chemiewaffen. Denken Sie, dass Putin zu diesem Mittel greifen wird?
Neitzel: Putin und seine Generäle wollen den Krieg gewinnen, und für sie stellt sich die Frage, was ist dazu militärisch notwendig. Der Druck wird steigen, und ich kann mir schon vorstellen, dass Putin in begrenzter Form in Mariupol Chemiewaffen einsetzt, um die Bevölkerung in Panik zu versetzen und die Ukraine zur Kapitulation zu zwingen.
SZ: Könnte Putin solche Waffen auch einsetzen, um die Nato zu provozieren?
Neitzel: Rational betrachtet kann Putin kein Interesse haben, die Nato irgendwie zu involvieren. Er hat schon genug Schwierigkeiten mit der Ukraine. Er weiß, dass die Nato nicht den großen Krieg führen will und viele Staaten dazu auch gar nicht in der Lage sind, am wenigsten die Deutschen. Putins Ausrichtung wird sein, den Krieg in der Ukraine zu gewinnen. Und dabei ist es ja interessant, dass er bisher eben keine Chemiewaffen eingesetzt hat. Auch jetzt wird noch nicht die volle Macht der Luftwaffe eingesetzt. Russland hat viel mehr Feuerkraft in der Hinterhand. Putin ist noch nicht "All In" gegangen.
SZ: Das spricht ja für eine größere Rationalität auf der russischen Seite, als man vermutet.
Neitzel: Rationalität gibt es auf jeden Fall. Man sollte Putin nicht für verrückt erklären. Er folgt nicht unserer Logik sondern seiner. Wir gehen ja immer davon aus, es gebe keine militärische Lösung eines Konflikts. Doch, die gibt es. Das ist eine der ganz großen Illusionen der deutschen Politik. Putin wird versuchen, diesen Konflikt militärisch zu lösen. Für uns ist das ein Verbrechen, für Putin nicht. [….]
Als Laie kann ich nicht sicher sagen, ob Neitzel oder O'Brien Recht haben.
Aber den Hobbypsychoanalytikern sei gesagt: Wenn Putin tatsächlich vollkommen verrückt ist, können wir uns Säbelrasseln und jede militärische Unterstützung für Kiew sparen, denn dann wird er nicht ruhig und sachlich eine Niederlage akzeptieren, einsehen daß er schwach ist, sondern doch noch die A-, B- und C-Waffen zücken. Das wäre das Ende der Menschheit, also ein Szenario, welches zu durchdenken, höchst unnütz ist.
Den 80 Millionen Hobby-Experten in Deutschland empfehle ich, sich lieber die Ansichten von Fachleuten anzuhören, zu lesen und nicht zu glauben, man könne das selbst alles viel besser beurteilen.
Konzentriert Euch lieber wieder auf Fußball.