Bei meiner deutschen Oma gab es zum Frühstück ein „Rundstück“;
so nennt man Brötchen in Hamburg. Damals waren es natürlich noch durch
Handarbeit hergestellte Backwaren, die so ausgezeichnet schmeckten, daß man
sich immer darauf freute und keine aus China importieren Tiefkühlteiglinge, die
kurz über eine industrielle Backstraße gewandert waren.
Frau Sommer, die Haushälterin hatte die Rundstücke schon in
der Küche der Länge nach mit zwei sauberen Schnitten in drei Teile portioniert.
Am Frühstückstisch hatten wir nämlich nur Buttermesser. Bei der
Besteckverwendung herrschten strenge Regeln – „nie eine Kartoffel mit dem
Messer schneiden!“
Der begehrteste Part des Rundstücks war das weiche Mittelstück.
Das ich üblicherweise bekam, weil ich ein Kind und der Lieblingsenkel war.
Meine Oma aß gern das obere Drittel, weil es leicht kross war.
Einige bevorzugten aber auch das kräftigere Unterteil.
Gern erzählte Oma die Geschichte eines glücklichen Ehepaars
am Tag der goldenen Hochzeit. Die Frau hatte ihm jeden Tag das Mittelstück
überlassen und nach einem halben Jahrhundert nahm er sich das Herz ihr zu
gestehen, wie wenig er den wabbeligen Part mochte und er auch mal die knusprige
Brötchenkruste haben wolle.
Die Frau fiel aus allen Wolken, weil sie die Kruste nicht
ausstehen konnte und 50 Jahre aus Liebe zu ihm nur Ober- und Unterteil des
Rundstücks gegessen hatte – in dem Glauben, er möge das Mittelteil am Liebsten.
Diese Geschichte gibt es in unzähligen Varianten.
Da ist die Ehefrau, die auf dem Sterbebett gesteht, wie sehr
sie sich all die Jahrzehnte quälte ihrem geliebten Gatten freitags Fisch zu
kochen, aber es aus Liebe zu ihm gern getan hätte. Er bricht weinend zusammen,
weil er Fisch schon immer hasste, ihn all die Zeit nur aus Höflichkeit aß, in
der Annahme, seine Frau koche den so gern.
Meine Großtante war Paartherapeutin und trug aus ihrer
Praxis weitere Varianten dieser über Dekaden anhaltenden Missverständnisse aus
dem Schlafzimmer bei, die ich hier aus Gründen des Taktes nicht aufschreiben
kann.
Man kann sich aber mit etwas Phantasie ausdenken, wie aus
Zuneigung, Unsicherheit und mit ein paar kleinen Lügen aus Höflichkeit die
groteskesten Missverständnisse im Laufe eines Paar- oder Familienlebens
entstehen.
Wenn jemand, den man sehr liebt den ganzen Tag in der Küche
steht, sich große Mühe gibt und dann irgendetwas Scheußliches fabriziert, sagt
man der Person natürlich üblicherweise nicht ins Gesicht, wenn es einem gar
nicht schmeckt.
(Glücklicherweise kam ich nie in die Verlegenheit, weil ich
Single bin. Als Jugendlicher hatte ich das Problem schon gar nicht, da meine
Mutter eine sensationelle Köchin war, die besser abschmecken konnte als jeder
andere. Noch heute staune ich bei einigen einfachen Rezepten, die ich genau
kenne, daß ich nicht den besonderen Geschmack hinbekomme, den meine
Mutter hineinzauberte. Möglicherweise spielt auch Psychologie eine kleine Rolle.)
Höflichkeitslügen gehören zu einem friedlichen Zusammenleben
dazu.
Wenn der Arbeitskollege oder die Käseverkäuferin einen dicken
Pickel auf der Stirn hat, deutet man nicht drauf und sagt „Ih, der Pickel ist
aber ekelig!“, auch wenn man es natürlich denkt.
Man lobt die neue Frisur etwas überschwänglicher als
notwendig, freut sich offensichtlich über einen eher langweiligen Blumenstrauß
und übertreibt ein wenig die Talente des anderen.
Diese kleinen Alltagslügen sind absolut notwendig, sollten
aber einigermaßen austariert bleiben. Man erlebt das bei Castingshows, wenn
vollkommen talentlose Teenager ohne Rhythmusgefühl einer Jury vorsingen, der
nach wenigen Takten die Ohren bluten. In der Regel sind in solchen Fällen die
Eltern Schuld, die ihr Kind kontinuierlich so übertrieben lobten, daß es am
Ende selbst glaubt ein Jahrhunderttalent zu sein.
Außerdem sind kleine Lügen hervorragend geeignet, um Geld zu
verdienen. Die Boutique-Besitzerin lobt natürlich die Kundin in dem drei
Nummern zu kleinen grotesken Kleid, das sie aussehen lässt wie eine Presswurst,
wenn sie dringend Kleider verkaufen muss, um ihre Miete zu bezahlen.
Schönheitschirurgen preisten den natürlichen Look ihrer
Patienten, wenn diese schon längst als Zombi-Memes durchs Internet kursieren.
