Sonntag, 15. November 2015

Die religiöse Dimension



Der Hass auf Obama, der in den rechten US-Medien verbreitet wird, ist für europäische Gemüter immer noch höchst erstaunlich.

Obama gilt als die Inkarnation des Bösen; keine Schandtat, die ihm nicht zugetraut wird.
Es gibt in der radikalisierten manichäischen Medienwelt Amerikas sicher viele Gründe, die diesen blanken Hass triggern.

Nach meinem Eindruck existieren aber drei Kardinal-Ursachen.

Erstens ist Obama nur zur Hälfte weiß und gilt damit als „schwarz“ (bei einem weißen und einem schwarzen Elternteil könnte er ja eigentlich mit gleichem Recht als „weiß“ durchgehen).

Außerdem wird dem Aufsteiger sein Erfolg geneidet. Obamas Vater stammt aus Kenia, die Mutter aus ärmlichen Verhältnissen und dann Rechtswissenschaftler an der Harvard Law School, Herausgeber der Fachzeitschrift Harvard Law Review und J.D.-Abschluss mit magna cum laude. Anschließend Abgeordneter und US-Senator. Das verbittert einen ungebildeten Hillbilly aus dem Bibelbelt, der es nie so weit bringen wird.

Drittens wird ihm ewig sein Satz über Religion und Pistolen aus dem Vorwahlkampf gegen Hillary Clinton nachhängen. Das hätte ihn um ein Haar die Präsidentschaft gekostet-.

Obama was caught in an uncharacteristic moment of loose language. Referring to working-class voters in old industrial towns decimated by job losses, the presidential hopeful said: "They get bitter, they cling to guns or religion or antipathy to people who aren't like them or anti-immigrant sentiment or anti-trade sentiment as a way to explain their frustrations."

Der Guardian drückt es sehr bezeichnend aus; Obama habe völlig untypisch kurz die Kontrolle über seine Worte verloren.
Ihm ist also etwas rausgerutscht, das er eigentlich nie so sagen wollte.

Er brach ein klassisches Wahlkampftabu, indem er etwas Wahres aussprach, das aber viele Wählerstimmen kostet und daher tunlichst von einem, der noch gewinnen will, verschwiegen werden sollte.

Warum reagierten die Amis damals derartig gereizt auf den Obama-Satz?
Einem frommen Christen, der wirklich zweifelsfrei an Gott glaubt und aus voller Überzeugung der biblischen Lehre folgt, kann es völlig egal sein, was jemand anders über seine Glaubensmotive sagt.
Daß sich Amerikas Strenggläubige bis heute über Obama aufregen, ihn wahlweise als Antichristen, Muslim und Atheisten schmähen, liegt vermutlich daran, daß sie zumindest unterbewußt wissen wie Recht Obama hat.

Die ewig zu kurz Gekommenen, die Elenden, die Doofen hängen an Religion.

Unter amerikanischen Wissenschaftlern sollen hingegen nur 5% religiös sein.
Wer die so gepriesenen „amerikanischen Werte“ lebt, indem er durch Fleiß und Klugheit aufsteigt, sich neue soziale Schichten erobert und finanziell abgesichert wird, hat Religion weniger notwendig.
Er kann auf die religiösen Einschränkungen – kein Sex vor der Ehe, keine Gay Marriage, keine Verhütung, - immer mehr verzichten.
Wer sein Portemonnaie mit Geld und seinen Geist mit Wissen füllt, kann die beklemmenden Fesseln der kirchlichen Regeln lösen, weil er anderen Halt im Leben findet.
Er kann sich auf sich selbst und die eigenen Fähigkeiten, die ökonomische Potenz stützen.
Wer aber nichts hat, ist verführbar für die einfachen Lösungen der Religion.
Denn Religion nimmt einem das Denken ab, delegiert die Sorgen und schafft ohne Zutun des Gläubigen das wohlige Gefühl etwas Besseres zu sein.
Je höher der Bildungsstatus, desto weniger religiös sind die Menschen.

Die „Jecken“, also die deutschstämmigen Juden in Israel sind säkularer, weil es ihnen bis 1933 vergleichsweise sehr gut ging.
Sie waren so gut integriert und assimiliert, daß sie sich gar nicht vorstellen konnten aus Deutschland wegzugehen, das Land wegen ihrer tiefen Verwurzelung nicht verlassen wollten.
Die Aschkenasim, also aus Osteuropa stammende Juden in Israel brachten hingegen metaphorisch gesprochen ihr Schtetl mit, da sie ärmer und dadurch auch viel religiöser waren.
Die wirklich gefährlichen ultra-ultraorthodoxen Israelis des Jahres 2015 zeichnen sich alle durch minimale Schulbildung und Armut aus.
Nur 50 km weiter im Hightech-Tel Aviv mit den gut verdienenden Wissenschaftlern ist jüdische Religiosität hingegen kaum noch bemerkbar.

Es ist immer derselbe Effekt.

