Dienstag, 22. Februar 2022

Pacta sunt servanda Teil II

Kräftemessen mit Russland gefiel mir nie.

Natürlich wünsche ich mir eine Energieversorgung zu 100% aus erneuerbaren Quellen. Aber so lange das nicht möglich ist, kann ich am besten mit russischem Pipeline-Gas leben.

Das ist ökologisch besser als Fracking-Gas, Flüssiggas-Tanker oder Öltanker aus den fundamentalistischen Golfmonarchien. Schon deshalb lehnte ich US-amerikanische Forderungen nach dem Aus von NordStream II ab. Ich hoffte, daß sich die antirussischen Kräfte nicht mit diesem Wunsch durchsetzen, zumal ich durchaus Verständnis für die Frustration des Kremls ob des egoistischen Handelns der NATO-Staaten habe.

1990 hatten Genscher, die USA und die Briten Moskau versprochen, kein ehemaliges Warschauer Pakt-Land könne in der NATO aufgenommen werden, die NATO werde ich also keinesfalls nach Osten ausdehnen. Seither sind 14 Staaten östlich von Deutschland NATO-Mitglieder geworden. Bei der ersten Osterweiterung drei Staaten 1999, bei der zweiten Osterweiterung sieben Staaten 2004, bei der Westbalkan-Erweiterung zwei Staaten 2009, ein Staat in 2017 und Einer in 2020.

Darunter auch Litauen, Lettland und Estland, deren NATO-Mitgliedschaft als ehemalige Teile der Sowjetunion in den Augen des Kremls eine besonders perfide Provokation darstellt.

Selbstverständlich ist Russland im höchsten Maße verärgert, fürchtet aufgrund der Geschichte die NATO an der Westgrenze und sieht sich als ehemalige Supermacht und heutige Atom-Supermacht, respektlos behandelt.

Zumal die USA sich gelegentlich zum Mobbing greifen. Obamas Hohn und Spott von 2014 war eine sagenhafte Dummheit, ein ganz schwerer Fehler, den Putin ihm nie verziehen hat.

[….] Obama verhöhnt Russland als Regionalmacht

Deeskalation sieht anders aus: In der Krim-Krise verspottet US-Präsident Obama Russland - er nennt das größte Land der Welt eine Regionalmacht. Für Amerika gebe es schlimmere Bedrohungen, Kreml-Chef Putin agiere aus einer Position der Schwäche. [….]

(SPON, 25.03.2014)

Die Ereignisse der letzten 24 Stunden; Putin erklärte de facto einseitig einem souveränen Staat den Krieg und marschierte ein; ließen allerdings der Ampel keine Wahl. Das kann sich die EU nicht gefallen lassen. So tat Vizekanzler Robert Habeck das einzig Richtige und zog die Reißleine; Schluß mit NordStream 2.

[….] Bundesregierung stoppt umstrittene Gaspipeline Nord Stream 2

Angesichts der russischen Aggression in der Ostukraine zieht Deutschland erste Konsequenzen: Das Wirtschaftsministerium hat den Zertifizierungsprozess für Nord Stream 2 auf Eis gelegt.  [….]

(SPON, 22.2.22)

Kontrafaktische Geschichtsbetrachtungen sind sinnlos, aber vermutlich wäre es besser gewesen, wenn Gerhard Schröder nach 2005 noch zwei Amtszeiten länger Kanzler gewesen wäre und die damalige extrem enge Bindung zwischen den vier Staaten Polen, Russland, Deutschland und Frankreich aufrechterhalten und ausgebaut hätte.

Stattdessen kam aber Merkel, schlug sich eindeutig auf die Seite George W Bushs, zeige 16 Jahre lange keine außenpolitische Initiative, ließ das Verhältnis zu Frankreich auskühlen und verließ das Bundeskanzleramt 2021 bei zerrütteten Verhältnissen zu Warschau und Moskau.

Selbstverständlich ist die Erkaltung dieser Beziehungen nicht allein Merkels Schuld, aber sie kümmerte sich eben auch nicht genügend, um das zu ändern. Die Situation in Osteuropa ist aber Resultat eines Versagens der gesamten politischen Führungsklasse der Europas, Russlands und der USA. Aber wer würde auch ernsthaft proaktives, strategisches und langfristiges Handeln von Knalltüten wie Johnson, Trump oder Kaczyński erwarten? Daher sind wir wieder einmal, wie bei den Flüchtlingsströmen und der Klimakrise, sehenden Auges in „diese ganze Scheiße“ (frei nach Helmut Schmidt) gestolpert. Die Ukraine-Megakrise kann nun wirklich niemanden überraschen.

Noch ist das ganze Ausmaß der westlichen antirussischen Sanktionen nicht bekannt, aber nachdem alle Sanktionen im Zuge der Krimbesetzung von 2014 ganz offensichtlich acht Jahre wirkungslos blieben, Putin kein bißchen beeindruckten, werden nun die schweren Geschütze (Gas-Importstopp, SWIFT-Ausschluss, etc) ausgepackt.

Das sind Sanktionen, die uns extrem wehtun werden. Klimapolitik im Krieg funktioniert nicht, die Börsen kollabieren schon und mit Sicherheit wird Energie extrem viel teurer werden. Millionen Menschen in Deutschland werden sich ganz genau überlegen, auf welche Stufe sie ihre Heizung einstellen und beim Tanken tief ins Portemonnaie greifen müssen.

Ob Putin es so beeindruckt, daß er sich denkt ‚na, der Preis ist mir doch zu teuer, ich ziehe alle Truppen wieder ab‘, wage ich sehr zu bezweifeln.

Annalena „ich komme ja vom Völkerrecht“-Baerbock empörte sich schon gestern.

