Taktisch war es eine Meisterleistung, als Jürgen Trittin im Frühsommer 2010 Gauck aus dem Hut zog und über seinen willigen Helfer Sigmar Gabriel diese Personalie als gemeinsamen Vorschlag der Kanzlerin übermittelte.
Wie man immer wieder hört, hätte Schwarzgelb selbst gerne den konservativen Pfarrer als Kandidaten aufgestellt, aber nun war die Personalie vergiftet.
Es wäre ein Eingeständnis der Schwäche gewesen, wenn die CDU bei der großen Mehrheit in der Bundesversammlung keinen eigenen Mann durchgebracht hätte.
SPD und Grüne wollten Streit in die Koalition tragen und haben das auch erfolgreich geschafft.
Daß Merkel am Ende mit einem blauen Auge davon kam, verdankte sie wieder einmal der Linken und insbesondere Oskar Lafontaine, der immer noch so sehr vom Hass auf die SPD getrieben ist, daß er lieber einen Ostdeutschen als Bundespräsident verhinderte und den durch und durch CDU-geprägten katholischen Partei-Apparatschick Wulff ins Schloß Bellevue einziehen ließ.
Die Linke hätte es natürlich in der Hand gehabt mit ihren Stimmen Gauck im ersten Wahlgang zur absoluten Mehrheit zu verhelfen, Wulff zu verhindern und die CDU-FDP-Koalition schwer zu schädigen.
Seit gestern taktiert Gabriel allein und gab in der Hoffnung die CDU würde der Personalie Gauck niemals zustimmen (weil das als Eingeständnis zu werten wäre, daß Merkel sich 2010 vollkommen falsch verhalten hätte) wieder die Parole „Gauck“ aus.
Pfarrer Joachim Gauck mußte man gar nicht erst fragen; er gilt als derartig eitel und geltungsbedürftig, daß er jeden Job annehmen würde, der ihn ins Rampenlicht katapultiert.
Blöd nur, daß der SPD-Chef nach seiner legendär-dämlichen 2010er Indiskretion (Veröffentlichungen einer privaten Merkel-SMS an ihn) mal wieder die Kanzlerin falsch eingeschätzt hat.
Es sah zwar in der Tat zwei Tage lang so aus, als ob die Kandidatenfrage Zwietracht oder gar Koalitions-TNT ins Kanzleramt trüge, aber natürlich ist Merkel flexibel genug, um mit einer erneuten Kehrtwende ihr Kanzlerschaft zu retten.
Sie hat die Kommentare des Tages verfolgt.
Nachmittag zeichnete sich bereits ab, dass es so einfach doch nicht werden würde. Seit 13 Uhr sitzen die Koalitionsspitzen im Kanzleramt zusammen. Das Ergebnis endet im vorläufigen Debakel. Keine Einigung. Und Zoff an allen Enden.
Als klar wird, dass kein Name beide Seiten gleichermaßen befriedigt, kommen die Präsidien von Union und FDP jeweils zu Telefonschalten zusammen. Für CDU und CSU ist schnell klar: Joachim Gauck geht gar nicht. Nicht nur, weil er 2010 der Kandidat von Rot und Grün war. Sondern auch, weil er die Öffentlichkeit noch mit Positionen überraschen könnte, die nicht in die Zeit passten. Etwa Gaucks ablehnende Haltung gegenüber der Kritik an den Finanzmärkten.
Diesen Tenor der Berichterstattung konnte sie nicht weiter zulassen.
Ergebnis:
Die CDU stimmt nun auch für Gauck und Gabriel sitzt in der Falle.
Nun muß die SPD den Mann auch wählen, wenn sie nicht vollkommen unglaubwürdig sein will.
Nach zehn Männern im Bundespräsidentenamt wird der Elfte also wieder ein Mann sein.
SPD und Grüne halten an der Tradition fest nur dann eine Frau als Kandidatin aufzustellen, wenn sie in Wahrheit keine Chance hat gewählt zu werden. Frauen sollen reine Zählkandidaten bleiben und neben Merkel eine zweite weibliche Person an der Staatsspitze, erschien dann eben doch als zu viel des Guten.
Da haben uns SPD und Grüne ein dickes Ei ins Nest gelegt.
Der frühere Präsidentschaftskandidat Joachim Gauck hat dem Autor des umstrittenen Buches "Deutschland schafft sich ab", Thilo Sarrazin, attestiert, "Mut bewiesen" zu haben. Die politische Klasse könne aus dem Erfolg von Sarrazins Buch lernen.
Gauck, der Sarrazin lobt und die Occupy-Bewegung verachtet, ist Kandidat der SPD!
Im sozialen Netzwerk Facebook etwa wurden mehrere Gruppen gegründet, die sich gegen den Ex-DDR-Bürgerrechtler aussprechen, darunter die Gruppe "Gauck: Nein, danke".
Ein Grund dafür: Gauck hatte sich abfällig über die kapitalismuskritische Occupy-Bewegung geäußert und in einem früheren Interview dem Ex-Bundesbanker Thilo Sarrazin Mut attestiert, als der mit strittigen Äußerungen zur Zuwanderung im Feuer der Kritik stand.
Mit mageren 52-"Gefällt-mir"-Klicks steht diese Gruppe allerdings einer übermächtigen Gruppe "Joachim Gauck als Bundespräsident" gegenüber, die bereits mehr als 26.000 Mitglieder um sich scharen konnte.
