Mittwoch, 9. November 2022

Minimalerleichterung

Wenn das gesamte House einer 330-Millionen-Nation, dazu Dutzende US-Senatoren und Gouverneure neu gewählt werden, haben die Spin-Doktoren der schwächeren Partei genügend Material, um sich auch zum Sieger zu erklären.

Es wird noch gezählt, aber nach bisherigem Stand ergaben die gestrigen Midterms in den USA den Verlust der demokratischen House-Mehrheit und ein weiter bestehendes Patt im Senat. Die Rechten feiern sich natürlich für ihre Erfolge, aber die verschwindende Minderheit innerhalb der GOP, die keine Trumpster und keine Anhänger der Big Lie sind, kann aus dem Ergebnis herauslesen, daß die Radikalität der Ultra-MAGA-Kandidaten eher geschadet hat. Man sollte also zukünftig lieber auf gemäßigtere Kräfte setzen, die nicht die Demokratie abschaffen wollen.

Gerade eine sehr knappe rechte Mehrheit, würde aber den Einfluss der Extrem-Trumper, die Fauci und Biden einsperren wollen, verstärken.

[….] Bei dieser Wahl hat sich Trump jedenfalls aus meiner Sicht als Hypothek für die Republikaner erwiesen. Eigentlich müsste die Partei das Ergebnis der Midterms zum Anlass nehmen, einen Reformprozess in Gang zu setzen, um das Phänomen Trump zu überwinden. Allerdings könnte eine womöglich knappe Mehrheit im Repräsentantenhaus genau das Gegenteil bewirken. Sie könnte dazu führen, dass die Republikaner sich weiter radikalisieren. Denn eine knappe Mehrheit verschafft den Lauten eine größere Bühne.  [….]

(Michael Link, FDP, 09.11.2022)

Das optimistischste Narrativ der Liberalen geht so:

Bei Zwischenwahlen verliert immer die Partei, die zwei Jahre zuvor die Präsidentschaftswahl gewann („Checks an Balance“). Biden ist sehr alt und sehr unbeliebt. Die US-Amerikaner leiden unter enormer Inflation und hohen Energiepreisen. Man hatte also einen Durchmarsch der Republikaner erwartet, Pelosi würde ihren Posten los, Kevin McCarthy könnte mit einer breiten MAGA-Mehrheit schalten wie er wolle. Das Weiße Haus wäre die nächsten zwei Jahre gelähmt. Verglichen mit dem Worst-Case-Szenario, ist man gut davon gekommen. Möglicherweise hält die demokratische Senatsmehrheit ganz knapp und die GOP-Mehrheit im House ist geringer als gedacht. Der neue rechte Speaker wird Probleme bekommen, zu jeder Abstimmung die absolute Mehrheit zusammenzubekommen. Die Republikaner werden auch weiterhin die Mehrheit der mächtigen US-Gouverneure stellen, aber immerhin in den beiden Zwergstaaten Maryland und Massachusetts konnten Demokraten einen GOP-Gouverneur verdrängen.

[….]  Die Republikaner haben ihren Traum von der »roten Welle« bei dieser Wahl nicht erfüllen können. Selbst wenn sie am Ende das Repräsentantenhaus mit einer knappen Mehrheit übernehmen, fühlt sich dieser Erfolg nicht wie ein Sieg an. Eher wie eine Ohrfeige. Denn üblicherweise sind die ersten Kongresswahlen nach der Amtsübernahme eines Präsidenten für die Opposition ein Selbstläufer. Bill Clinton, Barack Obama oder auch Donald Trump können das bestätigen. Meist verliert die Partei des Amtsinhabers etliche Sitze im Kongress, weil sie ihre großen Versprechungen aus dem Wahlkampf nicht so schnell erfüllen kann. Die Republikaner haben diesen Effekt gegen Joe Biden praktisch kaum für sich nutzen können. Ihre Zugewinne bleiben nach Lage der Dinge eher bescheiden. Biden kam recht glimpflich davon.  [….]

(Roland Nelles, SPON, 09.11.2022)

Das pessimistischere linke Narrativ, dem ich zugeneigt bin, lautet:

Joe Biden mag unbeliebt sein, aber er hat erstaunlich viel durchgesetzt bekommen. Er ist effektiv. Seit Jahrzehnten wurden nicht so viele Jobs geschaffen. Der republikanischen Angriffe auf Gewaltenteilung, freie Presse, Frauen- und Minderheitenrechte, die schiere Kriminalität und offenkundige Totalverblödung von rund 300 handverlesener Trump-Kandidaten, macht sie völlig unwählbar. Dr. Oz, Kari Lake, MTG, Boebert, Hershel Walker hätten in einer Nation mit funktionierendem Bildungssystem keine einzige Stimme bekommen dürfen.

Offenkundig ist das US-amerikanische Volk insgesamt geistig zu degeneriert für die Demokratie.