[….] Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) nannte die Entscheidung von Russlands Präsidenten Wladimir Putin einen "eklatanten Bruch des Völkerrechts". Die Anerkennung der abtrünnigen Regionen sei zudem "ein schwerer Schlag für alle diplomatischen Bemühungen zur friedlichen Beilegung und politischen Lösung des aktuellen Konflikts", erklärte die Außenministerin und stellte klar: "Wir werden auf diesen Völkerrechtsbruch reagieren. Dazu stimmen wir uns mit unseren Partnern ab."  [….]

(SZ, 21.02.2022)

Viele Journalisten echauffierten sich scheinbar überrascht, über den faktisch einseitigen Ausstieg Russlands aus dem Minsker Abkommen.  Wo kommen wir da hin, wenn Staaten einseitig Verträge aufkündigen, wie es ihnen gerade passt. Pacta sunt servanda. Verträge müssen eingehalten werden.

Die Weltgemeinschaft sollte sich tatsächlich einen automatischen Sanktions-Mechanismus für die Staaten ausdenken, die einseitig Verträge kündigen oder UN-Resolutionen verletzen. Denn Putin fürchtet offensichtlich keine Vertragsstrafen. Warum auch? Denn das Völkerrecht gilt scheinbar nur nach Lust und Laune.

Israel ignoriert fast schon selbstverständlich Resolutionen des UN-Sicherheitsrats und schert sich einen Dreck um den Atomwaffensperrvertrag, ohne Konsequenzen zu fürchten. Der Iran kann sich das gleiche Vergehen hingegen nicht leisten und leidet unter schweren Wirtschaftssanktionen, schon für die mutmaßliche Absicht, das zu wollen, was Israel hat: Atombomben.

König der Vertragsbrecher ist aber die USA.

[….] Die Rüstungskontrollvereinbarung "Open Skies" ist bereits die achte internationale Kooperation, der er den Rücken kehrt - ein Überblick.

Nächste Kündigung, bitte: Die US-Regierung zieht sich aus dem "Open Skies"-Vertrag zwischen der Nato und ehemaligen Mitgliedern des Warschauer Pakts zurück. Grund: Da sich Russland nicht mehr an die Verpflichtungen halte, seien auch die USA nicht mehr an den Vertrag gebunden, sagte US-Präsident Donald Trump. Das Abkommen zum "Offenen Himmel" erlaubt den 34 Unterzeichnerstaaten unter anderem mehrere Beobachtungsflüge pro Jahr im Luftraum der Vertragspartner. Dem deutschen Verteidigungsministerium zufolge diene "Open Skies" der "Rüstungskontrolle und Vertrauensbildung".

Der Ausstieg ist bereits der dritte Rückzug der Vereinigten Staaten aus einem Rüstungskontrollabkommen. Im vergangenen Jahr war Trump aus dem INF-Vertrag über das Verbot landgestützter atomarer Mittelstreckenwaffen ausgestiegen. Letzterer war 1987 zwischen den USA und der damaligen Sowjetunion geschlossen worden und war für Europa der wichtigste Vertrag zur atomaren Abrüstung. Die Kündigung des Atomabkommens mit dem Iran vor zwei Jahren führte bis zur Coronakrise zu erheblichen Spannungen mit dem Regime in Teheran. [….] Daneben sind bereits eine Reihe weiterer internationaler Verpflichtungen der "America-first"-Politik des US-Präsidenten zum Opfer gefallen:

    Unseco. Zum Jahresende 2017 hatten sich die USA von der UN-Kultur- und Bildungsorganisation Unesco zurückgezogen[….]

    UN-Menschenrechtsrat. Im Sommer 2018 haben sich die Vereinigten Staaten aus dem UN-Gremium zurückgezogen, dem 46 Staaten angehören. [….]   UN-Hilfswerk für Palästina-Flüchtlinge. Ebenfalls im Sommer 2018 hatten die USA dem UNRWA als größter Geldgeber den Rücken gekehrt. [….]     Pariser Klimaabkommen. Einer der spektakulärsten und folgenreichsten Rückzüge war der aus der globalen Umweltschutzvereinbarung zu Ende vergangenen Jahres. [….]     Transpazifische Partnerschaft. Das umstrittene Handelsabkommen zwischen Pazifikstaaten wie Australien, Chile, Singapur und den USA hat Donald Trump gleichsam als erste Amtshandlung noch im Januar 2017 gekündigt. [….]

(STERN, 22.05.2020)

Es ist nicht gut, wenn sich ausgerechnet der Serienvertragsbrecher USA, der dafür nie eine Sanktion erleiden musste, sich als Hüter der Vertragstreue, als Mr. Pacta sunt servanda aufspielt.

Es ist nicht gut, wenn sich ausgerechnet der Serienkriegseintrittslügner USA, der dafür nie eine Sanktion erleiden musste, sich über Putins vorgeschobene Kriegsgründe echauffiert.

So geht es immer los; als Erstes stirbt die Wahrheit.
Der „Tonking-Zwischenfall“ (US-Lüge, um den Vietnamkriegseintritt zu rechtfertigen), die „Iraker töten Kuwaitische Babies"-Meldung (US-Lüge, um den Irakkriegseintritt 1991 zu rechtfertigen) und die Massenvernichtungswaffen (US-Lüge, um den Irakkriegseintritt 2003 zu rechtfertigen) lassen grüßen. Erst lügen, um Aktionen zu rechtfertigen und wenn Tatsachen geschaffen worden sind, klammheimlich zurück rudern.

Verträge müssen für alle gelten. Versprechen, wie das von 1990 über die nicht stattfindende NATO-Osterweiterung, müssen eingehalten werden.

So lange wir, der Westen, nicht mit gutem Beispiel vorangehen, wird uns Putin nicht ernst nehmen.