Als Karol Wojtyła am 16.10.1978 Papst wurde, war ich natürlich noch zu jung, um andere Kardinäle zu kennen. Ich meine mich dunkel an die Verwunderung über das Zweite Konklave innerhalb weniger Wochen zu erinnern (möglicherweise habe ich mir das meiste davon aber später angelesen.) Ich weiß aber noch, daß in meinem religionsfernen, atheistischen Elternhaus aufgrund „der Polacken“ in unserem Wohnzimmer viel gestaunt wurde. Meine Eltern hatten damals einen großen polnischen Freundeskreis, der ständig anwesend war, was ich toll fand, da die alle immer irgendwas mit uns Kindern spielten. Außerdem veranstalteten sie riesige Koch-Gelage in unserer Küche und zauberten die tollsten Dinge auf den Tisch. Sie waren zwar aus dem polnischen Kommunismus geflohen, aber ebensolche Heiden wie wir; rissen ständig Witzedarüber, nun einen eigenen Papst zu haben. Die Verwunderung über ihn war anfangs enorm, weil er, bevor er 1981 angeschossen wurde, so sagenhaft fit und sportlich war. Er lief Ski, schwamm, lief umher, sprach mit jedem, konnte gefühlt JEDE Sprache. Obwohl ich zu jung war, um mich an Pillen-Paule oder Konzil-Roncalli zu erinnern, begriff ich, wie erstaunlich es war, daß der Pole sich nicht mehr in einer Sänfte tragen ließ und nur mit dem einfachen weißen Deckel, statt der Tiara rumlatschte.
Mein kuriales Interesse erwachte bald. Aber was für ein Pech, daß ich als Sedisvakanz-Fan ausgerechnet mit dem zweitlängsten Pontifikat der Geschichte startete. Siebenundzwanzig Jahre musste ich warten, bis ich mich endlich ausführlich den Nachfolge-Spekulationen der Papabili widmen konnte.
2005 war Ratzinger der Kardinal, den ich am besten kannte, aber ich hatte ihn nicht auf dem Zettel als Nachfolger, weil er Kardinaldekan und Präfekt der Glaubenskongregation war und üblicherweise nicht jemand aus der absoluten Kurienspitze nachrückt. Das gab es in jüngerer Vergangenheit nur einmal, bei Pacelli, der 1939, an seinem 63. Geburtstag von der Nummer Zwei – Kardinalstaatssekretär und als Erzpriester Vermögensverwalter des Petersdoms – zur Nummer Eins, Papst Pius XII, aufrückte. Der Grund lag offensichtlich im anstehenden Weltkrieg und den weltweiten faschistischen Umwälzungen; der Vatikan wollte unbedingt Kontinuität ausstrahlen. Pacelli unterstrich das, indem er Rattis Papstnamen – Pius XI – direkt weiter führte. Pacelli war jung, fit und deutschsprachig, stand Hitler durchaus aufgeschlossen gegenüber, würde also den Konkordatskurs mit den Nazi-Diktatoren lange weiterführen.
Bei Ratzi 2005 war die inhaltliche Übereinstimmung zu seinem Vorgänger ebenso offensichtlich. Anders als Pacelli, war er bei seiner Wahl schon 79 Jahre alt, also ein Papst-Methusalem. Aber das passte nach dem endlosen Pontifikat nur zu gut. Noch einmal fast 30 Jahre würde Ratzinger sicher nicht durchhalten. Es wollten schließlich auch noch ein paar andere Papabili die Möglichkeit haben, Chef zu werden.
Der ranghöchste Mann im roten Kleid heißt gegenwärtig Kardinaldekan und Kardinalbischof Giovanni Battista Kardinal Re, der allerdings mit 91 Jahren wohl deutlich zu alt ist, auch wenn er Franzis Beerdigung noch locker meisterte.
Pacelli und Ratzinger waren also die Ausnahmen der berühmten Regel „wer als Papst das Konklave betritt, verlässt es als Kardinal“ (Die Mächtigen und Favoriten scheitern bei der Wahl zum Papst).
1978 war es eine extreme Sensation, einen Nicht-Italiener zu wählen. Ein Deutscher war 2005 auch immer noch spektakulär.
Aber 2025, nach drei Ausländern in Folge – Luciani, der letzte italienische Papst starb 1978; oder wurde gestorben – zählen Italiener nicht mehr automatisch zu den Favoriten, obwohl sie mit 18 wahlberechtigten Kardinälen immer noch klar die zahlenmäßig größte Gruppe stellen. Aber 18 von 135 sind eben nur noch 13% der Stimmen – weit entfernt von der notwendigen 2/3-Mehrheit.
Nicht nur hat der argentinische Papst generell die Wahl eines Ausländers wahrscheinlicher gemacht; er hat vor allem so viele Peripherie-Bischöfe mit roten Deckeln ausgestattet, daß nationale Allianzen, um einen der ihren durchzubringen, unmöglich sind.