Erste Grundregel für alle Prostituierten ist es dem Freier
glaubhaft zu versichern, er habe einen wirklich
außergewöhnlich großen Penis und wäre besser als alle anderen, die sie sonst im
Bett habe.
Warum auch nicht; das gehört zu dem Geschäft dazu.
In längeren Beziehungen können sich die höflichen Lügen allerdings
auch verselbstständigen bis am Ende niemand mehr weiß wie sie entstanden sind
und alle nur noch leiden.
Das kann schwierig werden, da aus einigen kleinen Lügen in
der Summe eine ganz große Lüge wurde. Man hat sich festgelogen und kommt nicht
mehr los davon; jedenfalls nicht nach der langen Zeit.
Geht es nur um das Rundstück-Oberteil, kann man sich mit
Humor befreien.
Aber was ist, wenn man nicht nur das Brötchen-Drittel in
Wahrheit nicht mag, sondern eigentlich den Partner nicht ausstehen kann?
Wie erklärt man das? Erklärt das der Umwelt, den Kindern?
Monika Gruber sagt in einer ihrer Bühnenprogramme „jede Frau
kommt in ihrem Leben zu dem Punkt, an dem man mit seinem Mann auf der Couch
sitzt, zu ihm rüber blickt und plötzlich weiß ‚scheiße, ich bin mit einem
Deppen verheiratet‘!“
Ich glaube der republikanischen Partei, oder zumindest den
winzigen Rudimenten, die noch mit Restanstand behaftet sind, wird es mit Donald
Trump ähnlich gegangen sein.
Klar, das war 2016 ein Windei, der ordentlich übertrieb,
gelegentlich flunkerte, aber als er schließlich die anderen GOPer ausgestochen
hatte, musste man ihn ja unterstützen. Es durfte ja nicht Hillary Clinton
gewinnen. Als erste Amtshandlung kam zwar diese reichlich dicke
Crowd-Size-Lüge, aber das war eben der Lackmustest, an dem sich zeigte, daß die
Konservativen geschlossen zusammenstehen müssen, wenn die liberale Presse sich
echauffiert.
Es ist ja schließlich der Anfang der Präsidentschaft, wir
wollen endlich die Steuern für die Unternehmer senken und einen Rechten auf den
vakanten Supreme-Court-Sitz setzen; da hält man Trump bei Laune und fällt ihm
nicht gleich als Erstes in den Rücken.
OK; es ist nicht gerade elegant Kinder und Schwiegerkinder
auf die Topppositionen im Weißen Haus zu setzen, aber Donald ist nun mal kein
Profi-Politiker, sondern Maverick, ein Outsider; dem muss man etwas Spielraum
geben.
So gewöhnte man sich langsam daran die Augen zuzudrücken,
wegzuhören, wenn rassistische Seitenhiebe kamen, entwickelte Routine darin mal
Fünfe gerade sein zu lassen.
Allerdings blieb es nicht dabei, daß Trump das Mittelteil
des Rundstücks wollte, das man ihm aus Liebe zur Partei und zur Regentschaft
gern gab.
Er log immer dreister, immer schneller und immer
gefährlicher.
So trieben sich Medien und Republikaner derartig tief in den
moralischen Abgrund, daß sie nun nicht mehr ausstiegen können, ohne ihre
dramatische Mitschuld zu gestehen.
Nach 12.000 belegten Lügen –
[….] President
Trump has made 12,019 false or misleading claims over 928 days [….]
…..stellt sich Kayleigh McEnany, die schon vor drei Jahren log und hetzte, daß sich die Balken bogen
und dafür mittlerweile zu Trumps Wiederwahlkampagnen-Managerin 2020 aufstieg,
dem fassungslosen Chris Cuomo auf CNN und behauptet immer wieder NO, I DON’T BELIEVE THE PRESIDENT HAS EVER LIED!
Wie soll man von dem Baum wieder runterkommen?
Wenn man nach drei Jahren so weit ist einen Präsidenten zu
lobpreisen, der sich wie ein hysterisches Kleinkind verhält, kann man schlecht
noch einen Ausstieg finden.
Nach 12.000 Lügen ist Trump soweit, daß er sich nicht mehr
die geringste Mühe beim Lügen gibt, sondern sich dummdreist für jedermann
sichtbar einfach mit einem schwarzen Filzmarker die Welt zurechtmalt.
Die GOP, Trumps White-House-Aides, seine Medienleute, seine
evangelikalen Claqueure haben sich derartig festgelogen, daß sie nun nicht mehr
zurück können, ohne völlig das Gesicht zu verlieren.
Wann wäre ein passender Lügen-Ausstieg gewesen? Nach dem
offensichtlichen Unsinn, Mexico zahle für die Grenzmauer? Nach dem Pussy-Tape?
Nach der Crowd-Size-Lüge? Das wären Stationen gewesen, um sich von Trump
abzusetzen.
Aber nach 1000 Lügen? Nach 10.000 Lügen, wie Herr Scaramucci?