Auch in der islamischen Geschichte kennen wir diesen Zusammenhang. Als es den Bürgern in den beiden historischen Kalifaten (Bagdad und Córdoba) ökonomisch gut ging und hohe Bildung angestrebt wurde, ging eine enorme Liberalisierung und auch Säkularisierung damit einher.
Mit der prosperierenden Islamischen Gesellschaft ging Freiheit einher.
Die Kalifen gewährten Juden und Christen nicht nur Aufenthalt und Toleranz in ihren Reichen, sondern ließen sie sogar direkt bei Hofe Karriere machen.

Das demokratische Prinzip stammt in Wirklichkeit von den Griechen und wird wiederbelebt durch die Renaissance und die Aufklärung. Ohne die Renaissance wäre die Aufklärung wahrscheinlich nicht zustande gekommen. Und die Renaissance wäre wahrscheinlich nicht zustande gekommen ohne den enormen Einfluss des Islam und dessen nahezu phantastische Übersetzertätigkeit. Aristoteles und die anderen großen griechischen Philosophen haben wir ja in Europa dadurch empfangen, dass in Bagdad und in Córdoba unter islamischer Oberherrschaft gleichberechtigt nebeneinander Christen, Muslime und Juden riesenhafte Übersetzerschulen gebaut haben, die die alten griechischen Autoren aus dem Arabischen ins Lateinische übersetzten. Deshalb konnte Thomas von Aquin konnte die alten Griechen auf Lateinisch lesen. Hoffentlich wissen die heutigen Theologen das.

Der heutige „Kalif“, IS-Chef Abu Bakr al-Baghdadi verhält sich diametral entgegengesetzt zu den historischen Kalifen, auf die er sich bezieht:
Minimierung der Bildung und Entzug der ökonomischen Existenz durch Zerstörung.


Auf der anderen Seite leisten die ultrapuritanischen IS-Dschihadisten heute auch ein gutes Stück Verdrängung. Nicht nur Homosexualität wurde im historischen Bagdad goutiert. Auch Wein.


Begrabt mich, wenn ich sterbe,
am Stamme eines Weinstockes,
damit dessen Wurzeln in der Erde
meine Knochen tränken!
Begrabt mich nicht in der Wüste;
denn ich fürchte, den Wein
nicht mehr zu kosten,
wenn ich einmal gestorben bin.

Der irakische Dichter Abu Mihdjan, von dem diese Zeilen stammen, war im siebten Jahrhundert einer der Begründer der reichen bacchischen Dichtung, welche das Abbasiden-Reich in Fülle hervorbringen sollte; sein deutscher Übersetzer Gerhard Hoffmann nennt ihn liebevoll einen "bekannten Zecher und Poeten". Heute lässt der IS in seinem "Kalifat" echte oder vermeintliche Schwule mörderisch jagen, Alkohol und Zigaretten sind bei Strafe verboten, Musik und Lieder "in Autos, bei Feierlichkeiten, in der Öffentlichkeit sowie in Geschäften" untersagt, wie den Bewohnern der irakischen Stadt Mossul im Januar 2014 mitgeteilt wurde, nach der Eroberung durch den IS.
 
So kann er die intoleranteste, strengste Form des Islam durchsetzen.

In Frankreich, Belgien und Deutschland gedeiht der extremistische Islam auch genau dort, wo den Jugendlichen keine beruflich-sozialen Perspektiven haben und ungebildet sind.

Als 100%iger Atheist bringe ich Verständnis dafür auf, daß Menschen, die Jahrelang Terror und Bürgerkrieg erlebten, ihre materielle Existenz, ja sogar oft Freunde und Verwandten verloren, sich verstärkt der Religion zuwenden.
Das ist die einzige Struktur, die ihnen Hoffnung verspricht, die man ihnen nicht nehmen kann.

Als Atheist wünsche ich mir, daß sich die Elenden dieser Welt, die sich der Religion verschrieben haben, auch wieder davon lösen.

Genau das wird aber automatisch geschehen in dem Maße, in dem sie beispielsweise in Deutschland ökonomisch Fuß fassen und sich Bildung aneignen.
Schwer vorstellbar, daß ein Flüchtlingsnachfahr, der wie Obama einen exzellenten akademischen Abschluss und eine gesicherte beruflich-soziale Existenz aufweist, auf Dauer einer strengen Islam-Auslegung anhängen wird.

Leider dauert das alles lange.
In Deutschland brauchten wir auch 70 Jahre, um von der 99%-Kirchenmitgliedschaft direkt nach dem Krieg auf die heutigen 62% abzuschmelzen.
Es ist noch ein weiter Weg bis wir in Westeuropa die Religionen endlich losgeworden sind.
Im unsichereren Rest der Welt wird es noch viel länger dauern.

Gut möglich allerdings auch, daß sich Religioten nicht nur im Oval Office Kontrolle über die „nuclear codes“ verschaffen.
In Jerusalem und Islamabad und P'yŏngyang sind jetzt schon recht zweifelhafte Typen am Drücker der Atombomben.
Vielleicht erleben wir sogar in absehbarer Zeit, daß Marine Le Pen die Force de frappe kommandiert.
Möglicherweise erlebt Homo Sapiens das Ende der Religionen also nie mehr, weil Religioten vorher das Ende des Homo Sapiens herbeiführen.
Das wäre dann der ultimative Sieg Gottes über die Atheisten.
Dann wären alle Seelen im Jenseits.