Für einen Italienischen Papst spricht allerdings die Unzufriedenheit der Kurienkardinäle mit Bergoglio, dem es gefiel, die Dikasterien zu beschimpfen und an den Präfekten vorbei zu entscheiden. Das Konsistorium war ihm völlig egal. Ein Italiener könnte die Strukturen wieder stärken und das Chaos beseitigen.
Gegen einen Italiener spricht aber, daß Europa generell rapide an Bedeutung für die katholische Kirche verliert. Die Gläubigen sind hier viel zu liberal; sie treten massenhaft aus. Das könnte auch kein europäischer Papst verhindern; siehe Ratzinger. Es wäre also „Verschwendung,“ Europa im Konklave zu berücksichtigen.
Pierbattista Pizzaballa könnte eine Lösung sein. Er ist zwar Italiener (wie Bergoglio auch!), steht aber als Kardinal und lateinischer Patriarch von Jerusalem für den Knotenpunkt der abrahamitischen Religionen und den vorderasiatischen Raum.
Gegen ihn spricht, daß er erst vor wenigen Tagen, am 21. April, 60 Jahre alt wurde. Das ist noch zu viel Lebenserwartung. Der Mann könnte ohne weiteres 95 werden und damit die Papsthoffnungen aller lebenden Kardinäle pulverisieren.
Bei Bergoglios Wahl 2013 spielte sicherlich eine Rolle, die vielen südamerikanischen Konvertierungen zu Evangelikalen und Pfingstkirchlern zu stoppen. Das funktionierte. Latein-Amerika stellt heute mit 42% die mit Abstand größte Gruppe des Katholizismus.
Ein zweiter Südamerikaner in Folge gilt aber als unwahrscheinlich, weil die RKK nun einmal eine Weltkirche ist und sich andere Regionen vernachlässigt fühlen könnten.
Ein afrikanischer Papst wäre strategisch sinnvoll, da die RKK dort am meisten zulegt. Die Zukunft des Katholizismus liegt im Subsahara-Raum. Ein afrikanischer Papst gilt aber dennoch als nahezu ausgeschlossen, weil die entsprechenden Kardinäle alle ultrakonservativ sind und zweifellos den Kurs des Katholizismus deutlich misogyner und homophober gestalten würden. Das gäbe aber Ärger auf anderen Kontinenten. Entsprechendes gilt für nordamerikanische Kardinäle. Dunkelkatholiban wie David Berger plädieren lautstark für die Trump/Bannon-Fans Dolan oder Burke, die radikal gegen alles Queere vorgehen. Genau deshalb halte ich ihre Chancen aber für minimal, zumal es in der Globalisierung schlecht ankäme, ausgerechnet jemanden aus dem reichsten Land mit der reichsten Kirchen zu erwählen.
Meines Erachtens läuft es auf einen asiatischen oder ozeanischen Papst hinaus. Allerdings schließe ich mich der Binsenweisheit an, daß alle Prognosen unseriös sind; insbesondere weil sich die Peripherie-Kardinäle gar nicht kennen und sich erst im Vor-Konsistorium beschnuppern müssen, während sie von den ultrarechten Schwulenhassern, wie Müller, Burke, Dolan, Brandmüller, Sarah und Erdö heftig bearbeitet werden.
[….] Als ehemaliger Chef der Glaubenskongregation unter Papst Benedikt XVI. ist Müller bis heute international gefragt – auch wenn Franziskus ihn aufs Abstellgleis umgeleitet hatte.
In gleich zwei Interviews mit großen italienischen Zeitungen stellt er kurz und knapp klar: „Es ist ein Kapitel in der Geschichte der Kirche abgeschlossen.“ Ein Kapitel, das „in einigen Momenten etwas zweideutig“ gewesen sei; das war für Müllers Verhältnisse zurückhaltend formuliert. [….] Er erwarte vom neuen Papst entsprechende Kurskorrekturen. „Die Stärke der Kirche liegt in der Wahrheit, nicht in Kompromissen.“ Und wer von den Kollegen es noch nicht verstanden haben sollte, dem gab Müller auch eine klare Empfehlung: „Alle müssen sich daran erinnern, dass wir der mystische Leib Christi sind und nicht eine internationale humanitäre und soziale Organisation.“
Für die Mehrheit der deutschen Bischöfe spricht er da nicht und auch nicht für seinen Kardinals-Bruder Marx. [….] Er erhoffe sich auch als nächsten Papst eine mutige, glaubwürdige und kommunikative Persönlichkeit – damit setzte Marx im Gespräch mit deutschen Journalisten andere Prioritäten als Müller. „Die Menschen sehnen sich nach einer Stimme über die nationalen Interessen hinaus“, so der Kardinal weiter. [….] Marx wird in diesen Tagen in Rom gelegentlich als „Königsmacher“ bezeichnet, was er nur halbherzig dementiert mit den Worten, es werde ja gar kein König gewählt. Wie der Zufall so spielt, wurde er zu einem der drei Stellvertreter des Kardinalkämmerers Kevin Farrell bei der Vorbereitung des Konklaves gewählt. Als er direkt nach der Beerdigung von Franziskus zu einem Gottesdienst nach München reisen musste, kam er anschließend umgehend wieder nach Rom, um nur kein Treffen mit den Brüdern Kardinälen zu verpassen. Marx weiß, dass es jetzt ums Ganze geht. Besonders heftiger Widerspruch kommt aus Afrika, wo viele Bischöfe Franziskus beim Thema Segnung für Homosexuelle offen die Gefolgschaft verweigert hatten, und vor allem aus den USA. [….] Traditionalisten bezeichneten Franziskus’ Kurs als gefährlichen Irrweg und kritisierten, dass er Gläubige verunsichere. Schwerreiche US-Stiftungen sollen seit Langem hinter den Kulissen gegen Franziskus intrigieren und versuchen, potenzielle Nachfolger in Stellung zu bringen. Erst recht im Lager von Donald Trumps Maga-Bewegung, „Make America Great Again“, ist die Stimmung aufgeheizt. Dort gab es regelrecht Begeisterung über den Tod von Franziskus, der teilweise als „illegitimer Papst“ bezeichnet wurde. „Das Böse wird durch Gottes Hand besiegt“, postete die republikanische Kongressabgeordnete Marjorie Taylor Greene auf X. [….]