Man kann doch nicht den dreist lügenden Homohasser Ron Desantis mit 20% Vorsprung als Gouverneur wiederwählen. Man kann doch insbesondere dann nicht die Gouverneure Kemp und Abbott klar wiederwählen, wenn mit Stacey Abrams (Georgia) und Beto O’Rouke (Texas) großartige und prominente demokratische Alternativen auf dem Wahlzettel stehen.

Unfassbar, aber in Georgia gibt es schon wieder eine Stichwahl. Es wird die vierte Wahl für US-Senator Raphael Warnock innerhalb von zwei Jahren  - US-Senatoren amtieren sechs Jahre. Und das gegen einen Trumpianer, der nicht nur lügt wie gedruckt, sondern ganz offensichtlich nicht nur dumm und ungebildet, sondern am Rande des Schwachsinns agiert.

Das macht aber nichts, weil die frommen Christen in Georgia eben nicht fromme Christen wählen – Warnock ist hochrangiger Baptisten-Pastor – sondern von Hass und Vorurteilen zerfressen, denjenigen bevorzugen, der gegen andere Menschen hetzt. Einwanderer, Liberale, Frauen, Schwule.

[….]  Dazu hat Donald Trump wesentlich beigetragen. An den Parteiorganen vorbei hatte er den einstigen Football-Star Herschel Walker als Kandidaten aufgebaut, was die Wahl in Georgia zu einem Testfall für seine Macht werden ließ. Und zu was für einem: Herschel Walker lieferte Negativschlagzeilen im Stundenrhythmus. Unter anderem log der angebliche konservative Familienmann über seine zahlreichen unehelichen Kinder und über Abtreibungen, die er einer früheren Bettgefährtin bezahlt hatte. Sollte Walker nun in Georgia verlieren, wäre das eine verheerende Niederlage für Donald Trump, dessen Senatskandidaten auch in Pennsylvania und Arizona schlechter abschnitten als erwartet. [….]

(Fabian Fellmann, 09.11.2022)



 Während die radikalste Verschwörungstheoretikerin und hochgefährliche Hetzerin Marjorie Taylor Greene in Georgia mit unfassbaren 2/3 der Stimmen wiedergewählt wurde, könnte ihre größte Konkurrentin Lauren Boebert ihren Sitz im Kongress verlieren.



Es scheint offensichtlich: Die GOP hätte größere Wahlchancen, wenn sie sich von Trump löst. Das hätte spätestens am 06.01.2021 unbedingt passieren müssen, aber die Abgeordneten und die Parteiführung waren zu feige und moralisch zu verkommen. Sie wollten nicht wie Kinzinger und Cheney ihre Posten riskieren und sie wollten das Geld, das Trumps Auftritte in die Kasse spülen. Demokratie und Verfassungstreue schien ihnen nicht schützenswert zu sein.

Wären die GOer lernfähig und verfügten über Restanstand, hätten sie Trump im Januar 2021 impeached, sich von ihm befreit, die Ehre der Partei gerettet und ihn damit auch davon ausgeschlossen, erneut zu kandidieren.

Zwei Jahre später scheint immer klarer zu werden, daß Trump für die GOP eine Wahlkampfbürde ist, daß sie mit seiner (extrem wahrscheinlichen) Präsidentschaftskandidatur 2024 schlechtere Chancen haben, das Weiße Haus zurück zu erobern, als mit einem Jahrzehnte jüngeren und weniger irren Mann wie Desantis, der aber moralisch genauso verkommen und politisch genauso rechtsextrem wie IQ45 ist.

Trump wird aber nicht freiwillig gehen, weil sein Ego alles überstrahlt und er so viele staatsanwaltschaftliche Ermittlungen gegen sich hat, daß er glaubt, nur mit Präsidentieller Immunität dem Knast zu entkommen.

Ich glaube nicht daran, daß McConnell, McCarthy, Cruz und Graham über so viel Rückgrat verfügen, nach Mar A Lago zu fliegen und sich gegen Trump stellen.

Selbst wenn sie das täten, würde der orange geschminkte Soziopath das keinesfalls akzeptieren, sondern eine beispiellose innerparteiliche Schlammschlacht beginnen. Schon heute drohte er Schmutzkampagnen an, um Desantis zu stürzen, sollte dieser es wagen, sich gegen ihn zu stellen. Das Szenario einer GOP im innerparteilichen Totalchaos, könnte die Wähler abschrecken und den Demokraten 2024 helfen.

Das wissen auch die mächtigen Republikaner und daher werden sie sich auch nicht mit ihrem doppelimpeachten Messias anlegen.

Es ist aber ein Dilemma, denn republikanische Strategen werden auch sehen, daß der 44-Jährige Gouverneur, der mit einem Erdrutschsieg den extrem wichtigen Swingstate Florida erneut gewann, höchstwahrscheinlich beste Chancen hätte, gegen den dann 81-Jährigen Biden, der aber wie 101 wirkt, zu gewinnen.