Holdger Plattas Anti-Gauck-Text bei „Spiegelfechter“ strotzt zwar vor nicht ernst zu nehmender Klassenkampfrhetorik („Menschenverelendungsgesetzeswerk Hartz-IV“, „Sozialstaatsvernichter“, „alltäglich praktizierte Menschenverachtung namens Hartz-IV“, „Plädoyer für noch mehr Menschenverelendung in diesem Land“ und „mit der Agenda 2010 über Millionen von Menschen in bitterstes Unglück zu stürzen vermochten“), aber die Gauck-Zitate belegen immerhin eindeutig wo Gauck im Spannungsfeld zwischen Finanzindustrie und Sozialstaat zu verorten ist:
Nämlich ganz, ganz rechts und keineswegs an der Seite „des kleinen Mannes“, für den sich Grüne und SPD bei Sonntagsreden so gerne erwärmen.
Am Begriff "Montagsdemonstrationen" bezüglich der Hartz IV-Proteste scheiden sich weiterhin die Geister. Dessen ungeachtet finden heute in etlichen Städten "Montagsdemonstrationen" gegen die Reformvorhaben der Bundesregierung statt.
Der frühere Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen, Joachim Gauck, nannte es "töricht und geschichtsvergessen, wenn der Protest gegen Sozialreformen unter dem Titel Montagsdemonstration stattfindet“.
Joachim Gauck hat die Sozialstaatsverpflichtung der Bundesrepublik gegenüber den Hilfsbedürftigen mit den Worten kritisiert: „Diese Reduzierung des Lebensglücks auf Wohlfahrt und Wohlstand halte ich nicht für kindlich, sondern für kindisch“.
Daß sich die Lobby-Organisation namens FDP für Gauck erwärmt, wundert wenig.
Gauck ist nicht links, er ist konservativ. Und liberal. Er ist ein glasklarer Antikommunist, nennt die Linkspartei reaktionär. Und er ist ein überzeugter Liberaler. Wenn Gauck über Freiheit spricht, dann vor allem die Freiheit vom Staat. Wenn überzeugte Linke von Freiheit reden, dann von der zum Staat. Den Sozialstaat dekliniert Gauck sogar obrigkeitsstaatlich durch. "Wir stellen uns nicht gern die Frage, ob Solidarität und Fürsorglichkeit nicht auch dazu beitragen, uns erschlaffen zu lassen." Oder: ". . . noch bewegt sich Politik in den Bahnen paternalistischen Verteilens", gegen den Gauck die Notwendigkeit für einen "eisernen Willen, eine bislang noch gefürchtete Entschlusskraft" stellt. Es sind sehr konservative, sehr liberale, kurz: neoliberale Sätze. Sätze, die Merkel auf dem Leipziger Parteitag aussprach, von denen, inzwischen wieder nach links in die Mitte gerückt, sie nichts mehr wissen will. Konsequent ist da nur das Lob für Schröders Agenda-Politik. ("Solche Versuche mit Mut brauchen wir heute wieder.")
Joachim Gauck: Ich würde mich glücklich schätzen, wenn ich mit Gewissheit sagen könnte, dass – im Vergleich zu vorhergehenden Generationen – die Zahl derer gestiegen ist, die die Freiheit wirklich schätzen. Manchmal glaube ich es, manchmal bin ich im Zweifel. Wir sind ein Volk, dem die materielle Besitzstandswahrung sehr wichtig ist. Glück – das heißt für viele: Morgen muss es uns materiell besser gehen als heute. Und Unglück ist, wenn das nicht eintritt. Diese Reduzierung des Lebensglücks auf Wohlfahrt und Wohlstand halte ich nicht für kindlich, sondern für kindisch. Es gibt die Sehnsucht nach einer ewigen Beglückung: ein Schlaraffenlandstraum, den Erwachsene träumen. Mancher agierte so unerwachsen und gierig, dass er sich von riskanten Börsenmanövern paradiesische Zustände erhoffte.
WELT ONLINE: Sind die Deutschen vor diesem Hintergrund gut gerüstet für die Herausforderungen und die Zumutungen, die in den kommenden Jahren auf sie zukommen werden? Ist der Drang groß, dann lieber unter den Mantel des Staates zu fliehen?
Gauck: Dieser Drang – das ist das, was wir gut können. Welche Regierung auch immer regiert, es wird an sie Forderung herangetragen werden: Vater Staat, sei väterlich! Wenn man das zu oft fordert, läuft man Gefahr, in den Status des Kindes herabzusinken.
Laut Spiegelfechter handelt es sich dabei um eine wörtliche „Übernahme von Thesen aus den Propagandaschriften der Unternehmer-Organisation „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ (siehe deren Broschüre: „Mehr Freiheit für Eigeninitiative“!)“, die Originalbroschüre der Arbeitgeberlobbyorganisation konnte ich allerdings nicht online finden.
Während die FDP also gerade ausstirbt, hat sie es vermocht auf Basis ihres ein bis zwei Prozent-Umfrage-Status einen Bundespräsidenten durchzudrücken, der so neoliberal redet, wie Westerwelle es stets getan hat.
Wir dürfen uns also auf Warnungen vor der „spätrömischen Dekadenz“ aus dem Schloss Bellevue gefasst machen.
Eine parteipolitische Meisterleistung der FDP; ich zolle ehrlichen Respekt.