Es gibt einen extrem breiten Konsens von Linkspartei bis CSU, also außer der AfD. In nahezu der gesamten veröffentlichten Meinung, also außer den rechtsextrem Blogs. Dieser Konsens lautet: Russland darf nicht gewinnen; die Ukraine darf nicht verlieren.
Warum eigentlich?
Selbstverständlich wünsche ich mir aus moralischen und humanistischen Gründen auch keinen Sieg des Aggressors Putin. Aber wie viele Menschenleben ist mir die Erfüllung dieses Wunsches wert? Sollen dafür nicht nur wie bisher hunderte und tausende Ukrainer sterben, sondern vielleicht auch Myriaden? Hunderttausend?
Was soll ein Kampf bis zum bitteren Ende, wie es die auf einmal so waffenverliebten Grünen fordern, wenn der Gegner durch seine atomare Übermacht nicht zu besiegen ist?
[….] Der Philosoph Richard David Precht erntete dagegen einen Shitstorm für die Aussage: "Natürlich hat die Ukraine ein Recht auf Selbstverteidigung, aber auch die Pflicht zur Klugheit, wenn man sich ergeben muss." [….] Precht aber, wie es in den sozialen Medien vielfach geschah, "Appeasement" vorzuwerfen, so als habe man es bei Putin mit einem neuen Hitler zu tun, ist geschichtsvergessen. Viele meiner linken Freunde bringen dagegen den Kampf gegen die Faschisten im Spanischen Bürgerkrieg vor, der doch nichts anderes gewesen sei als Verteidigung. Nicht eingepreist in dieses Argument ist die Tatsache, dass wir nicht mehr in den 1930er-Jahren leben, sondern im Atomwaffenzeitalter, in dem es nur Minuten braucht, um ganze Städte dem Erdboden gleich zu machen. […..]
Der Schriftsteller Christian Baron hat da einen validen Punkt. Denn gerade diejenigen, die sich so vehement dafür einsetzen, die Ukraine mit allen militärischen Mitteln zu unterstützen, da man Putins Expansionspläne unbedingt ernst nehmen müsse, nehmen russische Atomwaffendrohungen paradoxerweise gar nicht ernst.
[….] Nun besagt ein beliebtes Argument für ein militärisches Eingreifen der Nato, Putins offene Drohung mit Atomwaffen sei nicht ernst zu nehmen, weil er niemals so weit gehen würde. Solche Sätze höre ich von Menschen, die unter anderem mir vorwerfen, ich hätte Putin schon immer verharmlost. Was denn nun? Ich jedenfalls traue dem russischen Präsidenten nach dem Überfall auf die Ukraine alles zu, und ich möchte nicht, dass irgendwer in meinem Namen das Risiko eines Dritten Weltkriegs eingeht. […..]
Auf einmal finde ich mich in den Totschlagargumentationen meiner frühen Teenagerzeit aus dem Politik und Gemeinschaftskunde-Unterricht wieder.
Die Konfrontationslinien verliefen zwischen den Pershing-II-affinen Typen, die in der JU aktiv waren und „lieber tot als rot“ proklamierten und den Friedensbewegten, die nicht noch mehr Atomraketen wollten und sich zwar nicht begeistert, aber doch im Sinne des kleineren Übels für „lieber rot als tot“ einsetzten.
Die programmatische Unterstützung holten wir uns aus den damals sehr populären Schriften des norwegischen Mathematikers und Friedensforschers Johann Galtung. Frieden schaffen mit friedlichen Mitteln. Der einrückenden roten Armee der Sowjetunion würde man nicht mit atomaren Pershing-Sprengköpfen gen Moskau antworten. Man würde sich auch nicht den Rotarmisten mit einem Maschinengewehr in den Weg stellen. Stattdessen würde man passiv Widerstand leisten, indem niemand mit den Besatzern zusammenarbeitet. Aber das ist scheinbar alles vergessen
[….] Sind Freiheit, Demokratie, Rechtsstaat es wert, für sie zu sterben? Gibt es für das Individuum etwas Größeres, dessen „Verteidigung“ wichtiger sein kann als das eigene Leben? Ist der Tod nicht die größte Katastrophe für einen Menschen, die nicht dadurch kleiner wird, dass man tatsächlich oder vermeintlich „für“ andere stirbt? Oder, wie es im Kalten Krieg polemisch verkürzt wurde: Ist es nicht besser, rot als tot zu sein? Die Frage, ob man sich zu Ungunsten des Individuums, aber zu Gunsten des großen Ganzen wehren sollte, auch in scheinbar aussichtslosen Situationen, wird mit „ja“ beantwortet, wenn es den Glauben an ein großes Ganzes gibt. Das mag die Nation sein, ein Gott oder höhere Wesen, etwas Politisch-Metaphysisches wie eine Ideologie sowie eine Mischung aus mehreren dieser Gefühls- und Gedankenkonstrukte. [….]