Es stimmt schon noch; das Konklave ist schwer einzuschätzen. Wer hätte gedacht, daß sich so ungeniert wieder Kinderfi**er präsentieren, kaum daß Franzl in der Kiste ist!
[….] Als Juan Luis Cipriani Thorne vergangene Woche an den Sarg des verstorbenen Papstes Franziskus trat, dürften so manche Anwesende die Luft angehalten haben. Der Grund war Ciprianis Aufzug: Er trug eine schwarze Soutane, darüber eine rote Schärpe, einen Pileolus und ein Brustkreuz – das klassische Gewand samt Accessoires eines Kardinals. Dabei hatte Franziskus selbst einst Cipriani verboten, diese Kleidung anzulegen.
Gegen den gebürtigen Peruaner waren massive Vorwürfe erhoben worden. Im August 2018 schrieb ein mutmaßliches Opfer einen Brief an Papst Franziskus. Darin schilderte es, wie es 1983 im Alter von 17 Jahren von Cipriani missbraucht worden sein soll. [….] Er gehört der erzreaktionären Gemeinschaft Opus Dei an und ist deren erster Kardinal.
Franziskus nahm die 2018 in dem Brief erhobenen Anschuldigungen ernst und verhängte ein Jahr später Strafmaßnahmen gegen Cipriani. Er wurde angewiesen, seine Heimat Peru zu verlassen und seinen Wohnsitz ins Ausland zu verlegen. Zudem verbot ihm Franziskus, in seiner Kardinalsrobe und mit Kardinalsinsignien aufzutreten, priesterliche Tätigkeiten auszuüben oder öffentliche Erklärungen abzugeben. Und: Cipriani wurde von der Teilnahme an künftigen Konklaven ausgeschlossen. [….] [….] Im Januar 2025, nach dem Bericht der spanischen Zeitung, bestätigte der Vatikan, dass Cipriani nach seinem Rücktritt als Erzbischof von Lima »eine Strafvorschrift mit einer Reihe von Disziplinarmaßnahmen in Bezug auf seine öffentliche Tätigkeit, seinen Wohnsitz und die Verwendung von Insignien auferlegt« worden sei. [….] Für Cipriani scheint eine solche Ausnahme nun gekommen zu sein: Medienberichten zufolge wurde er in den vergangenen Tagen mehrfach in Kardinalsmontur im Vatikan gesichtet. Derart gekleidet erschien er zum Beispiel am 24. April im Petersdom, um Franziskus vor dessen Beerdigung die letzte Ehre zu erweisen. Ebenfalls im Kardinalsgewand kam er zu einer Vesper für Franziskus in der Basilika Santa Maria Maggiore, wo der verstorbene Papst begraben liegt. [….] Beobachter spekulieren zudem, dass durch Ciprianis Anwesenheit das Lager der konservativen Kardinäle , die viele von Franziskus’ Öffnungsversuchen der Kirche rückabwickeln wollen, gestärkt werden könnte. Cipriani ist etwa erklärter Gegner der sogenannten Befreiungstheologie, einer in Lateinamerika entstandenen christlichen Theorie, die sich als »Stimme der Armen« versteht und sich für ein Ende von Ausbeutung, Entrechtung und Unterdrückung einsetzen will. Franziskus stand der Befreiungstheologie offen gegenüber. [….] Es ist nicht das erste Mal, dass sich Cipriani einer päpstlichen Strafmaßnahme entzieht: Anfang dieses Jahres reiste er – trotz Verbot – nach Peru. Der dortige Bürgermeister, wie Cipriani Mitglied bei Opus Dei, verlieh dem verbannten Kardinal eine besondere Auszeichnung: den höchsten Verdienstorden der peruanischen Hauptstadt. [….]