Da ich weder nationalistisch, noch religiös denke, liegt mir in der Tat das individuelle Überleben näher. Für ein Land oder einen Gott will ich jedenfalls nicht sterben. Dabei ist mein eigenes Weiterleben noch vergleichsweise irrelevant. Ich bin schon älter, habe keine Kinder. Aber ich sehe es einfach nicht gern, wenn in Charkiw oder Mariupol Tausende Menschen sterben. Ich bin zwar Antinatalist und halte die Erde für hoffnungslos überbevölkert, aber eben gerade nicht, weil ich das einzelne Individuum verachte, sondern weil ich eben nicht akzeptieren kann, daß jeden Tag Myriaden Kinder elend verhungern oder in Verteilungskriegen umgebracht werden. Ich bin sehr dafür, sich nicht zu vermehren, aber sehr dagegen, sich aktiv zu dezimieren.
Natürlich wäre es naiv, vollkommen auf NATO und Bundeswehr zu verzichten, weil die Jesiden vor dem IS oder die Bosniaken vor Ratko Mladićs serbischer Armee nur mit Waffengewalt gerettet werden konnten.
UN-Blauhelm-Einsätze müssen bewaffnet sein und retten Leben. Aber eine Atommacht, die gewillt ist ihr Arsenal zu verwenden, ist nicht, oder nur um den Preis der totalen Vernichtung der Menschheit aufzuhalten.
Joe Biden und Olaf Scholz haben vollkommen Recht, das zu erkennen und aus diesem Grund eben nicht die NATO der russischen Armee entgegen zu stellen.
Wir sollten uns den Krieg in der Ukraine nicht pathetisch so hinschwurbeln, als wäre er ein Konflikt zwischen zwei konventionellen Mittelmächten, in dem die uns Sympathischere schon gewinnen wird, wenn sie sich nur ordentlich anstrengt und wir ordentlich mithelfen, indem wir alle Panzer rüber schicken, die noch in Bundeswehrdepots lagern.
[….] „Unsere Wehrhaftigkeit entscheidet unsere Sicherheit.“ Zwar fehlt in diesem Satz das Wörtchen „über“, aber trotz der eigenwilligen Grammatik stammt er nicht von Franz Josef Strauß aus den Sechzigerjahren. Es hat ihn auch kein kinnkantiger Heeresgeneral mit goldener Fallschirmjägerschwinge an der Uniform gesprochen. Nein, gesagt hat ihn Außenministerin Annalena Baerbock, [….] Wehrhaftigkeit also. Nicht erst seitdem Baerbock Außenministerin geworden ist, gehört sie zu den herausragenden Vertreterinnen der Rhetorik der empathischen Entschiedenheit, die ein Kennzeichen der mittleren Politikgeneration gerade bei Grün und SPD-Rot ist. Die Rhetorik der empathischen Entschiedenheit soll zweierlei vermitteln:
1) Ich weiß, was ich will.
2) Ich spreche für euch (häufigere Erwähnung von Kindern und ihren Fragen, immer wieder Verwendung der Personal- und Possessivpronomina der ersten Person Plural, also „wir“ und „unsere“). Wehrhaftigkeit, sagte Baerbock, sei für sie der Wille und die Fähigkeit zur Verteidigung. [….]
In Deutschland sind amerikanische Atomwaffen stationiert. Unser Nachbar Frankreich ist Atommacht. Die NATO-Strategie der „flexible Response“ behält sich den westlichen Ersteinsatz von Atomwaffen für den Fall eines übermächtigen Russischen Angriffs mit einer konventionellen Armee vor. Konventionell bedeutet, daß Putin zwar thermobarische und Hyperschall-Horrorwaffen mit enormer Vernichtungskraft einsetzte, aber atomare, biologische und chemische Waffen zu Hause ließe.
Die Strategie der atomaren Abschreckung funktioniert natürlich nur, wenn beide Seiten ernsthaft einkalkulieren, der Gegner würde seine Atomwaffen im Zweifelsfall tatsächlich einsetzen.
Annalena Baerbock folgend mit empathischen Entschiedenheit die eigene Wehrhaftigkeit zu preisen oder wie der altlinke Anton Hofreiter gegen den Bundeskanzler zu poltern, da dieser nicht schnell genug schwere Waffen in die Ukraine genehmige, bedeutet auch die atomare Abschreckung zu sabotieren, weil damit suggeriert wird, ein großer konventioneller Krieg zwischen den alten Blöcken wäre in irgendeiner Form möglich und würde nicht zur totalen Vernichtung der Menschheit führen.
Ist das so schlau, a) durchblicken zu lassen, daß die NATO ohnehin keine Atomwaffen einsetze und b) zu glauben, Russland täte das ebenfalls nicht?
In dem Fall können wir die Strategie der atomaren Abschreckung gleich vergessen.
Und was heißt das im Folgeschluss? Ein europaweiter Krieg wie der WKII, aber mit noch viel tödlicheren Waffen ist wieder möglich? Will man das? Mit dann nicht 60 Millionen Toten wie 1945, sondern 160 oder 260 Millionen Toten?
Da grabe ich lieber meine Galtung-Bücher wieder aus.